
Nicht nur bei Freud geht es immer um das Eine. © giulio nepi under cc
Die Ersatzbefriedigung gilt zum einen als ein weiterer Abwehrmechanismus in der Psychoanalyse, zum anderen ist darin eine Behauptung über die Triebe des Menschen und betrifft uns somit alle.
Die Ersatzbefriedigung ist ja schon dem Namen nach ein Ersatz für einen Wunsch, den man eigentlich gehabt hätte. Aus irgendwelchen Gründen kann man den eigentlichen Wunsch aber nicht erreichen. Vielleicht reichen die eigenen Möglichkeiten nicht aus. Man wollte vielleicht diesen oder jenen Beruf ergreifen, aber es hat mit dem Studium nicht geklappt. Vielleicht möchte man gerne eine bezaubernd hübsche Frau zur Partnerin haben, aber die eigene Attraktivität ist nicht hinreichend. Das ist vorstellbar, aber im Grunde alles noch kein Grund, für eine psychoanalytischen Tiefenbohrung.
Der Triebwunsch und seine Befriedigung
Die Ersatzbefriedigung stellt ein komplexes Geschehen dar. Wenn ein Mensch einem Trieb oder Drang folgt, baut sich, der Theorie gemäß, eine Spannung in ihm auf. Hat er sein Ziel erreicht und konnte er den Triebwunsch befriedigen, kommt es zur Entspannung. Die Spannung kann eine sexuelle sein oder aggressive, es kann sich um Trauer handeln oder Angst, die zu Kampf oder Flucht führen würde. Folgt einer sexuellen Spannung ein ausgedehnter Beischlaf, ist man am Ende im besten Fall glücklich und entspannt und für einen Moment ganz eins mit dem Partner und der Welt. Auch die gelebte Trauer entlastet.
Es kann aber auch eine kreative Spannung geben. Den Drang ein Buch zu schreiben, eine Sinfonie zu komponieren, seine Wohnung umzugestalten oder sein Auto zu tunen. Das gibt schon Anlass zu allerlei Diskussionen denn der kreativen Spannung wird oft unterstellt nicht die eigentliche Spannung zu sein, also nicht das eigentliche Ziel zu meinen, mithin, es ist schon eine Ersatzbefriedigung. Oder soll zumindest eine sein.
Ein schwieriges Thema, weil auch jemand, der regelmäßigen und erfüllenden Sex hat und seine Aggressionen vielleicht gut abreagieren kann, möglicherweise dennoch andere Wünsche hat. Hier kann man dann wieder spekulieren. Vielleicht ist der Sex nicht gut genug, man hätte es gerne anders, öfter, seltener, heftiger, zärtlicher, experimenteller, mit anderen oder was auch immer. Kann sein, nur werden diese Argumente natürlich niemals enden, dies könnte nur sein, wenn jemand zwischen den Phasen von Beischlaf zu Beischlaf vollkommen bedürfnislos ist, abgesehen von Essen, Trinken und Schlafen. Vielleicht noch ein kurzer ungehemmt geäußerter Ärger, ansonsten hangelt man sich immer wieder entspannend von Orgasmus zu Orgasmus. Es gibt Phasen im Leben, in denen das als Traum für den Rest reichen würde, etwa, wenn man frisch verliebt ist und das Beisammensein mit dem anderen alles ist, was man sich wünscht und braucht.
Es kam mir jedoch schon immer seltsam vor, dass es im Wesentlichen unerfüllte Menschen sein sollen, die Kreativleistungen erbringen, da diese quasi Ausdruck eines übergroßen Triebstaus seien. Wie in einer Talsperre baut sich da Druck auf, den man weder durch das Agieren von Aggressionen oder Sex abbauen kann und darum komponiert man. Womit wir bei der komplizierten Seite des Themas angekommen wären.
Der Ersatz für das eigentliche Bedürfnis
Hat man die Theorie einmal verstanden, leuchtet sie intuitiv ein. Da ist ein Wunsch, den man hat und wenn er nicht erfüllt wird, aus welchem Grund auf immer, ist da ja dennoch Druck im Kessel. Man will ja eigentlich, man kann oder darf nur nicht. Also hat man einen Überschuss an Energie, die sich verströmen will. Vielleicht wird man dann gereizter und streitsüchtiger, obwohl man eigentlich Sex will und man betätigt sich sexuell, obwohl man eigentlich wütend ist.
Der Versöhnungssex nach einem heftigen Streit ist manchen bekannt. Kann man sich aber nicht austoben, wie man es gerne will, bleibt der Energiestau vorhanden und bricht sich auf irgendeine andere Art Bahn. Man putzt die Wohnung, schreibt ein Buch, schraubt am Auto, mäht den Rasen, macht Sport, komponiert eine Sinfonie, malt ein Bild oder dreht einen Film.
