Hinter dem „sperrigen Titel“ der Kritik am Naturalismus verbirgt sich ein interessantes Phänomen. Der Naturalismus ist die philosophische Idee hinter den Naturwissenschaften, auch wenn Naturwissenschaftlern manchmal nicht bewusst ist, dass es einen solchen Hintergrund gibt, wie Gerhard Vollmer hier ausführt.
W.V.O. Quine, ein Vertreter eines harten Naturalismus und ein Philosoph von Rang, meint, man solle die Erkenntnistheorie, ein bedeutender Teilbereich der Philosophie, gleich einstampfen und sich stattdessen der Kognitionspsychologie zuwenden.
Oft gilt die empirische Wissenschaft Psychologie, mit Ausnahme der Tiefenpsychologie, in vielen Streitfragen als eine Art natürlicher Verbündeter der harten Wissenschaften gegen die Philosophie, wie unlängst in der Diskussion um die Willensfreiheit. Wie in einem anderen psymag.de-Artikel dargestellt, gibt es in jüngerer Zeit wieder ein lauter zu hörendes Rumoren im Bezug auf den Naturalismus, erneut aus der Ecke der Philosophie. Doch die Schützenhilfe der Psychologie bleibt aus, ja es gibt sogar Gründe für eine Kritik am Naturalismus aus psychologischer Sicht.
Es sind im wesentlichen drei Strömungen, die kritisiert werden und denen wir uns zuwenden:
- Das missverstandene Rationalitätsprinzip
- Das missverstandene Ökonomieprinzip
- Eine missverstandene Triebtheorie
Die Kritik kommt aus den Reihen der Kognitionspsychologie sowie, sozusagen vom anderen Ende des psychologischen Spektrums, aus der Affektforschung, stellvertretend durch die Bücher „Schnelles Denken langsames Denken“ von Daniel Kahneman, sowie „Allgemeine psychodynamische Behandlungs- und Krankheitslehre“ von Rainer Krause.
Das missverstandene Rationalitätsprinzip
Auch hier muss man den Hintergrund etwas skizzieren. Es gibt eine etwas merkwürdige Allianz zwischen Wirtschaftswissenschaftlern sowie Evolutions- und Soziobiologen, wenn es um den Blick auf den Menschen geht. Diese Allianz fußt in der Auffassung, der Mensch sei ein Nutzenoptimierer und demzufolge ein egoistischer und rationaler Agent. Von einem grundlegenden genetischen Egoismus angetrieben, sei der Mensch, wie alles Leben, zwar zu kooperativem Verhalten in der Lage, letztlich versuche er damit aber immer eigene Vorteile zu vergrößern, wie der ehemalige Soziobiologe Richard Dawkins meint.
Dasselbe Menschenbild haben viele Wirtschaftswissenschaftler, die ebenfalls den Egoismus und die Ausrichtung auf den größten privaten Nutzen als Triebfeder des Menschseins ansehen. Was so wunderbar zusammen zu passen scheint, hat vermutlich historisch den Hintergrund, dass der Naturforscher Charles Darwin, der die Idee der natürlichen Evolution wesentlich mitbegründete, stark von dem Empiristen David Hume und dem Ökonomen und Moralphilosophen Adam Smith beeinflusst war.
Kahneman weist nun die Idee, der Mensch sei primär am Nutzen orientiert und gleicher Nutzen mache gleichermaßen zufrieden, als „Bernoullis Irrtum“ zurück. 20.000 Euro auf dem Konto machen keineswegs gleich zufrieden, wenn der eine, der chronisch Pleite ist, sie gerade im Lotto gewonnen hat, während der andere die Hälfte seiner 40.000 Euro soeben verloren hat.
Doch damit nicht genug. Die Idee, der Mensch sei ein rein rationaler Agent, wird in einem renommierten ökonomischen Fachjournal von Psychologen empirisch getestet und komplett widerlegt. Wie zur Bestätigung, dass der Mensch tatsächlich oft nicht sonderlich rational ist, löste dieser Befund kein wissenschaftliches Erdbeben aus, sondern wurde klammheimlich ignoriert; es wurde einfach wie bisher weitergemacht.
