Schweigende Mehrheit oder laute Minderheit?

Irgendwie ist das die neue Realität. Blasen, die einander nicht berühren, in allen existiert eine mal mehr, mal weniger andere Welt. © Conal Gallagher under cc

Wie kommt es nun zur Selbstzensur, zur Schere im Kopf? In erster Linie dadurch, dass sich die Deutungshoheit in der Gesellschaft verschiebt. Schwierig wird die Betrachtung dadurch, dass jedes Ding zwei Seiten hat, soll heißen, seit vier oder fünft Jahrzehnten rücken marginalisierte und gesellschaftlich ausgegrenzte Gruppen immer mehr in der Fokus der Beachtung.

Im Zuge der 68er Bewegung wurde die selbstverständliche Praxis, dass, was gestern gut war, auch heute gut ist, infrage gestellt. Nach dem Ende des zweiten Weltkrieges brauchte die Gesellschaft offenbar ihre Zeit um wieder zu sich zu kommen und das hieß, es wurde erst einmal auf heile Welt und den Wiederaufbau des Landes gesetzt. Heimatkitsch, Wirtschaftwunder, Fußball als gemeinsames Bindeglied und 20 Jahre später stellten die Kinder ihren Eltern unbequeme Fragen, danach, warum sie bei der Katastrophe die vor ihren Augen stattfand mitgemacht haben. Falls gefragt und vor allem, falls geantwortet wurde, in sehr vielen Familien war das kein Thema, aus verschiedenen Gründen.

Die Revolution war erfolgreich. „Nie wieder“, lautete die Devise und alles was als ‚das haben wir doch schon immer so gemacht‘ daher kam, war auf einmal suspekt und zwar gerade weil es immer schon so gemacht wurde. Die Deutungshoheit veränderte sich. Es wurden marginalisierte Gruppen mehr in den Blick genommen, von Randgruppen kann man nicht sprechen, da auch Frauen und ihre Rechte zu diesen ‚Randgruppen‘ gehörten und die Hälfte der Bevölkerung ist wahrlich keine Randgruppe mehr. Natürlich waren nicht alle Frauen auf der Seite dieser Bewegung, aber auf einmal richtete sich der Blick auf jene, die irgendwie schwach schienen. Oft nur, weil sie als schwach angesehen wurden.

Die Deutung änderte sich in der Weise, dass die von der Norm abweichenden Gruppen nicht nur als Mängelmodell angesehen wurden, sondern einfach als andere Möglichkeit das Leben zu leben. Ihr Leben und Empfinden war nicht mehr länger falsch, sondern anders. Dadurch gerät natürlich die Norm unter Druck, aber wenn die breite Mehrheit noch gemäß dieser Norm lebt und leben möchte, kann diesem Druck stand gehalten werden. Doch über die Jahre verändert sich die Gesellschaft und die Frage ist, ob der Bogen hier und da überspannt wurde. Auf diese Idee kommt man am ehesten dann, wenn man sieht, dass die größere Rücksichtnahme immer wieder auch dazu geführt hat, dass Menschen sich als Opfer darstellten, ohne welche zu sein, oder mit der Zeit feststellten, dass es ein ganz gutes Geschäft ist, von der Position des Opfers nicht loszulassen, sondern diese auszubauen. In Opferrolle ablegen: Wie man lernt, für sich selbst zu sorgen und Der Narzissmus der Ohnmacht haben wir das ausgeführt. Ausführlicher in Psychische Heilung, dort wird auch ersichtlich, warum das Thema psychologisch nicht banal ist.

Gesellschaftlich ist es auch komplex, weil eine Entwicklung so gut wie immer zwei Aspekte mit sich bringt. Einen den man oft als gut oder wünschenswert betrachtet, dann aber noch einen anderen Pol und beide bedingen einander, sind von einander kaum zu trennen[polarität]. Man hätte gerne oft den einen Pol und möchte auf den anderen verzichten, häufig kann man die Akzente ein wenig verschieben, die Übertreibungen minimieren, aber viel mehr ist nicht drin. Viele Konflikte haben den Hintergrund dass zwei Lager auf einander treffen, die jeweils nur eine Seite einer Thematik beleuchten wollen, also nur die Vorteile oder nur die Nachteile und damit es deutlicher wird, dabei gerne noch übertreiben und die Kritik der anderen Seite verzerren.

