Plastikpuppen, Frau fasst sich an Kopf

Entsetzen ist ein Spitzenaffekt © Kevin Dooley under cc

Täter und Opfer gehören zusammen wie Henne und Ei. Die Rollenverteilung scheint klar, einer ist der Täter, der andere das Opfer. Das stimmt auf den ersten Blick, auch wenn die Wirklichkeit komplizierter ist.

Oft gehört dem Opfer unser Mitgefühl, während wir den Täter verachten, sofern wir nicht auch die Opfer als irgendwie selbst schuld entwerten.

Gemeinsamkeiten von Täter und Opfer

So unterschiedlich im Fall von Übergriffen und Gewalttaten die Rollen verteilt sind, so ähnlich sind die psychischen Mechanismen, die wir bei Täter und Opfer finden. In beiden gibt es innere Repräsentationen eines Täters und eines Opfers. Das hat für das Opfer tiefgreifende Konsequenzen.

Auch für den Täter hat es Konsequenzen, denn in nahezu allen Fällen, in denen ein Täter wirklich psychisch gestört ist, finden wir, dass er selbst ein Opfer ausgedehnten Missbrauchs oder anderer Faktoren ist, die eine schwere Persönlichkeitsstörung prädisponieren. Diese Faktoren sind, dass jemand ein Opfer von wiederholter körperlicher Gewalt oder sexuellem Missbrauch ist, sowie Gewalt oder sexuellen Missbrauch immer wieder mitansehen muss.

Otto Kernberg sagte, er könne die dramatische Konsequenz verallgemeinern, dass wann immer ein Opfer in der Folge chronischen Missbrauchs so weit geschädigt wurde, dass dies psychopathologische Konsequenzen hat, es zu einer doppelten Identifikation mit Täter und Opfer kommt.

Das wurde in der Vergangenheit oft als eine Entschuldigung für Täter herangezogen, doch Verständnis zu haben bedeutet nicht, Täter aus ihrer Verantwortung zu entlassen. Es kann gerade bei Tätern aus dem narzisstischen Spektrum wichtig sein, ihre Überlegenheitsgefühle dadurch zu unterlaufen, dass man ihnen Grenzen setzt, Strafe und Therapie verbindet, statt nur auf Strafe oder Therapie, zu setzen.

Die Täter- und Opfer-Repräsentationen sorgen dafür, dass man oft Täter und Opfer in einer Person ist: empfunden wird aber oft nur einer Seite. Im Falle des Täters heißt das, dass er gelernt hat, kein Mitgefühl mit anderen zu empfinden und mit der starken und überlegenen Seite identifiziert ist. Und doch sind beide Seiten da – bei Täter und Opfer.

Die Objektbeziehungstheorie

Hintergrund dieser Sichtweise ist die Objektbeziehungstheorie. Sie besagt, dass es in der Psyche jedes Menschen verinnerlichte Bilder einer Beziehung zwischen zwei Menschen gibt, sie sich um einen zentralen Affekt, der beide trennt und verbindet, herum gruppiert. Steht auf der einen Seite das Bild eines unterdrückenden Täters, ist die andere Seite das unterdrückte Opfer. Die manipulative oder sadistische Unterdrückung ist der gemeinsame Affekt.

Je intensiver der Affekt ist, desto mehr brennt er sich in die Psyche ein, besondere Spuren hinterlassen sogenannte Spitzenaffekte. Sind zwei Menschen durch eine Reihe von Spitzenaffekten verbunden, ist ihre Beziehung mit hoher Wahrscheinlichkeit verzerrt. Dominieren Spitzenaffekte die Entwicklung, so beeinträchtigt das die gesamte Psyche negativ.

Besonders erschütternd ist es zu sehen, wie Menschen, die in ihrer Kindheit selbst schwere Opfer waren, fast gezwungen sind, eine der Rollen im späteren Leben unbewusst zu wiederholen und beide Aspekte – Täter und Opfer – weiter agieren. Eine Frau, die unter einem sadistischen Vater litt, kann sich nun zu einem sadistischen Mann hingezogen fühlen, unter dem sie weiterhin leidet und gleichzeitig ihre Kinder sadistisch behandeln.

Tiefenpsychologie des Opfers

Besondere Herausforderungen bestehen für das Opfer. Es bringt mitunter Vorteile als Opfer angesehen zu werden, Vorteile finanzieller Art, Aufmerksamkeit, Schonung. Das ist einerseits gut und richtig, anderseits besteht die Gefahr des Missbrauchs. Doch das ist noch der leichtere Teil, denn gerade für Opfer, denen der Aufbau realistischer Beziehungen unmöglich gemacht wurde, müssen, als reale Opfer, die Täterrolle in sich entdecken, erkennen und integrieren.

Wie so oft in der Psychotherapie ist das, was leicht hingeschrieben wird, unendlich schwer im Leben umzusetzen. Der Täter müsste lernen sich als Opfer zu sehen und Empathie mit dem kleinen misshandelten Kind, was er einmal war, zu erlangen. Das gäbe ihm die Möglichkeit zur Empathie mit seinen Opfern, doch Täter leiden oft nicht darunter, dass sie Täter sind. Den Opfern geht es schlimmer, doch genau das, der immense Leidensdruck, ist auch die Chance den heroischen Akt zu wagen und sich als Opfer mit dem Täter zu identifizieren.

Dem Opfer wird noch einmal viel abverlangt, aber wenn es einen Weg gibt, das Thema wirklich hinter sich zu lassen, dann führt er genau hier her. Hier ist Heilung in der umfassendesten Form möglich.