Die Befunde der Kognitionspsychologie sind eindeutig: Der Mensch ist kein reiner Nutzenoptimierer und kein rein rationaler Agent!
Viele, die sich selbst zu den Naturalisten rechnen, glauben, es sei anders.
Das missverstandene Ökonomieprinzip
Mit dem Postulat des Ökonomieprinzips ist es etwas kompliziert. Ökonomieprinzip meint hier die Idee, der Mensch strebe – wie alles in der Welt, so wird behauptet – das niedrigstmöglichste Energieniveau an, was für die Psyche einen Zustand der Reizarmut und maximalen Triebabfuhr bedeutet. Rainer Krause führt im Kapitel über Triebe aus, dies sei weniger ein Erbe der Biologie als der damals vorherrschenden Thermodynamik, also Physik. Auch Freud ging zunächst von diesem Gedanken aus, bevor er ihn wieder kassierte, weil das Phänomen des Masochismus einfach nicht ins Bild passen wollte. Hier gab es „lustvolle Spannungen und unlustige Entspannungen“ (Freud, 1924 b, S. 372) und dies galt exemplarisch für andere Lebensbereiche, wie der Vater der Psychoanalyse klar erkannte.
Ebenfalls gegen das Prinzip der Trieb- und Spannungsökonomie spricht die Fähigkeit des Körpers zur Eigenreizung. Selbst absoluten Reizentzug, nach einer eher seichten Deutung des Triebgeschehens das erstrebte Paradies auf Erden, beantwortet der Körper nicht mit Entspannung, die zu erwarten wäre, sondern mit einer Eigenreizung. Nichts spricht dafür, dass es das Ziel des Nervensystems ist, die Reize auf möglichst niedrigem Niveau zu halten.
Die allgemeine Kritik des Naturalismus trifft im Speziellen all jene Strömungen, die in reduktiver Weise komplexes Geschehen auf einfache Bausteine zurückführen wollen und dabei bis zur Physik zurückgehen. Die Kritik an der Idee, dass die Physik uns den umfassendsten Blick erlaubt, ist strenggenommen eine philosophische Diskussion. Es sei hier nur erwähnt, dass die Behauptung empirisch einfach nicht zutrifft: die Physik erklärt Teilbereiche der Natur großartig, die Psyche, Triebe und soziale Prozesse hingegen überhaupt nicht. Wer dennoch behauptet, man müsse ihre Perspektive vorrangig beachten, tut dies oft unbegründet oder argumentiert zirkulär, was ein philosophisches Ausschlusskriterium ist.
Eine missverstandene Triebtheorie
Ist das Ökonomieprinzip noch ein Grenzfall, so tauchen wir mit der Triebtheorie tief ins Reich der Biologie ein. Triebtheorien gibt es in der Biologie, hier der Ethologie (vergleichende Verhaltensforschung), und der Psychologie, eine Aufgabe der Zukunft besteht darin, beide zusammenzuführen. Eine schöne Aufgabe, beleuchten doch die psychoanalytischen Triebtheorien die Innenwelt von Organismen und sind ohne „Hardware“ und biologisches Erbe schwer zu denken. Und auch Ethologen müssen ihre Beobachtungen deuten und somit ihrerseits auf eine zugeschriebene Innenwelt Bezug nehmen.
Umso ärgerlicher, wenn dieses große Projekt zu oberflächlich angegangen wird. Die Idee, dass alles Verhalten und alle Motivation auf primären Egoismus und biologische Fitness zurückzuführen ist, herrschen im Rahmen einer solchen biologischen Triebtheorie oft vor. Es ist elegant zu sehen, dass ein primärer Egoismus zu kooperativem Verhalten führen kann, doch letztlich ist dieser Ansatz für den menschlichen Bereich unzureichend, wie unter anderem Experimente von Daniel Batson zeigten, der nachwies, dass der Mensch manchmal tatsächlich altruistisch motiviert ist. Ebenso werden von der Soziobiologie fast schon notorisch die Befunde der Moralpsychologie ignoriert. Dass hier nicht alles in trockenen Tüchern ist, ist wohl auch Dawkins klar, was sein Schluss daraus ist, bleibt dunkel. In seinem Buch „Das egoistische Gen“ schreibt Dawkins, wir seien, genetisch bedingt, egoistisch geboren, mit dem Tenor, dass wir deshalb keine große Wahl hätten auf unser Verhalten Einfluss zu nehemen. Andererseits appelliert Dawkins an gleicher Stelle, vor unseren egoistischen Genen auf der Hut zu sein, was impliziert, dass wir eine Wahl haben, ansonsten wäre so ein Hinweis sinnlos.
