Das erste Ziel: Konventionalität und Normalität

Der normale Einkauf kann eine schwere Hürde darstellen. © Carsten Bach under cc
Gleich wie die eigenen Lebensziele sind, hilft es zu wissen, dass man von weiten Teilen der Gesellschaft einzig anhand einiger Eckdaten abgerastert wird. Das geschieht nicht, weil die Menschen oberflächlich oder boshaft wären, sondern es sind einfach die ersten Orientierungspunkte.
Einer davon ist, ob es einem gelingt, quasi unauffällig am Alltag teilzunehmen. Wer normal ist, wird nicht groß wahrgenommen und das ist je nach Disposition ein Segen oder ein Affront. Für viele Menschen mit Ich-Schwäche ist es kaum zu ertragen, wenn sie nicht in Erinnerung bleiben. Irgendwie besonders müssen sie erscheinen, oft nett und zuvorkommend, manchmal mit dem selbstverständlichen Gefühl ausgestattet, dass sich alles nur um sie zu drehen hat, egal wo sie sind. Und wieder eignen sich bestimmte Schwächen erschreckend oder verlockend gut, um genau das zu erreichen: indem man durch ein manchmal theatralisches Auftreten (oder subtile Drohungen, was alles passieren könnte, wenn …) signalisiert, dass die Welt Rücksicht zu nehmen hat.
Nicht mehr um jeden bewussten oder unbewussten Preis auffallen zu müssen, ist daher ebenfalls ein Zeichen von einsetzender Ich-Stärke. So paradox es klingt: Je unauffälliger man am normalen Leben teilnehmen kann, um so stärker ist man. Das heißt: weniger Extrawürste, weniger Beachtung, aber wenn man diese in der Vergangenheit dringend brauchte, braucht man sie auch jetzt noch und muss lernen offensiver Beachtung zu fordern. Man brauchte sie aus zwei Gründen:
Entweder, weil man in der Vergangenheit zu wenig davon bekam, etwa von Eltern, die keine Zeit für ihre Kinder hatten oder ihnen, aus welchen Gründen auch immer, keine Beachtung und Anerkennung schenken konnten. Dabei wollen Kinder gar nicht die ganze Zeit beachtet werden, sondern das Gefühl haben, dass wenn mal etwas ist, die Eltern auch verlässlich da sind und dann zuverlässig zuhören oder helfen. Das ist auch oft genug der Fall, aber nicht alle Eltern sind dazu in der Lage. Kinder solcher Eltern, müssen um Aufmerksamkeit und Anerkennung kämpfen und ein Weg ist, sehr begabt zu sein, ein anderer ist, krank, schwach und hilflos zu sein. Oft ausgerichtet nach dem, auf was die Eltern eher reagieren.
Der andere Typus ist mit Lob überschüttet worden und strotzt nur so vor Selbstbewusstsein, letzten Endes ist es aber ein unrealistisches und aufgeblasenes Selbstbewusstsein, was man daran sieht, dass diese Menschen später extrem dünnhäutig reagieren, wenn sie mit Kritik konfrontiert werden. Ob nun die Großartigkeit der ’starken‘ Ich-Schwachen tatsächliche Stärke oder nur Kompensation ist, wird neuerdings wieder kontrovers diskutiert. Wir werden dem gesondert nachgehen. Was es aber in jedem Fall gibt, sind die beiden polaren Erscheinungsformen der Ich-Schwäche (und auch sie bilden nur die Eckpunkte eines fließenden Übergangs ab): eine Ausprägung, die schwach und eine, die stark erscheint.
Die erste Weggabelung
Normalität ist das Ziel für beide, die Starken und die Schwachen, aber wenn ihnen dies irgendwann einmal klar ist – intellektuell ist das kein Problem, nur die Begeisterung hält sich auf beiden Seiten in Grenzen, schließlich ist ein normales Leben, genau das, was man die letzten 20 bis 60 Jahre vermieden hat – und nicht kurze Zeit danach schon wieder verleugnet wird, geht es darum am Ball zu bleiben und das ist in aller Regel nicht die Stärke von Menschen mit Ich-Schwäche.
Dabei sind beide Varianten oft schnell begeisterungsfähig. Bei den Schwachen mag immer mal wieder ein Phase von Angst und Depressionen eingeschoben sein, aber wenn es darum geht, dass es ein neues Wundermittel oder einen neuen exquisiten Ansatz gibt, nur bitte nichts, was auch alle anderen machen, denn das ist dann doch in der Regel nicht gut genug, dann sind auch sie Feuer und Flamme. Auch wenn es oft nur das bekannte Strohfeuer ist, denn auf so gut wie jede Idealisierung folgt über kurz oder lang, meistens kurz, die Enttäuschung und Entwertung. Was eben noch großartig war, ist dann unten durch und wird in der Regel auch nie wieder erwähnt.
Dieses rasch lodernde Feuer muss umgewandelt werden und eine dauerhafte kleine Flamme oder wärmende Glut. Man muss raus aus dem Wechsel von schnell lodernder Flamme und schwarzer Kälte, in der alles verbrannt ist. So ist es auch mit der Aufmersamkeit. Ich-schwache Menschen brauchen Aufmerksamkeit, das ist ihnen oft nicht klar. Die Starken wollen weiterhin gelobt werden, sind aber zugleich neidisch auf diejenigen, die sie loben, weil sie selbst nicht loben können. Sie müssen deshalb das Lob entwerten und damit wärmt es auch nicht mehr. Wird zum Urteil von Minderbegabten, die sowieso keine Ahnung haben. Und so muss neue Aufmerksamkeit her, von anderen, die erneut entwertet werden, ein ewiger Teufelskreis.
Die Schwachen sind nicht besser dran. Sie wissen allenfalls, dass sie ein schützendes Umfeld brauchen, was ihnen oft betont leid tut, so dass sie sich 1000 mal entschuldigen, auch für Dinge, für die es keiner Entschuldigung bedarf und gerade diese Übertreibung lässt ihre Dankbarkeit und Entschuldigung so unecht erscheinen, wie sie oft ist. Die eigene Schwäche ist keinesfalls immer unattraktiv und bindet oft einen Kreis von Helfern emotional. Dann und wann braucht man einen emotionalen Großbrand, der unterstreicht, dass die Lage noch immer sehr ernst und am besten lebensbedrohlich ist. Da es Helfer gibt, die sich von ich-schwachen Menschen besonders angezogen fühlen, haben manchmal beide Seiten kein Interesse daran, dass demjenigen, der Hilfe braucht auch dauerhaft geholfen wird, denn das gefährdet unter Umständen die Beziehung.