Es ist Krieg in Europa. Anders als der Krieg im ehemaligen Jugoslawien einer, dessen Eskalationspotential uns allen Sorgen machen muss.
Im Krieg ist die Wahrheit das erste Opfer, heißt es und so gehören psychologische Kriegsführung, Desinformation und Propaganda zu diesem schrecklichen Schauspiel. Das heißt ganz praktisch, dass es eine Vielzahl konkurrierender Deutungen und Erzählungen gibt, die in sich nachvollziehbar sein können und verschiedene Menschen oft an dem Punkt abholen, an dem sie sich bestätigt fühlen. Damit man im Chaos wenigstens die Orientierung nicht verliert.
Dass die vermeintlichen Fakten alles klären, diesen Glauben musste man spätestens im Zuge der Corona-Pandemie nachbessern, denn alle möglichen Seiten haben auch hier alle möglichen Erzählungen anzubieten und die schlichte Gegenüberstellung von Fakten und Fakes ist eine etwas einseitige Sicht. Denn was wirklich passiert ist, ist zum überwiegenden Teil erst in der Rekonstruktion erkennbar, wir haben mitunter drastische Meinungsänderungen in der Pandemie erlebt.
Einfache Deutungen greifen oft zu kurz
Krieg ist immer die Stunde der einfachen Deutungen und einfachen Feinbilder. Gut gegen Böse, so lautet das Spiel, in besseren Zeiten wissen wir um die Ambivalenz dieser beiden Pole und ihrer Existenz in uns allen. So wird an vielen Deutungen etwas dran sein und sie alle werden gleichzeitig lückenhaft sein. Nicht, weil wir nicht alle Fakten kennen, sondern weil es schon von unaufgeregten Ereignissen, wie einer Geburtstagsfeier sehr verschiedene Versionen gibt und bei einer Feier hat niemand ein großes Interesse daran, die Deutungshoheit an sich zu reißen. Im Krieg schon.
Schon bei den Irakkriegen der Vergangenheit gab es eine Vielzahl konkurrierender Erzählungen, die die vermeintlich wahren Gründe entschleiern sollten. Vom Regime Change über Ölgeschäfte, dass George W. Bush seinem Vater etwas beweisen wollte, bis zu Geschäftsbeziehungen einflussreicher US-Eliten zur bin Laden Familie und sehr viel mehr.
Das installieren einfacher Feindbilder ist in Zeiten des Krieges vielfach unvermeidlich, in der Analyse erscheint eine schwarzweiß Sicht aber oftmals unzureichend. Ebenso wie die einfache Umkehr der Feindbilder, der nun statt dem Aggressor des russischen Elitensystems, die NATO, den Westen oder Amerika als den eigentlichen Verursacher ausweisen möchte. Was wäre eine Alternative, wenn man sich an sehr einpolige Deutungsmuster nicht anschließen möchte?
Verstehen, ohne zu billigen
Auch in der Individualpsychologie haben es Psychologen und Psychotherapeuten, die sich auf diese Bereiche spezialisiert haben, immer wieder mit Taten zu tun, die nicht leicht zu verstehen sind, in den Augen des Täters aber einer gewissen Logik folgen. Es ist sinnvoll dieses Denken zu verstehen, woraus nicht folgt, dass man es billigen muss. Denn irgendeine Erklärung wird man immer finden. Aber nicht jede Erklärung ist als Begründung akzeptabel oder ausreichend.
Auch Kriege haben ihre Logik. Fühlt Putin sich von der NATO bedroht, wie es von russischer Seite immer wieder heißt? Die NATO hat sich erweitert, rückt immer näher an Russland heran, beteuert ein reines Verteidigungsbündnis zu sein, aber federführend sind dort die USA. Die Politik der USA war nicht immer Vertrauen erweckend, Regime Change gehört zu ihrem Geschäft, wie auch die Unterstützung zwielichtiger Führer und vorgeschobene Gründe, um einen Krieg zu beginnen bis zu pre-emptiv strikes, Präventivkriegen. Es wäre einseitig, die Augen davor zu verschließen. Wenn Putin nun dasselbe macht, ist das furchtbar, wir bewerten es anders, weil es gefühlt nicht ‚unser Krieg‚ ist. Aber ein Unrecht rechtfertigt kein anderes. Grundsätzlich nicht und in beide Richtungen nicht.