Es gibt Biographien, die diese Theorie eindrucksvoll zu bestätigen scheinen. Es ist die verzweifelte große Liebe zu eben diesem einen Menschen, die sich schicksalhaft nie erfüllt, der Trieb ist da, aber er findet sein Ziel nicht. Wer sich nach der einen großen Liebe verzehrt dem nützt der Hinweis, man möge doch eine(n) andere(n) nehmen, es liefen doch genug herum, rein gar nichts. Es muss genau diese(r) eine sein, so will es Eros, der seine Pfeile abschießt, wie es ihm passt. So manche große Kunst hat ganz sicher dieses heiße Sehnen als Quelle.
Aber eben nicht jedes. Denn es gibt andere Biographien, bei der die Erklärung etwas bemüht wirkt. Es gibt bedeutende Kreative, die mit ihrer großen Liebe liiert sind, Menschen, die sich nicht nur künstlerisch sondern auch sexuell reichlich ausagieren und obendrein kein Blatt vor den Mund nehmen und vielleicht kennen manche es auch aus ihrem eigenen Leben, dass gerade in den Phasen glücklicher Zufriedenheit und Entspannung die besten Ideen geboren werden. Wenn man bei einem Thema, einem Lösungsversuch oder einer Ideenfinden nicht mehr weiter kommt, sollte man nicht immer angestrengter Warten oder Grübeln, sondern Spazieren gehen, Sport machen oder Sex, auf jeden Fall etwas ganz anderes, um den Kopf wieder frei zu bekommen.
Es ist die Entspannung, die uns gerade kreativ werden lässt. Freilich muss irgendeine Grundspannung dennoch da sein, denn wenn man einfach nur entspannt ist und vollkommen zufrieden damit, bleibt man einfach im Bett liegen. Oder man setzt sich irgendwo hin und schaut sich, eins mit sich und der Welt, den Frühling an.
Die Frage nach der Eigentlichkeit
Irgendwo dazwischen scheint der Weg also durchzuführen und läuft einigermaßen zwingend auf die Frage nach der Eigentlichkeit hinaus. Das heißt, worum es denn im Leben eigentlich geht. Das Leben lehrt uns, dass wenn man die Aufmerksamkeit, Zuneigung, ja sogar Liebe eines bestimmten Menschen sucht, es eben genau dieser sein muss und kein anderer.
Manchmal wollen wir dann auch mit diesem Menschen Sex haben. Man kann sich mit anderen ablenken, aber es ist nicht dasselbe. Und wie schon gesehen, wieso sollten es immer nur der Sex sein? Gibt es nicht auch noch andere Bedürfnisse? Essen ist der Sex der alten Leute heißt es manchmal. Dabei ist der orale Triebwunsch eigentlich der frühere. Wir kommen auf die Welt und leben nur weiter weil wir trinken können. Das orale Bedürfnis ist es, Dinge aufzunehmen, herein zu lassen. Auch in einem erweiterten Sinne, man will etwas von der Welt wissen, hereinlassen, sich aussetzen, Außen zum Innen machen.
Es gibt aber auch ein lustvoll erlebtes anales Bedürfnis, das mit der Ausscheidung (dem ersten Geschenk an die Welt) einher geht, aber vor allem mit dem Gefühl, die Ausscheidung kontrollieren zu können. Die Natur, läuft sozusagen anfangs noch durch das Kind hindurch, es macht einfach in die Hose, doch irgendwann lernt es, sich, seinen Körper und dessen Funktionen zu beherrschen, macht ins Töpfchen und wird dafür ausgiebig gelobt.
Sich zu kontrollieren und dafür Lob und Anerkennung zu bekommen, das hat Freud als das Prinzip der Kultur identifiziert. Wir lernen uns zu beherrschen unsere Impulse und Affekte zu kontrollieren und der Lohn ist, dass wir dazu gehören. Das anale Prinzip hat aber auch eine eigene Lustform, wenn die Kontrolle zum Selbstzweck wird. Im Zwang wird sie pathologisch, aber sich zu beweisen, dass man etwas nicht braucht, das kann erhebend sein. Das Fasten ist eine dieser Askesetechniken, gesund für den Körper und ein bewusster Verzicht auf etwas sehr Grundlegendes.
Der dritte Trieb ist der genitale, der dann später erst erwachen soll. Welcher ist nun der eigentliche? Oder sind sie es alle? Von der Phasenlehre hat man sich inzwischen verabschiedet, es gibt die ganze Zeit sexuelle, orale und anale Stimulationen, die auf das Kind einprasseln, die Themen werden nur zu bestimmten Zeiten vorrangig bearbeitet.
