Über die beiden theoretischen Seiten der Normalität, als Ideal und Durchschnitt, bis zur Pathologie, haben wir bereits in Normalität geschrieben; hier soll es um die praktische und gesellschaftliche Seite derselben gehen und die erstaunliche Macht der Normalität und ihrer diversen Wirkungen, die sie entfalten kann. Die vielfältigen Veränderungen, gerade auch mit dem Blick auf das, was normal ist, verlangen geradezu danach das Thema noch einmal aus dieser Perspektive zu betrachten.
Der gewöhnliche Umgang mit den Dingen im Alltag
Was wir über die Dinge der Welt und unsere Mitmenschen sagen, ist die eine Sache, doch unser praktischer Umgang mit ihnen lässt oft viel tiefer blicken, ist unmittelbarer, ohne Worte. Wie wir mit den Dingen und Menschen unserer Umgebung umgehen, offenbart sich hier. Wie wir uns öffentlich verhalten und wie wir es privat tun, ob unsere Rede zu unserer Handlung passt und dergleichen, all das sieht man auch daran, wie wir im Alltag agieren.
Unsere Kinder sehen diese Art des Umgangs noch bevor sie verstehen, was wir sagen. Auch wenn sie den Inhalt nicht dem Wort nach begreifen, so spüren sie doch die Stimmungen der handelnden Mensch, auch die zwischen ihnen. Wie liebevoll oder gereizt die Eltern miteinander umgehen, wie emotional lebendig oder reduziert sie es tun, wie man in dieser Familie mit Tieren umgeht, mit Nachbarn, dem Smartphone, dem Essen, wie viel Zeit man miteinander verbringt und auf welche Art, das lernen Kinder ganz unmittelbar. Das ist erst mal ihre Normalität, die, in der sie groß werden. Diese Normalität ist auch ganz ohne Worte normierend, das heißt ein Vorbild dafür, wie man mit den Dingen und Menschen der Welt umgeht. Daraus erklärt sich auch schon ein guter Teil der Macht der Normalität, denn durch die immer wiederkehrenden Arten und Weisen des Umgangs, des normalen Umgangs lernen Kindern ganz selbstverständlich, wie man etwas macht, wie man mit Menschen und Dingen umgeht, was wichtig ist und was nicht, auch dann, wenn sie zusätzlich die Worte dessen, was gesagt wird, was erlaubt was verboten ist, verstehen.
Typischerweise lernen Kinder auch ohne Worte erst Verbote, dann Gebote und später den realistischen Ausgleich zwischen beiden, in Das Gewissen führten wir das näher aus.
So macht man das
Dass man es so wie zu Hause eben nur ‚bei uns‘ macht und es durchaus anderswo auch anders gemacht wird, ist den Kindern nicht bewusst, da sie keine Vergleichsmöglichkeiten haben, jedenfalls in klassischen Formen der Familie, die sich heute jedoch immer mehr verändern.
Kinder lernen jedoch in vielen Fällen noch, wie man etwas macht und für sie bedeutet etwas ’so‘ zu machen, die Art und Weise zu kennen, wie es richtig gemacht wird, nämlich genauso, wie man es von zu Hause kennt. Wer es anders macht, macht es eben falsch, so ihre frühe Überzeugung. Gewohnheiten und Richtigkeit sind hier miteinander verschmolzen. Doch auch die Familie lebt nicht kontextfrei, das heißt, sie lebt in einem soziokulturellen und gesellschaftlichen Umfeld, das auf seine Art ebenso sanft oder streng diktiert, wie die Dinge gemacht werden und gleich ob die Eltern es gut finden oder ablehnen, sie müssen sich zu diesem Umfeld verhalten, das die Kinder auf diese Art doch kennen lernen.
Wie man von sich fortbewegt, kleidet, spricht, sich in der Öffentlichkeit verhält, wen man anerkennt und wen nicht, vieles davon ist still geregelt, einfach weil alle es so machen. Und weil es alle so machen und es entsprechende Alternativen nicht gibt, erscheint das Normale auch so oft, als das Richtige. Es scheint intuitiv vernünftig es so zu machen, wie es alle tun, auch darin beruht ein Teil der Macht der Normalität. Das andere erscheint umständlicher, das dies manchmal nur daran liegt, dass es nicht mehr Menschen auch machen, wird ausgeblendet.
Die andere Seite der Geschichte ist die Vorgabe, was man nicht macht, weil man es nicht tun sollte oder darf. Für viele eine Angelegenheit von Pi mal Daumen, der Straßenverkehr ist nur deshalb möglich, weil die Menschen die Regeln kennen, sie zum größten Teil beherzigen, aber in Ausnahmesituationen eben auch brechen. Vor der roten Ampel wird gehalten, aber wenn die Ampel nicht wieder grün wird, fährt man irgendwann, vorsichtig zwar, aber trotzdem weiter. Durchgezogene Linien dürfen nicht überfahren werden, wenn ein unerwartetes Hindernis auf der Straße ist, macht man es dennoch, andernfalls würde der ganze Verkehr der Region zusammen brechen.
Doch neben dem, wofür man kritisiert wird, wenn man es tut und dem, was per Gesetz verboten ist, gibt es eine weitere Stufe der sozialen Eskalation, die Tabus. Tabus sind meistens nicht das, was dafür gehalten wird und ‚was man ja wohl nach sagen dürfen‘ kann, sondern Tabus sind oft jene Themen die still ausgeklammert werden, so als würden sie überhaupt nicht existieren. Tabus werden berührt, wenn das Gespräch verstummt oder man noch nicht mal auf die Idee käme, darüber öffentlich zu reden. Oft aus schamhaft besetzten Bereichen, die symbolisch oder konkret mit Aggression, Schmutz und/oder Sexualität zu tun haben.
‚Das tut man nicht‘ ist eine knappe Form, etwas oberhalb des Tabus. Man weiß, worum es geht, ist aber mit dem Thema schnell fertig, das heißt, im Grund nicht bereit es länger zu diskutieren. Dafür brauchte es keine weitere Begründung, das Verbot ist seine eigene Begründung. Das kann man unbefriedigend finden, gleichzeitig und ausformulierter markiert es die Grenzen dessen, wie wir zusammenleben wollen, auch wenn diese Grenzen ständig verschoben werden. Was vor Jahrzehnten die Homosexualität war, ist demnächst vielleicht die Flugreise. Wenn es auch nicht explizit gemacht wird oder nicht jeder offen darum weiß, so weiß man doch, durch die Reaktion der anderen, dass man sich einem Grenzbereich annähert. Die Bemerkungen werden knapper, spitzer, die Stimmung verändert sich. Die Macht der Normalität liegt auch darin, dass sie sich selbst begründet und das dies eine Art Strudel erzeugt. War man eben noch dagegen oder stand einem Thema indifferent gegenüber so kann es gut sein, dass man, wenn ein Thema läuft und Konjunktur hat, seine eigene Haltung dazu scnhrittweise umformuliert, so dass es am Ende so aussieht, als sei man immer schon dafür gewesen. Erstaunlicherweise glaubt man das oft selbst, je gravierender das Thema erscheint, umso mehr. Denn angepasst zu sein, ist stressfreier, als gegen den Strom zu schwimmen.