Mehr Selbstbewusstsein gehört zu den häufigsten Wünschen von KlientInnen, die in den Erstgesprächen bei psychotherapeutischen Angeboten geäußert werden. Unabhängig davon, ob sich die Betroffenen wegen einer starken Angstneigung, vermehrten Sorgen oder Niedergeschlagenheit an die TherapeutInnen wenden, viele beklagen ein geringes Selbstwertgefühl. Beim Selbstbewusstsein geht es nicht nur um ein selbstbewusstes Auftreten, damit man beispielsweise den Traumjob bei einem Vorstellungsgespräch bekommt oder vor einer Gruppe sprechen kann. Selbstbewusstsein greift viel tiefer. Um mehr Selbstbewusstsein zu erlangen, braucht es emotionale Reife. Und an diesen Punkten setzen wir aus psychologischer Sicht an.
Selbstbewusstsein: eine alternative Sichtweise
Nach meiner Ansicht muss ein Mensch, der mehr Selbstbewusstsein haben möchte, nicht mehr machen – sondern weniger. Er sollte Dinge weglassen, wie zum Beispiel Grübeleien. Er sollte weniger verdrängen, wie zum Beispiel Schamgefühle. Außerdem sollte er weniger auf das Außen achten, wie zum Beispiel auf andere Menschen oder potenziell beschämende Situationen.
Die nachfolgenden Quicktipps für mehr Selbstbewusstsein beziehen sich auf den nichtklinischen Bereich. Bei einem hohen seelischen Leidensdruck mit starken Ängsten, Minderwertigkeitskomplexen, Schamgefühlen, depressiven Symptomen etc. sollte allzeit eine professionelle therapeutische Unterstützung herangezogen werden, um die seelischen Belastungen aufzuarbeiten.
Emotionale Reife für mehr Selbstbewusstsein
Emotionale Reife ist ein wichtiges Fundament für das Selbstbewusstsein. Denn eine innere Stabilität, weil man mit sich selbst und der Welt im Reinen ist, verschafft auch mehr Gelassenheit und folglich mehr Selbstbewusstsein. Mit emotionaler Reife geht eine angemessene Selbstreflexion einher, aber auch eine größere Differenzierungsfähigkeit genauso wie mehr Nachsicht – mit sich und anderen Menschen.
Es soll nicht der Eindruck erweckt werden, als wäre es total leicht, mehr Selbstbewusstsein zu bekommen. Im Gegenteil, es kann ein steiniger Weg sein, der immer wieder mit einigen Rückschlägen der Minderwertigkeit verbunden sein kann. Es erfordert eine beständige Eichung und ein Hinterfragen der eigenen Person. Aber je länger und intensiver du diesen Weg gehst, desto mehr wird er sich sicherlich ebnen.
Mit psychologischen Quicktipps ist vielmehr gemeint, dass die Ansätze zum Erlangen von mehr Selbstbewusstsein durchaus überschaubar sein können. Anders als womöglich befürchtet, steht man nicht hilflos einem undurchdringlichen Nebel voller Fragezeichen gegenüber, bei dem man nicht weiß, wo man ansetzen soll.
Mehr Selbstbewusstsein: neun Quicktipps
Nachfolgend nun einige Stellschrauben, an denen du drehen kannst, um dein Selbstbewusstsein zu steigern. Menschen, die selbstunsicher sind, ängstlich, sorgenvoll, neigen zum Overthinking beziehungsweise Hypermentalisieren. Sie hinterfragen sehr vieles, antizipieren, was andere denken könnten, katastrophisieren mögliche Zukunftsverläufe und gehen mit sich selbst hart ins Gericht. Die negativen Gedanken, die sie in sich tragen, bilden in den allermeisten Fällen nicht die Realität ab.
Die Übersteigerungen spielen sich lediglich in ihrem Kopf ab. Menschen, die dazu neigen, zu dramatisieren, sich selbst zu beschämen oder herabzusetzen, verletzen, verunsichern und ängstigen sich im Grunde nur mit ihren eigenen Annahmen. Der Kreislauf geschieht einzig in ihrem Kopf. Vielleicht wird es nun deutlicher, warum man für mehr Selbstbewusstsein weniger machen sollte. Fangen wir damit an!
