Kind schiebt Rollstuhl und Mann.

Altruismus kann erlernt werden. © Cindy Funk under cc

Der Wert des Altruismus ist ein spannendes Thema, weil er uns auf eine eigenartige Paradoxie aufmerksam macht.

Grundsätzlich ist Altruismus definiert als der Wunsch, das Wohlergehen eines anderen Menschen zu vergrößern. Man hört oft den Einwand, jemand der altruistisch handelt, würde das letztlich nur aus selbstsüchtigen Motiven tun. Demnach wäre jeder Altruismus eine verkappter Egoismus, weil man eben gelobt wird oder sich einfach toll fühlt.

Dieser Einwand hat zwei Schwächen: Erstens, er ist nicht falsifizierbar. Die Unterstellung, man habe stets auch was davon, sonst würde man so nicht handeln, wiederholt in der Begründung die eigene Prämisse, dass es nämlich gar keinen echten Altruismus gibt. Zweitens, ist er falsch, weil man den authentischen Wunsch haben kann, jemandem zu helfen, ohne dass man eine Gegenleistung erhält. Man möchte einem Menschen etwas Gutes tun, weil man ihn mag, weil er Hilfe braucht oder warum auch immer. Das Ziel, das Wohlergehen eines anderen zu vergrößern kann dazu führen, dass man belohnt wird und sich gut fühlt, das muss aber nicht der Fall sein. Es spielt für das Motiv also keine Rolle, ob man Lohn bekommt oder nicht, wenngleich dieser Punkt das weitere Verhalten verändern kann.

Aber bei dieser Herangehensweise tritt ein anderer Effekt auf, es wird nämlich für den Moment dieses Wunsches das eigene Ich aus dem Fokus des Interesses genommen. Wenn ich möchte, dass es einem anderen Menschen besser geht, dann ist das zwar mein Wunsch, aber im Zentrum steht der andere und ich bin bereit meine Komfortzone für ihn zu verlassen. Es kann sein, dass der andere daraufhin auch das Gefühl hat, mir etwas schuldig zu sein, aber das ist nicht die Absicht, die dahinter steht.

Ein schönes Beispiel hörte ich kürzlich von einer Frau, die sich sehr für einen alten Mann einsetzte, weit über das Maß dessen hinaus, wofür sie bezahlt wurde. Der Mann war nicht wohlhabend und eines Tages fragte er, die Frau, warum sie das alles für ihn tue. Sie sagte: Erstens, brauche ich das Geld, zweitens, mag ich Dich gut leiden und drittens, habe ich im meinem Leben, als es mir schlecht ging, Hilfe bekommen und das will ich einfach weitergeben. Es ist das Gefühl einer inneren Verpflichtung, bei der es nicht mehr darum geht, dem Menschen, der einem einmal geholfen hat etwas zurück zu geben, sondern es geht in einem übergeordeneten Sinne darum die Idee der Hilfe weiter zu geben, an den, der sie hier und jetzt gerade braucht, wie einen Stab beim Staffellauf. Das ist der Wert des Altruismus, der dann durch andere Menschen gelebt und von Mensch zu Mensch weiter gegeben wird.

Ist Altruismus aus Eigennutz möglich?

Der Wert des Altruismus ist in den letzten Jahren immer mehr erkannt worden und er liegt kurioserweise darin, dass altruistisch zu sein dem Altruisten mindestens so gut tut, wie dem, der die Wohltat empfängt. Das ist einigermaßen erstaunlich, schließlich opfert der Altruist doch Zeit und Energie. Nicht immer kann er davon ausgehen, dass seine Wohltat reich entlohnt wird, manchmal wir ihm vielleicht „nur“ ein Lächeln und das Glück eines anderen Menschen geschenkt. Aber was heißt hier schon: „nur“?

