Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen. Kann das wirklich die Lösung sein? © DPMS under cc

Selbstzensur ist heute für einige Menschen wieder ein Thema. Hinter mehr oder weniger verschlossenen Türen, mit einer mehr oder weniger geballten Faust in der Tasche wird dann gesagt, man dürfe ja heute nicht mehr sagen, was man wirklich denkt. Zwar sei es nicht so, so die Meinung vieler Menschen, dass man wie in totalitären Regimen verfolgt, abgeholt und eingesperrt würde, aber wie FDP Vize Wolfgang Kubicki formuliert:

„Erhebungen von Meinungsforschungsinstituten haben ergeben, dass mehr als zwei Drittel der Menschen bei bestimmten Themen das Gefühl haben, sie können ihre Meinung nicht mehr frei äußern. Das ist nicht juristisch gemeint: Der Staat garantiert Meinungsfreiheit. Aber viele Menschen haben eben das Gefühl, dass sie bei einer unzensierten Meinungsäußerung sehr schnell in ein soziales Abseits geraten können – bis hin zur Existenzvernichtung. Wenn etwa eine Redakteurin beim MDR eine potenzielle Koalition aus CDU und AfD „bürgerlich“ nennt und es anschließend öffentliche Forderungen gibt, diese Redakteurin dürfe nie wieder auf den Bildschirm, stellt man fest, dass eine Meinungsäußerung zu unvorhersehbare Problemen führen kann.“[1]

Das gilt nicht nur für die Redakteurin, in den Augen vieler Menschen ist unser Alltag, wenn es um öffentliche Meinungsäußerungen geht, ein Spießrutenlauf geworden.

Der semantische Eiertanz

Dies muss man vermeiden, das darf man so nicht sagen, überall muss auf die richtige Besetzung geachtet werden. Es wird mehr oder weniger intensiv darüber debattiert, wer welche Gedichte übersetzen darf, wer irgendwo eingeladen werden muss und wer auf keinen Fall erscheinen oder reden darf und wer wen überhaupt verstehen kann. Können Weiße farbige Menschen verstehen? Was wissen Reiche wirklich von den Nöten der Armen? Haben Wessis eigentlich eine Ahnung, wie Ostdeutsche wirklich ticken? Können Heterosexuelle das Leben Homosexueller nachempfinden? Können Männer Frauen verstehen, haben Alte noch den Zugang zur Jugend und umgekehrt?

Diese Liste könnte noch erweitert werden, um Tierbesitzer, Gartenfreunde, Individualtouristen, LKW-Fahrer, Tennisspieler, Briefmarkensammler, Meditierende, Veganer und alleinerziehende Mütter. Natürlich noch um beliebig viele andere Gruppen, die man so richtig nur verstehen kann, wenn man zu ihnen gehört. Aber was heißt es denn eigentlich, jemanden so richtig zu verstehen und gibt es eine Grenze dieser Forderung?

Das Problem ist, dass es bis zum Individuum durchgehend im Grunde keine Möglichkeit gibt, die Behauptung zu stoppen, dass man einander nicht verstehen kann. Denn wenn nur Homosexuelle einander verstehen können, wieso kann denn eigentlich der eine Homosexuelle den anderen verstehen? Denn der eine könnte ja Mann, die andere eine Frau sein. Oder der eine Linkshänder und der andere Rechtshänder. Rothaarig der eine, während der andere keine Haare hat. Kurz und gut: Warum markieren die einen Grenzen unüberwindbare Hürden, während die anderen dann kein Problem mehr sein sollen? Wenn man ernst macht mit der Idee, müsste man behaupten, dass niemand den anderen verstehen kann, was aber erkennbarer Blödsinn ist, da es selbstwidersprüchlich wäre, wenn der Satz stimmt. Denn jeder der sagt, er fände – wie im Satz behauptet – auch, dass die Menschen einander nicht verstehen, hat ja zumindest die Behauptung dieses Satzes durch seine Zustimmung bereits widerlegt. Denn Zustimmung zu etwas setzt voraus, dass man kapiert hat, was gemeint ist.