1. Mehr Selbstbewusstsein: weniger Bewertung
Menschen mit einer emotionalen Reife und mehr Selbstbewusstsein verurteilen andere Menschen weniger genauso wie sich selbst. Sie bewerten nicht ständig. Sie werten andere Menschen weder auf und stellen sie auf einen Sockel, noch werten sie andere Menschen ab und fühlen sich dann besser als sie.
Wenn du andere Menschen bewertest und in ein soziales System einordnest, beispielsweise innerhalb eines bestimmten Personenkreises, wird es auch umso wichtiger für dich, auf welcher Position du innerhalb dieser Gruppe nach deiner Einordnung stehst. Wohlgemerkt, es handelt sich dabei lediglich um deine individuelle Einordnung, die nicht zwingend die Realität abbilden muss. Aber je mehr Bedeutung du dieser Einordnung beimisst, umso wichtiger wird sie auch für dich und deinen Selbstwert werden.
Bewertest du dagegen dich und andere weniger, wird für dich die Einordnung in eine soziale Bezugsgruppe auch weniger bedeutsam sein. Ob und wie andere dich dann wahrnehmen, wird dir dann vermutlich egaler sein, weil es in deinem Kopf keinen hohen Stellenwert einnimmt. Du machst dich unabhängig von der Bewertung anderer.
2. Mehr Selbstbewusstsein: weniger Verurteilung
Jeder Mensch handelt vor dem Hintergrund seiner eigenen Geschichte. Jeder Mensch hat lediglich bestimmte Werkzeuge für sein Leben mitbekommen, mit denen er versucht, in seinem Dasein zurechtzukommen. Du kennst weder die vollständige Geschichte eines anderen Menschen noch seine Gefühle oder Gründe für sein Handeln. Demzufolge bewegen sich deine Schlussfolgerungen hinsichtlich einer anderen Person immer im spekulativen Bereich. Lässt du andere Menschen so sein, wie sie sind, dann akzeptierst du auch ihre Stärken und Schwächen. Bist du bemüht, ihre Hintergründe zu verstehen, wirst auch du dir selbst gegenüber zunehmend nachsichtiger werden. Vermeintlichen Schwächen bei dir stehst du dann auch differenzierter und mit liebevoller Nachsicht gegenüber. Kurzum: Denke weniger auf zwischenmenschlicher Ebene, auf Basis von Angst, Scham, Wut, sondern konzentriere dich auf die Inhaltsebene wie zum Beispiel das eigentliche Thema.
3. Selbstbewusstsein steigern: weniger Gefühle verdrängen
Wann immer man eine Situation als peinlich für sich einordnet oder einen Fehler begeht, können Schamgefühle auftreten. Sobald eine Person sich aus ihrer gewohnten Komfortzone begibt, können Ängste und Unsicherheiten kommen. Das ist ganz normal. Vor unangenehmen Gefühlen wie Schamgefühlen, Ängsten oder Gefühlen der Minderwertigkeit brauchen wir keine Angst zu haben. Sie sind zwar unangenehm, aber sie sind aushaltbar. Und sie gehen vorüber. Wir können sie folglich als gegeben annehmen, sie fühlen und anschließend vorbeiziehen lassen.
Hast du weniger Angst vor deinen Schamgefühlen oder Ängsten und erlangst du mehr an Bewusstsein, deine Gefühle aushalten zu können, ohne sie zu verdrängen, erhältst du automatisch mehr Souveränität im Umgang mit deinen Gefühlen. Auch Schwächen, Enttäuschungen und Schmerzen darfst du zeigen. Sie sind normal und gehören zu jedem Menschen dazu.
Durch die erlebte Akzeptanz deiner Gefühle nimmst du dich als Person in deiner Gesamtheit an und wirst folglich selbstbewusster.