Wäre der besonders pfiffige Egoist also jemand, der sich eine Liste erstellt und bedarfsangepasst all das heraussucht, was nützt? Was dem Menschen oft besonders gut tut, ist die Liebe. Aber kann man sich auf Knopfdruck verlieben, weil man gelesen hat, dass Liebe hilft? Kann man sich eng befreunden oder eine bestimmte Glaubensform annehmen, weil das gerade nützlich erscheint?

Kann man sagen, ich diene jetzt mal anderen Menschen und stelle mein Ego hinten an, weil ich gelesen haben, dass mir das was bringt? Auch diese Antwort ist nicht eindeutig, irgendwie ja, aber irgendwie auch nein. Das irgendwie ja liegt darin, dass man Altruismus durchaus trainieren kann. Gerade in der christlichen Religion wird die Idee der Nächstenliebe, der Caritas große geschrieben, im Buddhismus finden wir ausgedehnte Übungen, die uns zu mehr Mitgefühl verhelfen sollen, aber wir wissen auch, dass es durchaus nicht allen Gläubigen gelingt, diesen Wert des Altruismus zu erfassen und manche von ihnen erscheinen sogar besonders engstirnig.

Aber, dass es nicht jedem gelingt, bedeutet auch wiederum nicht, dass jeder scheitert. Es wird auch nicht jeder Musikschüler später ein Stargeiger oder Genie am Klavier. Irgendwann muss man Feuer fangen, muss man wirklich die Idee verstehen und leben, dann geht es weiter, ganz anders als, wenn man mit immer größerer Unlust Tonleitern fidelt oder Gebete runter rasselt. Die Idee, dass man sich jetzt mal verlieben muss, weil das bei den chronischen Erkältungen helfen könnte, klingt indes schon halbwegs absurd. Doch so mancher, der ein Ehrenamt übernimmt, zehrt von dem Lohn, den er dadurch erfährt, dass er anderen helfen und sein Wissen und seine Erfahrung weiter geben kann.

Aber was macht den Unterschied aus, wenn man innerlich am Ball ist? Man gibt sich hin. Das Ich ist in dem Moment nicht mehr der Dreh- und Angelpunkt von allem, sondern geht in etwas Größerem auf. Wer wirkliche Liebe kennt, weiß, wovon die Rede ist, wer von einem Konzert ergriffen ist oder selbst musiziert, wer mal in ein Flow gekommen ist oder auch die positive Seite der Massenregression erfahren hat, der weiß, dass so etwas mindestens entspannt, wenn nicht erhebt.

asiatsiche Frau pustet Konfetti

Die einmal erhaltene Hilfe kann man an andere weiter geben. © Morgan under cc

Beim Altruismus ist es ebenso. Wer altruistisch ist, denkt in dem Moment nicht an sich, sondern hat tatsächlich den anderen im Blick. Und wie bei Gipfelerfahrungen oder zeitweiligen Regressionen erfährt er eine Entspannung, nämlich von der Spannung (bis Hochspannung) die es bedeutet, ständig das eigene Ich im Fokus zu haben und oftmals, es haben zu müssen.

Es ist ein angstbesetzer Schritt vom eigenen Ich loszulassen, aber vermutlich ist das Festhalten am Ich einer, der in unserer Gesellschaft in einem immer größeren Maße trainiert wird. Es geht um Dich, Du bist im Fokus, die Welt sieht Dich, alles ist Bühne, alle Augen nur auf Dich gerichtet, wenn nicht offen, dann doch heimlich, in ehrfürchtiger Bewunderung oder schallendem Gelächter. Wer das denkt, will sich (und andere) kontrollieren, wird oft steif und verkrampft.

Wer wäre man, wenn man nicht derjenige wäre, auf den alle Sinne gerichtet sind? Was wäre, wenn die anderen in ähnlicher Weise um ihr Selbstbild besorgt wären, wie man selbst? Wäre man nicht so oder so einer von vielen? Wenn die Vorstellung schmerzt, dann deshalb, weil man nicht wie die anderen sein möchte, doch in dem Moment, wo man sich exponiert und Gründe dafür findet, warum man ganz anders ist, als „der ganze Rest“ steht man natürlich wieder in der Spannung, die erregend oder beängstigend sein kann, aber die man selbst erzeugt hat.

