Die Unfähigkeit zu verdrängen

Häuser in karger Landschaft, schwarzweiß

Die ich-schwache Welt ist oft schwarz und weiß, aber doch auch von eigener, einsamer Schönheit © Martin Brigden under cc

Menschen mit einem Ich auf normaler oder neurotischer Organisationsebene haben auch mit Situationen zu kämpfen, die sie mitunter belasten, stehen vor Situationen, in denen sie sich bewähren müssen, bei denen es auf sie ankommt, sei es vor dem Traualtar, oder wenn sie das erste Mal alleine in einem Geschäft sind, eine Führerscheinprüfung ablegen oder sonst etwas.

Bei belastenden Ereignissen ist es normalerweise so, dass jeder kurze Zeit vorher, vielleicht sogar in Episoden, wenn man dran denkt und das Ereignis näher rückt, ein paar Tage davor, nervös wird. Doch für den Rest der Zeit, die Wochen davor, ist das Ereignis erst mal nicht relevant, denn das normale Leben geht ja weiter und will bewältigt werden. Schule, Beruf, Alltag, Familie, all das braucht Zeit und Aufmerksamkeit. Nicht so bei Menschen mit Ich-Schwäche. Sie haben im Alltag schon oft größte Probleme und sind in gar nicht so wenigen Fällen kaum in den Lage an diesem teilzunehmen. Mal eben einkaufen zu gehen, ist etwas, was zu den unüberwindbaren Hürden zählen kann. Weil man das Geschäft nicht sofort wieder verlassen kann, ohne größten Aufwand. Weil man es nicht tolerieren kann, an der Kasse zu warten, da man umfallen könnte. Weil man Angst hat, man könnte etwas falsches kaufen und jemanden vergiften.

Und vor allem: Man kann nicht verdrängen. Das belastende Ereignis in einem halben Jahr, es ist nie weg, flackert immer wieder auf, mitsamt den katastrophierenden Ideen, dass das Ende spätestens dann sicher kommen wird. Nicht als Möglichkeit oder gar augenzwinkernder Spaß, sondern als Gewissheit, dass man das unmöglich überleben kann. Eine entsetzliche innere Qual, die immer wieder hochgespült wird und gegen die man sich nicht wehren kann. Ablenkung verspricht manchmal Linderung, aber da der Alltag reduziert ist, weil vieles von dem, was normal ist, für Menschen mit Ich-Schwäche schlicht ausfällt, haben sie oft besonders viel Zeit, über ihre Situation nachzudenken. Beides hängt hier zusammen und verstärkt sich oft noch.

Und überhaupt ist „Es“ nie weg. Nie. Alle Ereignisse des Alltags sind in ein trübes Grau gehüllt, jede Freude gedämpft, weiß man doch, das Ende steht bevor. Das mögen andere als absurd empfinden, Menschen mit Ich-Schwäche haben genau dieses quälende Empfinden, ein Mühlstein hängt um ihren Hals und auch wenn sie wissen, wie sie sich jetzt eigentlich fühlen müssten … dankbar, glücklich, abgelenkt … in ihrer Welt läuft das bevorstehende Ende immer schon mit, steht die Katastrophe unmittelbar bevor. Es ist wirklich schwer sich vorzustellen, in welchem Ausmaß diese Menschen leiden, was ihren gefühlten Besonderheitsstatus noch vergrößert.

Die (scheinbar) starke Variante der Ich-Schwäche

Da es, wie man sich vorstellen kann, kein schönes Gefühl ist, jeden Tag vor der wichtigsten Prüfung im Leben oder der Hinrichtung zu stehen, hat die Psyche Schutzmechanismen eingerichtet. Einer des effektivsten ist ein grandioses Selbst zu installieren. Das ist keine bewusste Entscheidung, die man irgendwann fällt, weil das Leben so schwer ist, sondern ein Notprogramm der Psyche, das automatisch anspringt und zunächst sehr erfolgreich ist.

Was passiert ist, dass die Psyche gespalten wird. Das ist keine Schizophrenie, die man auch Bewusstseinsspaltung nennt, sondern ein Schnitt, der zwischen Gefühlen und Denken verläuft und der insbesondere die schwachen Anteile einfach abspaltet. Da man auch das nicht macht, sondern es einfach passiert, so wie die Haare wachsen oder die Haut an der Sonne braun wird, fühlt sich das auch nicht nach „ich spalte da mal was ab“ an, sondern auf einmal fühlt man sich gar nicht mehr schwach, unterlegen, ausgeliefert, sondern stark und grandios, wie ein Sieger. Und wenn man noch keiner ist, hat man doch das Gefühl, einer zu sein.