4. Selbstwert erhöhen: anderen weniger gefallen wollen
Bemerkst du, dass andere Personen schlecht über dich sprechen, nimm es nicht persönlich. Es sind ihre Werte, Ansichten über sich und die Welt, die in dem Urteil zum Ausdruck kommen. Eine Person, die gerne andere Menschen bewertet, um sich besser zu fühlen, wird immer bewerten, egal was du tust. Eine Person, die unzufrieden ist, wird gegen alles und jeden einen Groll hegen, egal, wie gut du dich benimmst. Warum möchtest du dich also von ihrem Urteil abhängig machen? Versuchst du anderen Menschen zu gefallen, ihnen zuzusprechen in Form von People Pleasing, gewährst du ihnen einen Zugriff auf deine Seele. Du begibst dich in ihre Hände, gibst ihnen unnötige Macht über dich und ordnest dich ihnen unter. Zu welchem Zweck? Dein Wert hat nichts mit der Meinung anderer Menschen zu tun. Löse dich davon. Je unabhängiger du dich von dem Verhalten anderer Menschen machst, umso mehr Selbstbewusstsein wirst du erlangen.
5. Mehr Selbstbewusstsein: weniger Passivität
Im Allgemeinen ist das Bauchgefühl ein guter Anzeiger, ob einem ein anderer Mensch guttut oder nicht. Fühlst du dich nach einer sozialen Interaktion gut und wohl, wird dir die andere Person vermutlich ein gutes Gefühl vermittelt haben. Fühlst du dich dagegen nach einem Aufeinandertreffen mit einer Person irgendwie unwohl und schlecht, weil dein Gegenüber dir vielleicht ein blödes Gefühl gegeben hat oder dir unterschwellig suggeriert hat, nicht gut genug zu sein, so ist auch das ein Anzeiger für dich.
Zwar muss nicht jeder Patzer, den ein anderer Mensch sich erlaubt, besprochen werden, denn wir alle benehmen uns nicht immer gut, aber im Allgemeinen solltest du dich von Menschen fernhalten, die dich schwächen oder sich besser fühlen wollen. Statt in der Passivität zu verharren, sich über die anderen aufzuregen, ansonsten jedoch nichts weiter an der Konstellation zu verändern, bleibe besser ruhig und grenze dich aktiv durch dein Verhalten von ihnen ab. Zuerst kannst du mit der betreffenden Person sprechen. Ändert sie ihr Verhalten nicht, ziehst du Konsequenzen, die nicht immer rigoros sein müssen. Du bestimmst selbst, wie viel du einem anderen Menschen von dir erzählst oder wie viel Zeit du mit jemandem verbringst. Umgebe dich stattdessen mit Personen, die deinen Selbstwert stärken, anstatt ihn zu untergraben.
6. Weniger Verantwortungsabgabe
Menschen, die weniger selbstbewusst sind, haben oft Angst vor Zurückweisung oder negativem Feedback. Deshalb neigen sie dazu, sich ein bisschen vor dem Leben zu verstecken. Änderungen machen ihnen Angst. Doch mehr Selbstbewusstsein kommt nicht einfach so. Erst kommt die Handlung, dann das Selbstbewusstsein. Es ist wichtig, dass du Verantwortung für dein Leben und dein Handeln übernimmst.
Das bedeutet nicht, dass du alles „perfekt“ bewerkstelligen musst: Job, Haus, Kindererziehung, Reisen, Freundeskreis, Vermögensaufbau, Selbstreflexion, Ich-Entwicklung, soziale Kompetenzen usw. Diese Perfektion erreicht so gut wie niemand. Alle strampeln, alle versuchen irgendwie zurechtzukommen. Tue dir einen Gefallen und glaube nicht an die Perfektion. Diese gibt es nicht. Wer bemüht ist, einem anderen Menschen vorzugaukeln, wie perfekt das eigene Leben angeblich sei, der trägt meistens ganz andere seelische Unzulänglichkeiten in sich.