Das heißt, die Grenzmarken jenseits derer man den anderen angeblich überhaupt nicht verstehen kann sind mehr oder weniger willkürlich gesetzt. Das ist schon nicht besonders gut, weil formal vollkommen unüberzeugend, sachlich kommt noch ein Problem hinzu, nämlich die behauptete Unfähigkeit der anderen zur Empathie. Das ist im Grunde ziemlich harter Tobak, den Menschen die Fähigkeit zur Empathie absprechen zu wollen, denn Forschungen zeigen, dass genau das Gegenteil der Fall ist, kein Lebewesen kann empathischer und kooperativer sein, als der Mensch. Auch wenn wir es nicht immer sind.

Einfach zu behaupten bestimmten Gruppen von Menschen könnten nicht empathisch sein, muss gut begründet werden, behauptet man das pauschal ganzen Menschengruppen, wie etwa den Weißen, die ihre Kolonialismusgeschichte einfach nicht reflektieren können, so ist das auch dann Rassismus, wenn man in notdürftig ins Kulturelle übersetzen will, oder eben sexistisch, wenn er ein bestimmtes Geschlecht herabsetzt.

Das nicht sehr überraschende Ergebnis dieser Art von willkürlichen Grenzziehungen ist, dass eine Gruppe ein Interesse daran hat, sich selbst zu schützen und zu stärken, besonders die Mitglieder, die sich anhand eines bestimmten Merkmals mit einer Gruppe identifizieren oder von der Gesellschaft identifiziert werden. Die Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen und die Festlegung auf bestimmte Merkmale und Eigenschaften ist unvermeidlich und im Grunde auch nicht sonderlich schlimm.

Nicht so toll ist es in der Regel, wenn man als der ganze Mensch, der man ist, auf ein bestimmtes Merkmal reduziert wird oder sich selbst reduziert. Wenn man evangelisch, Mutter, Lehrerin, Geigerin, Hobbyköchin, rothaarig, Ostdeutsche und Radfahrerin und noch jede Menge mehr ist, ist das unproblematisch, wird man aber immer wieder auf nur ein Merkmal angesprochen, kann das als selbst anstrengend erlebt werden, etwa, wenn man nur als die Ostdeutsche gesehen wird.

Ähnlich kann es der Mitwelt gehen, wenn ein Mensch sich selbst auf sein Veganertum und damit ziemlich ausschließlich auf einen bestimmten Aspekt reduziert. Irgendwann möchte man mal den Menschen hinter der andauernden Kern-Botschaft kennen lernen.

Meistens hilft man also seiner eigenen Gruppe, was an sich nicht falsch ist, zumal es ja tatsächlich gesellschaftlich unterdrückte oder marginalisierte Gruppen gibt. Da das jeder macht, der mit einer Gruppe identifiziert ist und der Selbsterhalt zudem eine Grundeigenschaft von sozialen Systemen ist, ist das nicht weiter schlimm. Der wirklich kritische Punkt ist die Absage an unsere Fähigkeit zur Empathie und damit die Herabsetzung anderer, die von einigen Gruppen behauptet wird.

Verzerrungen wohin man blickt …

Wenn wir verstehen wollen, wie es zur Schere im Kopf kommt, gilt es das Verhältnis von Individuum und jenen Eigenschaften und Gruppen, mit denen es identifiziert ist, im Blick zu halten. Diese Identifikation ist gleichzeitig freiwillig und schicksalhaft, freiwillig, weil man sich aussuchen kann, wofür man sich interessiert, schicksalhaft, weil man bestimmte Neigungen und Talente eben nun mal hat.