Das ist durchaus auch ein Kampf zweier Weltbilder. Gut gegen böse und der Zwang sich für eine der Seiten definitiv entscheiden zu müssen, entspricht einerseits dem mythischen Weltbild, andererseits entspricht es erneut einer gesellschaftlich regressiven Einstellung, wie bereits kurz angerissen. Das pluralistische Weltbild, was die Ambivalenz – den Fortschritt und und seine Kosten – erkennen und tolerieren kann, ist einerseits komplexer und damit reifer, andererseits fragiler und oft selbst in seinen Übertreibungen gefangen. Wir gehen auf diesen Aspekt in der nächsten Folge ausführlicher ein. Hier sei nur erwähnt, dass die Schere im Kopf, die Selbstzensur oft dadurch entsteht, dass man die andere Seite, die es nicht geben darf, vor der Welt und sich selbst gerne verbergen möchte.

Es gibt jedoch neuerdings eine noch andere Situation, nämlich die, dass es bei uns einen konsistenten Mainstream[link] von Menschen, die ziemlich gleich denken und fühlen im Grunde nicht mehr gibt. Auch wenn es zur Aufwärmübung dazu gehört, sich vom angeblich erdrückenden Mainstream abzugrenzen. Statt dessen existiert eine Vielzahl von Gruppen, die mitunter recht stark sind und ihre Interessen vertreten, darunter auch solche, die in den letzten Jahren und Jahrzehnten zu wenig beachtet wurden.

Auch die Gruppe jener, die sich für die schweigende Mehrheit hält, konservative Einheimische ist wohl eher eine lautstarke Minderheit, aber es ist nicht die einzige. Teile der Jugend sind an der Klimathematik interessiert, Frauen weisen noch einmal darauf hin, dass die Gleichberechtigung noch nicht überall erreicht ist, manche Männer, dass inzwischen sie in bestimmten Lebensbereichen benachteiligt sind, Migranten wollen nicht mehr unter strukturellem Rassismus leiden, doch wenn es heißt, weiße Menschen könnten nur (aufgrund ihrer Kolonialisierungsgeschichte) rassistisch denken, ist auch hier der Bogen überspannt, neuerdings sind auch Ostdeutsche und ihre eigene und komplexe Geschichte, sowie armen Menschen in den Fokus des Interesses gerückt oder bekommen zumindest stärkere Beachtung und all das ist berechtigt, geht aber aktuell wild durcheinander.

Der Herrenwitz ist nicht mehr lustig

So verrückt es klingt, aber auch in schlechten Witzen kumuliert ein Stück Kultur. Sie sind heute nicht mehr witzig oder nur noch in wenigen Kreisen, viele fühlen sich nicht nur deshalb orientierungslos und etwas aus der Zeit gefallen. Man meinte es doch eigentlich gar nicht so böse und ist nun irritiert bis beleidigt, dass das nicht mehr ankommt. Gleichzeitig blasen andere Gruppen zur Attacke und schießen selbst übers Ziel, wenn sie merken, dass sie punkten können in dem sie anderen erzählen, dass sie schlechte Menschen sind, weil sie noch immer denken, wie sie es gelernt haben.

‚Wir sind die Opfer und du bist schuld, dass es uns schlecht geht.‘ Das macht betroffen, weil viele heute gesellschaftlich so gepolt sind, dass sie nett sein wollen, wenn auch oft etwas oberflächlich. Denn gar nicht so selten ist die übergroße Toleranz die jemand zur Schau stellt, in der doch jeder ganz einfach machen sollte, wie es gefällt, der kaschiert Wunsch, sich mit dem was der andere eigentlich für ein Anliegen hat, gar nicht zu beschäftigen. ‚Mach‘ einfach und lass‘ mich damit in Ruhe‘ ist die Botschaft dieser Form der Toleranz. Fordert jemand intensiveres Hinschauen, ist man gekränkt und beleidigt, vor allem, wenn andere einem spiegeln, dass das eigene Verhalten gar nicht nett ist. Das macht wiederum die Gegenseite aggressiver, die dann meint, dieser oder jener Gruppe stünden schon genügend Rechte zu, irgendwann müsse nun auch mal gut sein mit den Ansprüchen.

