Der Weg der Schwachen
So müssen die Schwachen lernen ihr Bedürfnis nach Aufmerksamkeit zu erkennen, anzuerkennen und nicht peinlich berührt zu sein, sondern es offensiv einfordern. In einer idealen Welt wird man dafür geliebt, dass man ganz einfach da ist, lebt, aber nicht immer läuft es ideal und Menschen mit Ich-Schwäche sind in aller Regel nicht in idealen Verhältnissen groß geworden. Also muss man was tun, um sich beliebt zu machen und gut ist derjenige dran, dem das gelingt. Den schwachen Ich-Schwachen gelingt es oft nicht aber auf dem Weg zur Ich-Stärke ist dies nahezu unerlässlich, will man nicht wieder in das Muster der armen hilflosen Maus rutschen, der von allen so übel mitgespielt wurde und für die man doch deshalb Verständnis haben muss.
Doch die Welt der Psyche ist nicht ohne Komplikationen, eine davon ist der vermeintliche Wunsch normal sein zu wollen, ohne es zu wollen. Gar nicht so selten hört man von Menschen mit Ich-Schwäche einen Satz wie: „Ach, was wäre es schön, wenn ich …“ und der zweite Teil des Satzes ist einer, in dem man sich eine Tätigkeit aus dem normalen Leben der anderen heraussucht, die man auch so gerne können oder machen würde. Es ist Neid, der hier durchschimmert, ein Neid der manchmal verallgemeinert wird: „Alle können das, warum ich nicht?“, was mit dem bekannten „Warum immer ich?“ verwandt ist.
Hierbei handelt es sich aber um eine idealisierte Version des Lebens der anderen, bei der geschaut wird, was diesen leicht von der Hand geht, oder was sie für Privilegien haben, während man die Arbeit, die Pflichten und Mühen, die daran hängen, gerne ausblendet. Die Sahneteilchen hätte man gerne, aber die stete Übung, Disziplin oder das strenge Protokoll, einer Königin oder eines Filmschauspielers, Popstars oder einer sonstigen Berühmtheit dann doch lieber nicht. Dabei geht es gerade auch bei den Schwachen darum, am Ball zu bleiben, aus dem Strohfeuer der nächsten tollen Idee etwas Dauerhafteres zu machen, auch wenn es langweilig und entsetzlich durchschnittlich ist. Man will können, was die anderen können, aber nicht sein, wie die anderen sind, die das können. Hier kommt der manchmal überhebliche Zug der Ich-Schwachen ans Licht. Wer seinen Wunsch nach Aufmerksamkeit offen einfordern kann, der steht wenigstens dazu und braucht nicht herumzudrucksen. Aber am normalen Leben teilzunehmen und die eigenen Bedürfnisse offen einzufordern, ist für die Schwachen anfangs eine Welt, jenseits ihres Vorstellungsvermögens.
Der Weg der Starken
Offensiv etwas zu fordern ist für die starke Fraktion der Ich-Schwachen überhaupt kein Problem. Sie empfinden es eher als Zumutung, dass sie ihre Wünsche auch noch aussprechen müssen, wo doch das achtsame Umfeld längst wissen könnte, was das Genie jetzt braucht. So muss man sich herablassen und, oft ungeduldig und gereizt, sagen was man will. Was die Starken lernen müssen, ist das Scheitern. Ein Horror für sie, denn scheitern, tun nur die Schwachen und die Starken entwerten und verachten Schwäche. Da kommen sie nur raus, wenn sie sich selber mal als schwach und hilfebedürftig erleben und das tatsächlich bewusst konfrontieren können. Oft genug gibt es tatsächlich Bereiche, in denen sie schwach sind und dilettantisch agieren, aber dafür haben sie ihren Hofstaat. Der macht und tut und regelt das Leben (und vertuscht Fehler und Unvollkommenheit oder beseitigt die Scherben, die der Elefant im Porzellanladen angerichtet hat), ohne dass unser Genie mit Alltäglichkeiten belastet wird. Denn alle wissen, unser Held ist zu Höherem berufen und wenn es gerade jetzt bei ihm mal nicht läuft, dann nur, weil irgendein Trottel seine wahren Fähigkeit und Talente nicht erkennt oder aus Neid die Karriere behindert.