Verstehen kann man auch, dass das mündliche Versprechen über die Zusage, dass die NATO sich nicht ausdehnen werde, vom Westen gebrochen wurde.[1] Soweit es zu recherchieren ist, hat es keinen schriftlichen Vertrag gegeben, aber eine mündliche Zusage, die in Russland hoch im Kurs stand und es bei uns auch sollte. Aber auch dies ist kein Grund souveränen Staaten abzusprechen, für ihr Land selbst zu entscheiden, schon gar nicht mit Gewalt.
Kein Vertrauen in die Aufrichtigkeit
Es ist bitter, wenn diese Option nun von beiden Seiten zerstört wurde. Wer den ersten Stein geworfen hat, ist an irgendeinem Punkt nicht mehr wirklich wichtig, weil die Deutungen so weit abweichen, dass hier nichts mehr zu klären ist. Das ist der Moment, an dem man schauen muss, wo man hin will. Damit irgendwann wieder Ruhe einkehrt, bedarf es dazu Menschen, die sich in die Augen schauen, die Hand reichen und einander vertrauen. Menschen können das, haben es immer gekonnt, es gibt keinen prinzipiellen Grund daran zu zweifeln. Natürlich sind Menschen auch aggressiv, sind es immer gewesen und werden es immer sein können. Das alte Spiel, Liebe und Aggression sind in jedem von uns.
Im Moment ist das Vertrauen verspielt, vieles liegt in Scherben. Die Lesarten, die besagen, dass der Mensch des Menschen Wolf ist, gewinnen die Oberhand. Man darf sich nicht daran gewöhnen, weil es ganz einfach einseitig ist. Täglich sehen wir überall auf der Welt, dass Menschen einander vertrauen. Es ist ein echtes Problem von Staaten, dass sie als große, anonyme Gebilde die oft Massen hinter sich vereinen nicht auf die Ebene kommen, wo im anderen der Mensch gesehen wird. Denn Staaten sind keine Menschen, sie kommen nie über den kühlen Utilitarismus hinaus, ein Systemdenken des wechselseitigen Nutzens. Freundschaft ist das gerade nicht, weil Freundschaft mehr ist, als im anderen den Nützling zu sehen, Freundschaft geht weiter und hält auch dann, wenn der andere einem nicht mehr nützt. Einfach weil man befreundet ist. Staatsführer können die Ebene des reinen Nutzens überwinden, wenn sie gut miteinander können, aber das ist nicht immer der Fall.
Die Lesart, dass ohnehin niemandem zu trauen ist, ist gefährlich, sie ist sachlich falsch und psychologisch paranoid, allerdings darf das Zutrauen auch nicht zu blauäugig sein. Es ist nicht immer alles eitel Sonnenschein. Aggression ist eine reale Größe des zwischenmenschlichen Umgangs, Kooperation allerdings auch. Der Mensch ist nicht von Grund auf gut und auch nicht immer bestrebt, dem anderen zu helfen. In der praktischen Begegnung ist es dennoch eine gute Strategie, dem anderen erst einmal grundsätzlich zu vertrauen, aber beim Beweis des Gegenteils Konsequenzen zu ziehen. So kann Vertrauen (re)aktiviert werden. Führer von Staaten sind in einer Zwischenposition, da sie einerseits den Staat repräsentieren und gelobt haben, ihn zu schützen, auf der anderen Seite, anderen Staatenführern als Mitmensch begegnen. Einmal systemische Anforderungen, ein anderes Mal zwischenmenschliche.