Es kann gut sein, dass die äußere Situation noch gar nicht grandios aussieht, sondern, dass man mit dem realen Leben durchaus weiter seine Probleme hat, in Fällen von stärkerer Ich-Schwäche ist das sogar zu erwarten und der Regelfall. Denn, wenn ich mich über Nacht toll und wichtig finde, muss das den Leuten in meiner Umgebung ja nicht auch so gehen. Damit die grandiose Fassade aufrecht erhalten werden kann, muss auch die Spaltung aufrecht erhalten werden und das bedeutet immer Arbeit.

Man arbeitet sich immer mehr in Phantasiewelten hinein, die nicht wahnsinnig sind, sondern das was man wahrnimmt, wie andere auch, wird etwas eigenwillig interpretiert. Wenn andere mich gar nicht so toll finden, dann ist das deshalb so, weil sie vielleicht neidisch sind, weil sie Angst vor meiner Überlegenheit haben oder, eine beliebte Variante, weil sie zu dumm und einfältig sind die wahren Qualitäten eines Menschen zu erkennen.

Mich hat stets die angebliche Oberflächlichkeit fasziniert, die Narzissten zugeschrieben wird, eine Beobachtung, die differenziert werden muss. Narzissten verabscheuen Oberflächlichkeit und haben oft sogar einen starken Drang den Dingen auf den Grund zu gehen und sich in bestimmte Gebiete exzessiv einzuarbeiten. Sie können ein tiefes Wissen erlangen und geradezu Experten werden, aber oft in nur wenigen Teilgebieten. Sie neigen dann dazu immer wieder alle Probleme der Welt auf diese Aspekte zu reduzieren und können schwer eine andere Perspektive einnehmen, aber in ihrem Gebiet sind sie oft kenntnisreich.

Ihr oft selbstsicheres Auftreten und ihre nicht selten großen Kenntnisse in Teilbereichen des Lebens geben ihnen eine manchmal charismatische Aura. Hier ist jemand, der weiß, wo es lang geht und das im Zweifel auch durchsetzt, denn mit einer grandiosen Einstellung kann man tatsächlich durchsetzungsstark sein.

Die Einsprüche der Umgebung, die es durchaus gibt, werden natürlich als störend empfunden, aber gewöhnlich routiniert abgebürstet. Die anderen sind eben Spinner, die keine Ahnung haben, man selbst hat Ahnung im Überfluss, das war‘s. Also ist Widerspruch auf der Ebene der Minderbegabten nichts, was tiefer irritiert, eher ist es so, dass der grandiose Mensch das Gefühl hat, den nicht so Schlauen mit Nachsicht und Geduld zu begegnen.

Dass es andere Menschen gibt, die auf ganz anderen Gebieten durchaus auch erfolgreich sind irritiert den routiniert grandiosen Menschen irgendwann auch nicht mehr, da er sein Spezialgebiet – oder auch zwei, drei Gebiete, die er gewöhnlich gut oder sehr gut beherrscht – als die Gebiete schlechthin ansieht, um die es im Leben geht. Mag das Gebiet noch so ausgefallen und die Kombination noch so exotisch sein, wenn ein grandioser Mensch Stabhochsprung beherrscht und alle Teesorten der Welt kennt, kann er der Welt plausibel machen, warum dies die genialste Kombination überhaupt ist und warum die Kombination Sprinten und Geschichtskenntnisse überhaupt nichts wert ist.

Die Entwertung anderer Menschen

Entwertung ist die andere Seite der grandiosen Medaille. Damit man selbst großartig ist, muss man andere klein machen. Oft passiert das nicht durch explizite Angriffe und Schimpftiraden, auch die gibt es, häufiger aber durch kühle und scheinbar subtile Entwertung.

Grandiose Menschen haben einen starken Sensor für die Schwächen anderer, nur hassen sie Schwächen in aller Regel. Schwächen kennen sie selbst zur Genüge, eine unbewusste Erinnerung, ein emotionales Band ist durchaus da, nur wollen sie daran nicht erinnert werden. Schwächen irritieren. Noch mehr irritiert aber Kritik von (den wenigen) Menschen, die von ihnen ernst genommen oder sogar idealisiert werden. In diesen Fällen bricht die grandiose Fassade für einen Moment (oder längere Zeit) zusammen und der eben so großartige Mensch wirklich schwer verstört, wie ein kleines Kind.

Er muss nun die Welt wieder neu ordnen und zwar in der Weise, dass der eben noch Verehrte in den Mülleimer gepackt wird, etwa in dem man sagt, man habe ihn immer für einen großartigen Menschen gehalten, aber auch hier muss man eben genauer hinschauen und er hat sich als Blender erwiesen. Ist die Idealisierung groß gewesen, kann der Betreffende jedoch für lange Zeit tief verunsichert sein und da schimmert sie dann wieder durch, die Ich-Schwäche, die auch bei leiser Kritik zum Vorschein kommen kann.