Aber was ist jetzt das Eigentliche? Die Rede von der Natur macht aus vielen Gründen keinen Sinn mehr, wir sind lange schon Mischwesen, die in einer Welt leben, in der Natur und Kultur höchstens noch theoretisch zu trennen sind, wenn überhaupt. Und so ist unsere eigentliche Lebenswelt auch keine natürliche, denn wir leben nicht eigentlich vor 40.000 oder 100.000 Jahren sondern heute. Darum ist es auch zu kurz gegriffen, zu sagen, es ginge in unserem Leben eigentlich darum zu Essen, zu Verdauen und Sex zu haben, das ist in jeder Hinsicht unterkomplex, hat man sogar bei Affen schon gefunden, dass der Wert der Nähe über dem der Nahrung steht. Wir sind Beziehungswesen, so sehr, dass zu ursprünglicheren und ’natürlicheren‘ Zeiten, es sogar einem Todesurteil gleich kam, wenn er aus der Gemeinschaft verstoßen wurde. Nicht weil diese Menschen sind nicht selbst hätten versorgen können, sie hatten größere Hirne als wir und waren ungleich fitter. Noch heute ist es so, dass soziale Ausgrenzung eine extreme Form der Strafe ist und auch so erlebt wird.
Soziale Verbote und ihre Wirkung
Wenn es auch keinen großen Sinn ergibt ‚die Natur‘ irgendwie als eigene, unabhängige Größe zu isolieren, so ist es sehr sinnvoll nicht zu vergessen, dass wir dennoch auch natürliche Wesen sind, mit einem biologischen Erbe und die Natur in uns fordert ihr Recht. Es ist schön, gelobt und anerkannt zu werden, ein wichtiges Bedürfnis, das an unserer immer da seienden sozialen Seite andockt, aber es gibt eben auch die andere Seite, an und in uns, die egoistische, die etwas für sich haben möchte.
Es ist müßig darüber zu spekulieren, ob diese Seite nun böse oder schlecht ist, es spricht einfach sehr viel dafür, dass eine gewisses Maß an Egoismus, Aggression und Gier zum Menschen gehört, neben weiteren Triebwünschen von denen man sich überlegen kann, ob man sie nun problematisch findet oder ganz und gar nicht. Wie etwa Neugierde oder Sexualität, neben einer ebenfalls in uns vorhandenen hohen Fähigkeit zur Kooperation und Empathie. Alles Grundlagen aus dem Reich der Natur, trainiert und verfeinert im sozialen Umfeld in das wir aber ebenfalls von Beginn an eingebunden sind, weil Menschen ohne gar nicht lebensfähig wären.
Die Natur ist also nicht das, worum es eigentlich geht, aber wir haben eine affektive Grundausstattung, primäre Affekte, Basisemotionen oder Grundgefühle genannt, die immer ein wenig variieren, aber doch viele Konstanten haben. Bei Wiki finden wir:
„Beispiele für Basisemotionen sind Freude, Überraschung, Furcht, Traurigkeit, Angst oder Ekel. Sie sind in allen Kulturen gleichermaßen anzutreffen und werden auf dieselbe Art zum Ausdruck gebracht. Oft werden auch Liebe oder Hass dazugezählt.“[1]
Und etwas später:
„Ekman hat sieben Basisemotionen empirisch nachgewiesen, die kulturunabhängig erkannt werden: Freude, Wut, Ekel, Furcht, Verachtung, Traurigkeit und Überraschung.
…
Nach Martin Dornes sind Basisemotionen Freude, Interesse-Neugier, Überraschung, Ekel, Ärger, Traurigkeit, Furcht, Scham und Schuld.“[2]
Diese Affekte werden heute als Grundbausteine der Triebe angesehen und wie sich diese gestalten hängt seinerseits davon ab, welche Affekte im der Begegnung mit anderen besonders angesprochen werden. Chronisch ‚vergessen‘ wird gerne, die Fähigkeit zur sexuellen Erregung.
Auf der einen Seite sind soziale Normierungen das, was eine Gesellschaft ausmacht. Es scheint dabei ungeheuer grundlegend für den Zusammenhalt einer Gemeinschaft zu sein, dass sie gemeinsame Praktiken und Riten hat, das heißt auch, gemeinschaftlich etwas tut – oder eben lässt. Die Erzählung dazu kommt in der Regel erst später.
In der sozialen Normierung, eine Mischung aus Geboten und Verboten, werden bestimmte Egoimpulse unterdrückt, genauer, es wird vom Einzelnen erwartet, dass er lernt, sie zu unterdrücken, ’sich zu beherrschen‘ wie es heißt. Je nach Gesellschaft verschieden, aber dann doch eben nicht egal, denn es entscheidet darüber, ob jemand als ‚einer von uns‘ betrachtet wird. Und es ist in der Summe sicher verheerender ausgegrenzt zu sein, als nicht unmittelbar jedem Impuls folgen zu können.