Erst, wenn man lernt sich hinzugeben, kommt man aus dieser Spannung heraus und der Wert des Altruismus liegt darin, dass er uns die Hingabe ermöglicht, die uns dann tatsächlich – mit einem entspannenden und beglückenden Effekt – belohnt, aber derselbe Effekt tritt vermutlich kaum ein, wenn man die ganze Zeit auf ihn wartet: „Wann entspanne ich mich denn endlich?“, weil man dann noch immer im gegenteiligen Modus unterwegs ist, mit dem Ich im Mittelpunkt.

Ist ein Altruismus großer Systeme möglich?

Wenn uns der Altruismus im Privaten seinen paradoxen Lohn in dem Moment schenkt, wo wir nicht mehr auf ihn warten und im Grunde auch erst dann echte Altruisten sind, denn vorher waren wir Egoisten, die versucht haben, um das eigene Wohlergehen zu vergrößern, Altruist zu spielen, so stellt sich die Frage, ob der Altruismus auf eine ganze Gesellschaft, große Konzerne oder internationale Systeme zu übertragen ist.

Die Regierenden von Staaten haben zumeist einen staatlichen Egoismus (den man hier Soziozentrismus nennen kann) in ihrer Verfassung, der sie dazu verpflichtet das Wohl des eigenen Staates zu mehren, ähnliches erwarten auch Firmen und Konzerne, dass ihre Mitarbeiter ihnen nicht schaden, keine Interna ausplaudern und am Bestand interessiert sind. Diese Pflicht den je eigenen Nutzen zu mehren, bedeutet jedoch nicht zwingend, dass man schlecht zu anderen sein muss. Im Gegenteil, langfristig profitiert man vielleicht am meisten von Win-Win Situationen.

Und doch fällt hier die Möglichkeit der Hingabe weg, kann keine Entspannung eintreten. Ein Staat oder ein Konzern hat keinen Punkt der Identifikation. Man kann zwar sagen, Deutschland habe dieses oder jenes Interesse oder der Konzern möchte seine Gewinne verdoppeln, aber das ist ehe eine Metapher, es gibt kein inneres Selbst, das diesen Konzern oder jenes Land ausmacht, sondern in aller Regel sind die Interessen heterogen, wie man in Deutschland gerade erleben kann. Ganz im Gegenteil zu einer Einzelperson, die sagen kann, was sie will und wer sie ist, ist das bei Staaten, Konzernen und Organisationen keinesfalls so leicht.

Dort, wo viele Subjekte zusammen kommen überlagern sich die Effekte der Übertragung und Gegenübertragung, die wir in jeder Beziehung vorfinden in so vielfacher Weise, dass die Moral eher auf ein niedrigere Stufe regrediert, auf der dann primär Interessen gegen Interessen stehen. Enge Vertrauensverhältnisse unter Repräsentanten eines Konzerns oder Staates, die sich vielleicht schon seit Jahren kennen, können eine andere und persönlichere Färbung ins Spiel bringen, die manchmal zweifelhaft und manchmal gut ist, aber im Zeitalter der Transparenz sind sie vielleicht stärker denn ja unter Beobachtung.

Wer andern eine Tüte trägt, der profitiert mittel- und langfristig in aller Regel selbst davon. Der Wert des Altruismus liegt darin, dass man selbst etwas davon hat und dies vor allem, wenn man es nicht beabsichtigt, darin liegt die Paradoxie des Themas. Eine Ironie liegt darin, dass wir in unserer Gesellschaft tendenziell etwas anderes lernen. Nach Meinung einiger Stimmen greifen Egoismus und Narzissmus in der Gesellschaft weiter um sich.