Dann verschärft sich der Ton, man zieht sich immer mehr in Richtung seiner Trutzburg zurück, andere, die sich angesprochen fühlen, bemühen sich zu deeskalieren, manche mit klarem Blick, in dem sie die Vorwürfe versuchen zu klären, andere mit einer Geste des maximalen Entgegenkommens und sowohl die konfrontative Eskalationm, als auch die Deeskalation und die Unterwerfung finden zur gleichen Zeit auf beiden Seiten der inzwischen zahlreichen Konflikte statt.

Fettnäpfchen, so weit das Auge reicht und wenn man in der Öffentlichkeit steht, ist immer eines in der Nähe, ist das man rein treten kann. Also übt man das ein, von dem man denkt, dass es so klingt als ob die meisten es hören wollen, bereit zur Selbstzensur, weil immer mehr auf die sprachliche Goldwaage gelegt wird. Ein missratener Satz und die Karriere ist dahin, das will man nicht riskieren. Also frisst man Kreide und passt sich immer neuen Formen an, bei denen man ahnt, wer sich auf der anderen Seite ins Fäustchen lacht und ebenfalls, dass die andere Konfliktpartei noch immer meint, die Sprachverrenkungen seien doch wohl das Mindeste, was man als Ausgleich erwarten dürfe und eine nächste Gruppe wird dasitzen und selbst nicht so genau wissen, was sie von all dem halten soll, selbst wenn es in ihrem Namen geschieht.

Eskalation, Unterwerfung, Trotz, Aggression, Nachtreten, die ganze Palette wird bedient, jeder findet, was er sucht, jeder findet Beispiele, passende Stimmen und passende Zahlen, das Buch zum Thema, auf der einen, wie auch auf der anderen der vielen Seiten unserer Gesellschaft. Viele tauchen dann in eine bestimmte Blase ein, die ihnen dieses Gewirr etwas entheddert.

Die Eskalationen sind nicht schön, denn diejenigen die zuspitzen tun das mitunter nicht ohne Lust und mit viel Selbstgerechtigkeit. Sie entsprechen der Regression der zweiten Stufe, die von Aggression und paranoidem Misstrauen durchdrungen ist. Hier regiert die projektive Identifikation, eine regressive Form der Projektion, man weiß (= meint zu wissen), dass der andere finstere Absichten hat, lässt sich aber nicht für dumm verkaufen und schlägt zurück. Auf einmal scheint alles erlaubt und die vorher geübte Selbstzensur kippt in die Lust an der Provokation. Wird ein Vertreter der eigenen Gruppe bei einer dreisten Lüge erwischt, fällt dieser nicht etwa in Ungnade, denn es scheint klar zu sein, dass sowieso überall gelogen wird, man macht es also nur so, wie es überall üblich ist. Aufrichtigkeit ist ein Fake, wer behauptet, dass es sie wirklich gibt, ist ein Lügner oder naiv.

Die andere Form der Regression, die der ersten Stufe, ist weniger aggressiv, aber tatsächlich naiv. Die Grundüberzeugung ist die einer guten Welt und dass alle Menschen an sich lieb und unaggressiv sind, wenn ich es bin. Es liegt nur an mir, ist die narzisstische Komponente dieser Einstellung, die den anderen als jemanden, der selbst entschiedet. Dieser Narzissmus ist immerhin wohlmeinend, aber er nimmt den anderen dennoch nicht wahr. Ist jemand unzufrieden, muss ich also nur nett zu ihm sein, ist er noch immer garstig, muss ich noch netter sein, die Welt krankt nur an zu wenig Engagement und Liebe, wirkliche Aggression gibt es nicht. Was auch immer die Psychologen sagen, man will sich nicht davon abbringen lassen, dass die Welt ein unendlicher Spaß sein könnte, wenn man nur allen die Chance gibt zu entdecken, dass sie im Kern sehr freundliche Menschen sind. Auf Verweigerungen reagiert man mit noch mehr Verständnis, nur niemanden reizen, kein Streit, keine Konfrontation, der eigene Standpunkt wird verleugnet, die Selbstzensur ist keine schwere Übung, weil man sowieso keine richtige Meinung hat, hinter der man steht.

Menschen, die mehr verstehen gibt es natürlich auch weiterhin, sogar solche, die gute Lösungen dieser komplexen Situationen sehen, aber der Chor der Stimmen ist sehr bunt geworden und da stellt sich dann über kurz oder lang die Frage, ob nicht doch jemand moderieren könnte, auf der Basis objektiver Größen, Fakten, Werte und Erkenntnisse.