Der Ansatz der egoistischen Gene ist auch für das Tierreich umstritten, doch Rainer Krauses Kritik ist eine andere. Er beschreibt, dass Trieb in der Ethologie oft einen Vorgang meint, der „durch eine terminale Handlung abgeschlossen wird“ (Krause, 2012, S.174) und dies stimme nur bedingt. Welcher Trieb nun ausgelöst wird und in welche Richtung er sich entwickelt (dem Feind drohen oder dem Weibchen imponieren, lustvolles oder aggressives Beißen), bestimmt häufig das innere oder äußere Umfeld. Ohne die Stimmung und die Affekte sind Triebe nicht zu denken und die Erstgenannten sind nicht immer auf ein Ziel hin ausgerichtet. Doch sind Triebe und Instinkte hier, sowie Stimmungen und Affekte dort, nicht dasselbe, denn den Menschen finden wir vor als ein extrem trieb- und instinktarmes Wesen, aber zugleich ausgestattet mit den reichsten Affekten. Affekte gelten heute in der einflussreichen Objektbeziehungstheorie als die Bausteine der Triebe.
Es geht Krause nicht um ein Bashing biologischer Triebtheorien, ganz im Gegenteil prangert er an, dass die besseren der Theorien auch von der akademischen Psychologie ignoriert werden und ist selbst Repräsentant einer intelligenten Fusion der Triebtheorien aus Biologie und Psychologie.
Die Kritik am Naturalismus in der Zusammenfassung
Die Kritik am Naturalismus aus psychologischer Sicht bezieht sich vor allen Dingen darauf, dass hier in oft leichtfertiger und oberflächlicher Weise ein Weltbild konstruiert wird, was umstritten und durch psychologische Befunde und formallogische Fehler gleichermaßen widerlegt ist. Scheinbar ohne sich der Widersprüchlichkeit bewusst zu sein, wird der Mensch einmal als nahezu in allen wichtigen Belangen unbewusster und irrationaler Akteur gesehen, welcher dann aber durch rationale Argumente zu einer Einstellungsänderung bewegt werden soll. Durch seine egoistischen Gene scheinbar determiniert, als könne er nicht anders, soll der Mensch gleichzeitig auf der Hut vor eben diesen Genen sein, als könne er doch anders.
Das Bild, was hier gezeichnet wird, ist oft das einer Monade, die egoistisch bestrebt ist, Nutzen zu optimieren und Lust zu vergrößern. Hier scheinen die unbewussten Gene und das bewusste Wollen dann doch einmal Hand in Hand zu gehen, allein, beide Ideen sind für sich unbrauchbar und werden kombiniert leider auch nicht besser. Ohne Zweifel sind das Streben nach Lust und Nutzen starke Motive, gleiches gilt für den Egoismus, doch längst nicht in der behaupteten Dominanz und Allgegenwart. Wer per Definition alles aus der Perspektive des egoistischen Nutzens beschreibt und argumentiert, noch ein Heiliger würde nur handeln, wie er handelt, weil er selbst davon profitiert, begeht den logischen Fehler einer petitio principii: die Annahme (Prämisse), die zu beweisen wäre („Alle Streben nach egoistischem Nutzen.“), taucht in der Schlussfolgerung (Konklusion) wieder auf („Er hilft, weil er sich als Helfer gut fühlt und etwas davon hat.“). So macht man eine These unwiderlegbar.
Unwiderlegbarkeit wird von erklärten Naturalisten gerne als Grund angeführt, etwas als unwissenschaftlich abzuqualifizieren, doch manchmal scheinen sie den Wald vor Bäumen nicht zu sehen oder zeigen sich von empirischen Tests gänzlich unbeeindruckt. Diese kleine Kritik am Naturalismus aus psychologischer Sicht soll helfen, dass dies besser wird.