In der Regel findet man das im Laufe des Lebens heraus. Man trifft auf Menschen, Aktivitäten oder Themen, die einen in besonderer Weise faszinieren, manchmal ist es das eine Lebensthema, das man schon als Kind erkannte, andere haben vielfältige Neigungen. Erfreut kniet man sich in ein Thema rein, schließt sich der einen oder anderen Gruppe an, das muss nicht äußerlich und formal, wie die Mitgliedschaft in einem Verein sein. Oft geschieht es innerlich, indem man feststellt, dass man Tierfreund ist, gerne bastelt, sich für Religion interessiert, sich als Frau in eine andere Frau oder eine Eisenbahn verliebt hat.

In manche Zugehörigkeit wird man eher von außen gedrängt, indem man vermittelt bekommt, dass man anders ist oder aussieht. Das kann die Haut- oder Haarfarbe betreffen, die Körpergröße oder Religionszugehörigkeit, aber auch die Fähigkeiten beim Volleyball, an der Geige oder die ganz eigene Art mit Menschen oder Tieren umzugehen. So oder so, konstituiert sich aus all dem ein Selbstbild, in dem man sich durch die Augen anderer wahrnimmt, die einem sagen, wie man ist und wo man anders ist, bei anderem findet man selbst heraus, dass man sich irgendwie mehr oder weniger für bestimmte Lebensbereiche interessiert, als andere.

Durch innere Neigungen, das Umfeld in dem man aufwächst und äußere Zuschreibungen ist man schnell jemand, der nun aus 5, 12, 20 oder noch viel mehr verschiedenen Attributen, Rollen, Eigenschaften besteht, die er in sich integrieren muss. Es scheint unterm Strich besser zu sein, wenn man auf mehreren Füßen steht, denn wenn man nur mit einer oder zwei Eigenschaften identifiziert ist oder wird. Da diese in der Summe das Selbstbild ausmachen, ist man natürlich stark verunsichert, wenn nun diese eine Eigenschaft kritisiert wird, die mich so zentral ausmacht. Auf einmal ist es ein Thema, dass man eine bestimmte Hautfarbe hat, das gleiche Geschlecht sexuell attraktiv findet, kein Fleisch isst oder so bürgerlich daher kommt.

Auf einmal hat man sich, ob man will oder nicht, mit diesem Thema, diesen Zuschreibungen auseinander zu setzen. Eine Reaktion darauf kann ein Rückzug ins Innere sein. Man wird verunsichert bis verstört, depressiv, eine andere Möglichkeit besteht darin, dass man sich eng an (s)eine Community klammert, in der das, was sonst seltsam scheint völlig normal ist und die einem Solidarität und Selbstbewusstsein vermittelt, Tipps und Tricks kennt, wie man mit bestimmten Alltagssituationen umgehen kann. Das kann sehr gut und hilfreich sein, wie man von Selbsthilfegruppen weiß, deren starker Effekt oft schon darin besteht, dass man andere kennen lernt, denen es genauso geht, wie mir, die wissen, was ich meine und nachvollziehen können, was und wie ich empfinde. Vorher dachte man, man sei der einzige Mensch, der so denkt und fühlt und nicht allein zu sein, ist bereits eine Entlastung.

… aber sie entstehen überall

Man hat plötzlich eine Art Gegenwelt zur Verfügung, in der ich nun auf einmal normal bin, wie ich bin, vielleicht sogar weil ich so bin und in der Community können die Anischten, Einstellungen und Selbstverständlichkeiten der Mehrheitsgesellschaft durchaus gegen den Strich gebürstet werden, Wer sagt denn eigentlich, wer die Normalen sind? Und was ist eigentlich normal?

Eine Folge davon kann darin bestehen, dass mit der oft wünschenswerten Aufwertung des eigenen Selbst eine Abwertung anderer einher geht. Fundamentalisten und Extremisten gehen so vor, dass sie das ausgrenzende Merkmal in sein Gegenteil verkehren. Aus dem eben noch schüchternen Wunsch, doch irgendwie dazu zu gehören und einfach ganz normal leben zu wollen, wird in bestimmten Gruppen ein Alleinstellungs- und Qualitätsmerkmal gemacht.

