Im ersten Teil dieser Reihe zur mentalen Hocheffizienz haben wir den Fokus auf die hohe Aktivität im Gehirn eines mental Hocheffizienten gelegt. Diese kann emotionale und soziale Konsequenzen mit sich bringen und dazu führen, dass mental Hocheffiziente sich nicht zugehörig fühlen.

Komplexes Erleben bei mentaler Hocheffizienz

Mentale Hocheffizienz kann mit einem »Mehr« von allem einhergehen. Mehr Gefühl, mehr Pragmatismus im Geiste, mehr Verzweiflung, mehr Ängste, mehr Überforderung … Einige wichtige Punkte, die mit dem Eindruck zusammengebracht werden können, dass man sich nicht zugehörig fühlt, haben wir in Anlehnung an die französische Psychotherapeutin und Kommunikationstrainerin Christel Petitcollin und ihrem Buch Ich denke zu viel: Wie wir das Chaos im Kopf bändigen können nachstehend aufgeführt. Welche weiteren Punkte kennzeichnen folglich mentale Hocheffizienz?

Starke Emotionalität versus Abgestumpftheit

hängende Masken mit Emotionen

Emotionen können bei mental Hocheffizienten sehr intensiv und wechselhaft sein. © Jeff Hitchcock under cc

  • emotionales Erleben ist sehr komplex, facettenreich, intensiv und teilweise schnell wechselhaft
  • Emotionalität kann als impulsiv beschrieben werden, werden von ihren Gefühlen regelrecht überwältigt
  • starke emotionale Sensibilität kann phasenweise zu einer emotionalen Abgestumpftheit (sowie zuvor mentalem Meltdown, dann Shutdown) führen
  • Betroffene empfinden sich als neurotisch, wollen sich »zusammenreißen«, schaffen es aber kaum

Ihre Sensibilität, ihre Emotionalität halten mit ihrer Intelligenz durchaus Schritt. Ihre Wut oder Frustration ist wie Nitroglyzerin und macht sie zu wandelnden Bomben, die bei der kleinsten Erschütterung explodieren. Mitunter fließen auch Tränen. In dieser Welt gibt es auch so gar kein Mitgefühl! Stets hin- und hergerissen zwischen ihrem uneingeschränkten Idealismus und einem extremen Klarblick haben diese hocheffizienten Denker nur die Wahl zwischen autistischem Verschließen oder leidenschaftlicher Rebellion. Aus diesem Grund schwanken sie auch ständig zwischen hochfliegenden Träumen und niederschmetternden Erkenntnissen, zwischen reinster Unschuld und völliger Verzweiflung.

Christel Petitcollin, Psychotherapeutin

Phasenweise Selbstunsicherheit

  • Betroffene können sich in Folge der erlebten Nichtbewältigbarkeit des Lebens als schwach wahrnehmen und lernen für sich anzunehmen, den Alltag nicht so wie andere Menschen schaffen zu können
  • fühlen sich deplatziert in der Gesellschaft, finden keinen so rechten Weg im Leben
  • haben das Gefühl, sich selbst etwas vorzumachen
  • befürchten unter Umständen sogar, irgendwann »aufzufliegen« und tatsächlich als »nicht gut genug« eingeschätzt zu werden (Stichwort: Hochstapler-Syndrom)
  • glauben, dass mit ihnen etwas nicht stimmt
  • sind voller Selbstzweifel, selbst wenn sie sich innerlich wieder aufrichten können
  • haben Probleme, sich selbst zu akzeptieren, eben weil sie sich von der Gesellschaft nicht angenommen fühlen

Hohe kognitive Kapazitäten versus Leistungsdruck

Mädchen Schule Grimassen schneiden

Kinder mit mentaler Hocheffizienz haben in der Schule oft Probleme. © vazovsky under cc

  • im wahrgenommenen Widerspruch zum vermeintlich neurotisch wirkenden mental Hocheffizienten steht die starke kognitive Leistungsfähigkeit
  • haben unter Umständen Probleme mit Leistungsdruck bei Schule oder Arbeit, obwohl sie es rein von der Intelligenz und Auffassungsgabe her bewältigen könnten
  • oder aber: haben große Selbstzweifel hinsichtlich ihrer Leistung, obwohl sie in der schulischen Laufbahn oder im Studium noch keine schwerwiegenden Misserfolge erlitten haben
  • sind intelligent und kreativ, empfinden sich aber selbst nicht so
  • scannen Texte zumeist, haben schnell das dahinterliegende Fazit ausgemacht und lesen quer
  • trotz hoher Schnelligkeit und Vernetzung des Denkens wirft man ihnen eventuell »mangelnde Konzentrationsfähigkeit« vor, weil ihr Multitasking-Gehirn unterfordert ist, wenn es nur eine Aufgabe zu lösen bekommt
  • driften gedanklich ab
  • haben Bedürfnis nach Genauigkeit; ein Wort ist für sie nicht wie das andere; wollen alles ganz genau wissen, wenn sie etwas oder jemand interessiert; kann unter Umständen pedantisch wirken