Manchmal gelingt ihnen aber tatsächlich der berufliche oder gesellschaftliche Aufstieg, der ihnen so wichtig ist. Sie ersparen sich die Erfahrung des Scheiterns dann natürlich erst recht und oft ist es tatsächlich so, dass man selbst Schiffbruch erleiden muss, um ansprechbar zu werden. Wenn einfach nichts mehr wie am Schnürchen läuft, dann hört man eventuell auf Rat und Hilfe.
- Kein Mensch hat nur Stärken
Klar, weiß jeder, sollte man meinen. Die Starken unter den Ich-Schwachen sind allerdings anderer Meinung und das ganz ernsthaft. Ihr grandioses Selbstbild gibt ihnen das Gefühl, dass sie tatsächlich so ziemlich alles besser wissen und können, würden sie sich nur Mühe geben. Das tun sie oft nicht, weil ihre Strategie schon immer darin bestand, die Gebiete, in denen sie sich Mühe geben müssten zu meiden und zu entwerten – Wozu braucht man den Mist? – und ihre Talente auszubauen und zu betonen. Daher kommt es oft zu schroffen Asymmetrien, tatsächliche gute Leistungen (Spitzenleistungen vielleicht seltener, als man denkt) in einigen Gebieten, im Kontrast zu einer Ungeschicklichkeit in anderen Gebieten, manchmal bis zu einer ausgeprägten Lebensunfähigkeit. Aber, so ist ihre Überzeugung, würden sie sich anstrengen, wären sie auch auf anderen Gebieten die Besten.
Die Starken neigen oft dazu, einmal im Jahr der Welt zu beweisen, dass sie im Zweifel auch diesen banalen Quatsch viel besser als der Rest der Welt auf die Kette kriegen. Dann polieren an sich unordentliche Menschen alles auf Hochglanz oder machen drei Tage Dinge, die jemand von ihnen, nervtötenderweise, verlangt hat, um dann gezeigt zu haben, dass man es kann und zu signalisieren, dass man es, weil man es ja kann, zukünftig nicht mehr machen wird. Dafür hat man Dienstmägde und Laufburschen, die stumme Botschaft ist: „Ich schaffe den unwichtigen Kram spielend, du/ihr aber nicht die wirklich wichtigen Sachen.“ Und wirklich wichtig ist zufälligerweise genau das, worin der Starke gut ist. Das wird idealisiert, der ganze Rest entwertet. Gefordert wäre jedoch Teamfähigkeit und wechselseitige echte Anerkennung. Zu sehen, dass das, was der andere macht auch wichtig ist und kein lustiger Zeitvertreib. Das merkt man aber nur dann, wenn man es nicht einmal im Jahr, sondern wöchentlich oder gar täglich machen muss, eine Erfahrung, vor der die Starken sich drücken. Aber es geht auf dem Weg zur Ich-Stärke nicht um eine einmalige Spitzenleitungen, sondern um Solidität und Verlässlichkeit.
Sie sind in Wahrheit unzuverlässig und ausbeuterisch und finden das völlig in Ordnung, weil der Durchschnitt aus ihrer Sicht nur minderbegabt ist und bleibt, eine arrogante, aber ernst gemeinte Pose. Hier ist das Übungsfeld für die Starken, im vermeintlich Unwichtigen. Der Vorteil ist: Wenn man hier scheitert, ist es nicht so schlimm. Und wenn man sich bewährt, kann und muss man das Ganze noch mal machen und noch mal und immer wieder. Dann drei weitere unwichtige Aufgaben, bis man begreift, um was es geht. Oft genug um das normale Leben. Es bringt die Starken schneller an ihre Grenzen, als sie selbst glauben, doch wirklich wichtig ist die Erfahrung danach: Es geht nicht darum sie zu düpieren, sondern ihnen zu zeigen, wie kompliziert die Normalität, bei tagtäglicher Konfrontation eigentlich ist. Die Einsicht, die hier folgen könnte, wird die ersten 20 bis 500 mal nicht von Dauer sein, aber es ist gut zu vermitteln, dass es tatsächlich darum geht, lebenslänglich eingespannt zu sein. Das klingt nicht nur wie Haft, es fühlt sich für die Starken auch so an, aber auf dem Weg zur Ich-Stärke ist Verlässlichkeit wichtig und unvermeidbar.