Die Übernahme von Verantwortung bedeutet, sich auf den Weg zu machen. Die Verantwortung für sein Wohlergehen, sein Verhalten und sein Leben zu übernehmen. An sich zu arbeiten, in seinem ganz eigenen Tempo. Und zwar nicht, um irgendwann an das Ziel zu kommen, wo man erfolgreich ist und „es geschafft hat“. Sondern es geht darum, sich anzunehmen und zufrieden zu sein. Das ist das Ziel. Dafür solltest du versuchen, die Verantwortung zu übernehmen. Das heißt nicht, dass du dich nicht auch eine Zeit lang in deinen Kokon zurückziehen kannst, und dich von der Arbeit an dir selbst ausruhen kannst. Du darfst auch mal darüber jammern, wie schrecklich schwer alles ist. Aber alles in allem führt dein Weg dich weiter, hin zu mehr Zufriedenheit, hin zu mehr Selbstbewusstsein.
7. Den Fokus von sich nehmen: weniger Angst vor Fehlern
Fehler sind Erfahrungen. Vermutlich sind Fehler viel bessere Erfahrungen als Erfolge, weil man aus ihnen mehr lernt. Bei vielen Menschen, die Probleme mit dem Selbstbewusstsein haben, sind Fehler eng an Beschämungen geknüpft. Die Gründe dafür können in der Kindheit liegen. Diese Verknüpfung gilt es nun zu lösen. Gemachte Fehler haben nichts mit deinem Wert als Person zu tun. Sie sind nichts weiter als das, was sie sind: gemachte Fehler. Jeder Mensch macht welche. Wer etwas anderes von sich behauptet, der scheint sie zu verdrängen.
8. Emotional unabhängig: weniger Aufgewühlt sein
Die Lösung von Problemen gelingt oft eher, je gelassener man bleibt. Dahingehend dürften wohl die meisten Menschen übereinstimmen. Bei der Arbeit für mehr Selbstbewusstsein ist eine ruhigere emotionale Baseline wichtig. Wir benötigen mehr Gelassenheit, damit wir nicht so schnell aus dem Gleichgewicht geraten.
Hier ist Körperarbeit besonders wichtig. Durch regelmäßige Yogaübungen, Entspannungstechniken oder Meditationen genauso wie durch andere Sportarten wirst du mit der Zeit mehr innere Ruhe spüren können. Probleme werfen dich dann nicht mehr so schnell aus der Bahn. Du behältst einen klareren Verstand. Manchmal kann es auch helfen, die Probleme eine Weile ruhen zu lassen, ehe man sich der Lösung zuwendet. Ein Gespräch mit FreundInnen, ein Spaziergang im Wald oder eben Sport schaffen Abstand zu dem Problem und lassen es oft in der Bewertung kleiner werden. Eine Lösung ist so häufig schneller parat. Je weniger raumgreifend und einschneidend wir die Probleme empfinden, umso weniger ängstigen sie uns. Wir lassen uns von ihnen nicht mehr bestimmen. Es ist wichtig, sich den Problemen zu stellen, aber man muss sich nicht von ihnen „überschwappen lassen“.
Durch die Steigerung der eigenen Problemlösekompetenz und dem Erfahren von Selbstwirksamkeit gelangen die meisten zu dem Schluss, dass „alles halb so wild ist“. Mit der Zeit werden wir unser Leben als kontrollierbarer empfinden und mehr Selbstbewusstsein erreichen.
9. Mehr Authentizität: weniger Fassade
Je authentischer du im Umgang mit dir und anderen Menschen bist und je weniger Spielchen du spielst oder versuchst, eine Fassade aufrechtzuhalten, desto besser kannst du dich annehmen und umso mehr Selbstbewusstsein wirst du erlangen. Du musst dich nicht verstecken oder schämen, es gibt absolut keinen Grund dazu. Wichtig ist es auch, weniger auf den inneren Kritiker zu hören. Er sagt nicht die Wahrheit und bildet nicht die Realität ab. Er ist lediglich der Widerhall dessen, was du in deiner Vergangenheit durch deine Bezugspersonen suggeriert bekommen hast. Sich selbst mit dieser inneren kritischen Stimme zu beschämen, ist absolut nicht notwendig. Du musst weder mehr machen, um akzeptiert zu werden, noch musst du mehr darstellen, um bewundert zu werden. Es reicht vollkommen so, wie du bist. Authentizität ist ein wesentlicher Schlüssel zu mehr Selbstaufrichtung und mehr Selbstbewusstsein. Alles Gute für dich!