Wir sind die eigentlich Guten, die eigentlich Überlegenen, die Normalos grenzen uns nur aus, weil sie neidisch sind, weil sie insgeheim spüren, dass wir besser sind und schon bekommt die Geschichte einen ganz anderen Zungenschlag. Neue Narrative entstehen, nicht selten ein Fundamentalismus der Narrative. Es ist viel mehr zu holen, als die scheue Bitte um Anerkennung, auf einmal steht man mit breiter Brust da, inmitten einer stolzen Community. Hier kann man Selbstbewusstsein tanken, die Geschichte kann jedoch auch ins Überhebliche oder Fundamentalistische kippen. Dieses selbstbewusste Auftreten kann durchaus dazu führen, dass einige Gesellschaftsmitglieder diese Argumente unkritisch übernehmen, gerade wenn man selbst kein stabiles Wertesystem hat, auf das man zurückgreifen kann.

Oft aber pendelt sich das ein, man erkennt die Vorzüge und Grenzen der neuen Deutung. Die Vorteile sind, sich und andere wirklich befragen zu können, was denn die vorherrschende Einstellung über die Gewohnheit hinaus eigentlich wirklich gut, richtig oder besser macht. Das eigene Urteil dazu kann einem niemand mehr nehmen, allerdings kann man den anderen die eigene Einstellung auch nicht aufzwingen. Aber so kann man eine Diskussion nach Nachdenken anregen.

Jede Gruppe ist auch ein soziales System und hat ein gewisses ‚Interesse‘ am eigenen Erhalt und so entstehen Interessenkonflikte zwischen den Gruppen. Dazu gehört ein Ringen um die Deutungshoheit der jeweiligen Narrative oder Erzählungen. Zum Individuum gehört es, dass es sich mit manchen Einstellungen, Erzählungen und Deutungen mehr identifizieren kann, mit anderen weniger. Einige lehnt man schroff ab, wieder anderen sind einem im Grunde vollkommen egal.

Vielleicht ist man mit dem Thema Kirche stark identifiziert, mit der Frage der Schlägeroptimierung beim Badminton hingegen gar nicht, während einen die Diskussion um das Schienennetz durchaus grob interessiert, ohne dass man Detailkenntnisse hat. In aller Regel gibt es aber nicht nur ein Thema, mit dem man stark verwickelt ist, sondern mehrere. Man kann mit großer Leidenschaft Mutter, Ehefrau, Gewerkschaftsvorsitzende, Hobbytaucherin und Musikliebhaberin sein und noch so manches mehr, schon die normalen Rollen, die einem der Alltag abverlangt, sind vielfältig. Wird nun eine dieser Positionen erschüttert, kann man aus den anderen dennoch Stabilität ziehen und selbst traumatische Erfahrungen können nach und nach integriert werden. Ist man jedoch nur oder ganz besonders – überwertig – mit einer bestimmten Einstellung oder Idee identifiziert und dreht es sich immer und überall um die Hautfarbe, die sexuelle Einstellung, was man essen oder ob und an welchen Gott man glauben sollte, so ist es eine Erschütterung bis ins Mark, wenn dieser Punkt nun ins Wanken gerät.

Die meisten Menschen sind psychisch breit aufgstellt und identifizieren sich mal mehr und mal weniger stark mit den Einstellungen und Praktiken bestimmter Gruppen, die im Laufe des Lebens wechselt. Andere sind stärker und dauerhafter mit wenigen Gruppen verbunden als der Durchschnitt und daraus ergibt sich eine andauernde gesellschaftliche Dynamik. Sie drückt sich gesellschaftlich im Wettkampf der besseren Argumente aus. Individuell in einer Hierarchie der Bedeutung, die man Themen zumisst: Zu denen einen verspürt man eine gewisse weltanschauliche Nähe, mit anderen kann man sehr wenig anfangen und mit vielen hat man eigentlich keine Berührungspunkte.