Schwer zu verstehen: Die Sache mit den Fakten

An Fakten und Tatsachen, dem, wie die Dinge also sind, orientiert man sich noch am ehesten. Wenn schon die einen denken, dass sowieso immer und überall gelogen wird, die anderen alles großartig finden und mitmachen und wieder andere taktisch ihr Fähnchen nach dem Wind ausrichten, sollte das ein Anker sein.

Diese geglaubte Sicherheit, mit der man sich meint auf unumstößliche Fakten zurück ziehen zu können ist heute ins Wanken geraten. Vermittelte die Wissenschaft einige Zeit das Bild, man orientiere sich ganz nüchtern ausschließlich an Fakten, so bekommt die Öffentlichkeit spätestens seit der Corona Pandemie mit, das diese keinesfalls so spielentscheidend sind, wie man meinte. Denn dort haben wir Bekanntschaft mit verschiedenen Lagern gemacht und jedes behauptet die Fakten und auch noch die besseren auf der eigenen Seite zu haben. Weil man eben nicht nur diese, sondern auch jene Zahlen beachten muss, A nicht so stark, dafür B mehr gewichten müsste und so geht es fröhlich weiter, bis hin zu Fragen gesellschaftlicher Art, ob denn nicht die Politik die Maßnahmen beschließen müsse, statt der Wissenschaft.

Dazu kam die für manche neue Erkenntnis, dass ‚die Wissenschaft‘ kein Club von Leuten ist, die sich alle einig sind, sondern vielmehr eine Communitiy, die vom andauernden Streit lebt und eigentlich nie fertig, sondern immer nur vorläufig ist. Weiter kommt erschwerend hinzu, dass Fakten nicht einfach Dinge sind, die einfach so da sind, sondern im Grunde konstruiert und geborgen werden müssen. Fakten sind sich wiederholende Muster, die durch einen bestimmten Blick auf oder in die Welt entstehen, aber bereits ein etwas veränderter Blick lässt ein anderes Bild entstehen und den ganz objektiven Blick aller Blicke gibt es nicht.

Mit anderen Worten, viele gewohnte Orientierungsgrößen fallen weg und ein Deutungsvakuum entsteht. Nichts scheint mehr gewiss und viele gehen ihren Interessen nach, über die Jahre hat man ein bestimmtes soziales Verhalten gelernt, was gestern richtig oder unbedenklich war, ist heute falsch und anstößig. Man ist verunsichert, die einen sind trotzig, andere üben Selbstzensur, weil sie bestimmte neue Werte gut finden oder einfach mit ihnen aufgewachsen sind und anderen respektvoll begegnen wollen, ein anderer Teil der Gesellschaft versteht im wahrsten Sinn die Welt nicht mehr und hat das Gefühl genau diese, die eigene Welt würde ihnen gerade genommen.

Früher war doch alles so unbeschwert. Man will doch nur so ein bisschen sein können wie immer, denn so richtig böse hat man es eigentlich nie gemeint. Auch wenn es vielleicht ein bisschen fies, verletzend und entwertend war, was man so dachte und sagte. Das Problem ist, dass es, wenn man über andere redet, gar nicht nur davon abhängt, wie man es gemeint hat, sondern auch, wie es bei den Betroffenen ankommt.

Dennoch gibt es auch dieses ‚Das wird man doch wohl noch sagen dürfen‘-Gefühl, gerade im Zusammenhang mit dem Thema Selbstzensur. Man hat das Gefühl, man dürfe nicht mehr sagen, wie die Dinge wirklich sind, ohne dass einem ein Strick draus gedreht wird. Die Lage ist verfahren und einfache Antworten gibt es nicht, sonst hätte man sie schon gefunden. Einerseits darf jeder eine Meinung haben, dann heißt es wieder, Rassismus sei keine Meinung. Doch wo beginnt Rassismus nun wirklich und wo wird vielleicht der Vorwurf selbst instrumentalisiert? Worüber möchte man eigentlich so dringend reden? Was darf man nicht sagen? Wo sieht man sich zur Selbstzensur genötigt? Dem gehen wir in der zweiten Folge nach.

Quellen