Soziale Schwierigkeiten: sich nicht zugehörig fühlen

  • können ev. als neurotisch, impulsiv und kompliziert gelten
  • oder als in sich gekehrt
  • generell wirken sie irgendwie sonderbar und andersartig
  • Freunde sagen, sie denken zu viel und stellen zu viele Fragen; Ratschläge anderer, nicht alles immer zu hinterfragen, machen sie noch verzweifelter (Ja, weiß ich selbst. Aber wie soll das gehen?)
  • fühlen sich abgewiesen von der Welt; haben viele Kränkungen erlebt
  • werden als dysfunktional abgestempelt (als hyperaktiv, bipolar etc.)
  • besitzen andere Interessen als ihre Freunde, Studienkollegen etc.
  • empfinden Small Talk der anderen als oberflächliches Geplapper; haben Schwierigkeiten, sich daran zu beteiligen
  • Fröhlichkeit der anderen erleben sie als aufgesetzt; in geselliger Runde fragen sie sich, was sie hier eigentlich sollen und wollen schnell wieder nach Hause
  • da sie vieles registrieren, was andere übergehen würden oder gar nicht wahrnehmen, wirken sie vor sich selbst (und den anderen) als überkritisch; wollen so eigentlich nicht sein
  • haben Schwierigkeiten zu akzeptieren, dass Ausgesprochenes von anderen oft »lockerer« oder »so dahingesagt« gemeint war
  • sind aber selten stark verurteilend, sondern stattdessen offen und zugänglich, wenn man ihnen Gehör schenkt
  • außerdem: sind sie treu, loyal, anhänglich und tun sehr viel für die Menschen, die ihnen wichtig sind, sehr sensibel und beeindruckbar; glauben, was man ihnen sagt
  • hören durchaus Zwischentöne, Art von Formulierungen oder Veränderungen in der Intonation beim Gegenüber
  • auch wenn sie nicht so wirken, sind sie verhältnismäßig robust
  • besitzen hohe Idealismuswerte und Vorstellungen und sind deshalb oft von anderen enttäuscht, weil diese ihren Erwartungen nicht gerecht werden können

Der Abgrund, den Sie zwischen sich und der Welt spüren, ist real.

Christel Petitcollin, Psychotherapeutin

Psychische Begleiterscheinungen

Junge Badewanne trauriger Blick

Sich nicht zugehörig fühlen, macht einsam. © Mateus Lucena under cc

  • Depressionen und Angsterkrankungen können damit einhergehen

Gehirn Hocheffizienter = Hochleistungsmotor

Christel Petitcollin vergleicht das Gehirn mental Hocheffizienter mit dem Hochleistungsmotor eines Rennwagens.

Damit dieser Wagen sein ganzes Potenzial ausspielen kann, muss man ihn steuern können. Und man muss ihn auf der richtigen Strecke einsetzen. Bis jetzt war es Ihr Gehirn, das Ihr Leben ständig in den Graben gelenkt hat. … Ce mec est too much – »Der Typ ist zu viel… Zu viel, zu viel, zu viel«, sangen die Coco-Girls in den 1980er Jahren. Dieser Refrain bringt die Problematik der mentalen Hocheffizienz genau auf den Punkt: ein Zuviel von allem. Zu viele Gedanken, zu viele Fragen, zu viele Gefühle. Hocheffiziente lassen sich nur mit Superlativen beschreiben, genauer gesagt mit »Hyperlativen«. Sie sind hyperaktiv, hypersensibel, hyperemotional und so weiter. Ihr Erleben ist außergewöhnlich intensiv. Was sie auch berührt, ob positiv oder negativ, scheint sie in Schwingungen zu versetzen wie einen Kristall. Selbst kleine Zwischenfälle können sich zu großen Dramen auswachsen, vor allem, wenn sie im Kontrast zum Wertesystem des Betroffenen stehen. Mental Hocheffiziente verfügen über eine feinere Wahrnehmung, haben intensivere Gefühle als andere und eine erhöhte Empfindlichkeit gegenüber Sinnesreizen. Ihr gesamtes System der Sinnes- und Gefühlsverarbeitung ist hochempfindlich. Diese außergewöhnlich feine Wahrnehmung ist neurologisch bedingt und beginnt beim Erfassen der Wirklichkeit.

Christel Petitcollin, Psychotherapeutin

Die Psychotherapeutin rät dazu, sich mit sich selbst und seiner wunderbaren andersartigen Charakterstruktur zu versöhnen, auf sein Inneres zu hören und sich lebenstechnisch auf diese Besonderheiten einzurichten. In ihrem Buch gibt sie Empfehlungen, wie man mit einer mentalen Hocheffizienz besser umgehen könnte, damit man den Eindruck, sich nicht zugehörig zu fühlen, für sich uminterpretieren kann. Beispielsweise erhöht sich das Selbstverständnis für die eigene Charakterstruktur, wenn man Neurodiversität als Maxime annimmt und die Gesellschaft mehr in der Verantwortung der Toleranz von Andersartigem sieht.