Ein Krieg kann Vertrauen jedoch für lange Zeit zerstören und auch kollektive Traumata wirken nach, oft noch Generationen später. Auch wenn Staaten funktionale Gebilde sind, die Identifikation des einzelnen Menschen mit seiner Nation kann sehr emotional sein. Sie sind ein Teil der Identifikationen, die man eingehen kann und, wenn sie nicht um Übermaß vorhanden ist, eher hilfreich, als problematisch.
Merkwürdige Freude
Der Krieg in Europa löst Bestürzung und Entsetzen aus, zuweilen auch Wut und Hass. Doch bei einigen findet man eine kaum verhohlene Freude, sei es beim ehemaligen US-Präsidenten Trump, dem nachgesagt wird Putin zu bewundern, aber auch bei manchen anderen hat man das Gefühl, dass die Empfindung, dass jetzt mal wieder Schluss mit lustig ist, sie seltsam befriedigt.
Wir urteilen immer mehr entlang politisch vorgestanzter Linien, wie die Marionetten, die wir alle nicht sein wollen. Auf beiden Seiten, für oder gegen die man sich angeblich entscheiden muss. Muss man das? Sich in Schablonen pressen lassen? Gibt es nur Wahl zwischen der Fraktion der ächten Männer (und ihrer devoten Weibchen), für die law and order, Grillfleisch, Auto und Atomkraft Programm sind und die sich auf die Wiederwahl Trumps freuen oder der feinsinnigen Kosmopolit*innen, die sich über den heimlichen Rassismus in Brettspielen und Mathematik austauschen, überall Sexismus finden (der immer nur in eine Richtung gehen kann), bio und beim Türken kaufen und für die jede Art von Queerness das Normalste der Welt ist?
Jeder soll leben, wie er will, dann sind wir im Paradies. Wirklich? Angesichts der weit gespreizten Entwicklung der Weltbilder nicht nur zwischen den Nationen, sondern innerhalb einer Gesellschaft, ist eine reine laissez faire Haltung etwas, was man sich nicht so wirklich gut vorstellen kann und wenn sich das in Toleranz umbenannte Desinteresse, dann auch auf jene richtet, die es ihrerseits mit Toleranz gegenüber anderen nicht so haben, wird es schwierig.
Man hat längst erkannt, dass hier etwas nicht stimmt, aber aus dem Fehler ein Programm gemacht und nicht nur Desinteresse als Toleranz aufgehübscht, sondern auch aus Moralismus Moral gemacht. Denn schon die Prolls im eigenen Land findet man im Grunde abstoßend: Weiß, arm, nationalistisch? Igitt. Dazu noch männlich und christlich. Noch schlimmer. Da ist die Toleranz dann schon am Ende, die sonst immer so lautstark eingefordert wird, diese Gruppe möge bitte schweigen.
Doch es ist nicht ganz so simpel. Neben den Menschen, die bei uns einfach übergangen und vergessen werden, weil sie keine Lobby haben und auch keine guten Opfer darstellen, sich aber immer wieder anhören müssen, sie seien privilegiert, gibt es eine Clique neokonservativer Akademiker, die ebenfalls der Meinung sind, dass irgendwas nicht richtig läuft. Bei uns sind sie noch nicht sonderlich einflussreich, in den USA schon. Zu ihnen gesellt sich teilweise eine weitere Gruppe, die nicht in ein simples Politlager einzuordnen sind, auch wenn man es so gerne hätte: Jene komische Mischung aus Esoterikern, Heilpraktikern, Anthroposophen, Homöopathen, Vollwertköstlern, ‚Impskeptikern‘ und alternativ Gesundheitsorientierten, die über die stete Wiederholung der Begriffe ‚unwissenschaftlich‘ und ‚rechtsextrem‘ im Kontext mit den genannten Gruppen in ein bekanntes Schema gepresst werden sollen.[2] Was das alles mit dem Krieg in Europa zu tun hat? Durchaus eine Menge. Denn hier kämpfen nicht nur Staaten, sondern auch Sichtweisen.