Freuds Erkenntnis
Es war ja Freuds Aufschlag, dass er genau diese Ambivalenz erkannte. Kultur heißt, sich ein Stück weit zu beherrschen und anzupassen, der Lohn dafür sind Schutz, Anerkennung und Zugehörigkeit. Der Preis ist allerdings der Verzicht auf spontane Triebbefriedigung. Ein Dilemma? Nicht unbedingt. Praktikabel ist der Triebaufschub. Man nimmt den Impuls mit und lebt ihn nicht unmittelbar aus, sondern später.
Dem Kind was einem entgegen kommt, sein Eis aus der Hand zu reißen, weil man jetzt spontan auch Lust darauf hätte, das gehört sich nicht, man würde als Idiot dastehen, wenn man so handelte. Was sexuelle Begehrlichkeiten angeht, hat der Volksmund die Empfehlung, Appetit dürfe man sich woanders holen, gegessen werde zu Hause. Immer wieder ein merkwürdiger Tanz um die Sexualität. Einerseits ist sie bei Befragungen Paaren meist gar nicht so wichtig:
„Und eine französische Umfrage zu dem Thema, was Frauen wichtiger als Sex ist, findet auf Platz 6 ein gutes Buch, 5. Fernsehen, 4. Selbstbefriedigung, 3. Smartphone oder Tablet benutzen, 2. Schlafen und auf Platz 1 natürlich: Schokolade.“[3]
Geht eine Beziehung dann aber in die Brüche ist eine Affäre oft der Hauptgrund.
Freuds Erkenntnis besteht darin, dass es zu gravierenden Problemen kommt, wenn man nun die triebhafte Seite und damit war vor allem jene gemeint, die sich um die spontanen Egointeressen dreht zu sehr oder gar dauerhaft verdrängt. Das geht und er nannte das Neurose. Da es sich nicht gut anfühlt einen Wunsch zu haben, den man vielleicht nicht erfüllt bekommt, gibt es sowohl in der Natur, als auch in der Kultur (und dem Amalgam der Mischform) diverse korrigierende Mechanismen. Ein Tier, das im Kampf immer wieder verliert, produziert weniger Aggressionshormone. Wenn das Tier nun weniger aggressiv ist, ist das sinnvoll, als schlechter Kämpfer könnte es schweren Schaden nehmen, wenn es, hormonell herunter gedimmt, Kämpfe vermeidet, lebt es vielleicht länger und glücklicher. Ist es nun frustriert? Wir wissen es nicht, mit dem Hormonen könnten ja auch Wut und Frust reduziert sein.
Beim Menschen könnte es ähnlich sein. Nur setzt hier noch ein Mechanismus ein, der uns das Gefühl gibt, wir hätte überhaupt kein Interesse an dem, was man uns dereinst verboten hat, fänden es aber ganz großartig, das zu tun, was man uns als geboten beigebracht hat. Darauf angesprochen, dass man dieses Interesse aber doch hätte oder zumindest mal hatte, wird es abgestritten, das Thema ist psychologisch verdrängt.
Nun könnte man sagen, das sei doch gut. Wenn einer den Wunsch den er vielleicht mal hatte, nicht mehr empfindet und sogar selbst davon überzeugt ist, dass er diesen Wunsch nun heute garantiert nicht mehr verspürt, dann ist doch alles in Butter. Alle sind zufrieden, der Einzelne und die Gesellschaft, was will man mehr?
Aber genau das ist eben das Wesen der Neurose, dass das Thema eben doch nicht vom Tisch ist. Es bricht sich immer wieder Bahn, freilich nicht offensichtlich, sondern auf sehr verschlungenen und seltsamen Pfaden, die manchmal deutlich pathologisch erscheinen, für den Betreffenden aber vor allem häufig großes Leid bedeuten. Denn nun haben wir eine Situation in der gleichzeitig ein Triebwunsch da ist und die Leugnung, dass man diesen Wunsch überhaupt hat. Das klingt anstrengend und unentspannt. Diese Spannung kostet Kraft, ständig muss man etwas vor der Welt und sich selbst verstecken und so kann diese Spannung in den Körper rutschen, dort zu Verspannungen führen, es kann zum immer wieder aufflackernden Ärger kommen, wenn man anderen sieht, die offen das leben, was man sich (ohne es zu wissen) nicht gestattet, es kann zu spezifischen Symptomen kommen und hier wird es kompliziert.
Entspann‘ dich
Eine andauernde Spannung kann man natürlich auf vielen Wegen abbauen. Man kann sich beim Joggen, beim Putzen, aber auch mit Zwängen ablenken und beschäftigen. Immer wenn Emotionen drohen regelt, ,ordnet und sortiert man, putzt und macht Pläne, die den ganzen Tag durchstrukturieren, je straffer, desto besser. Da entsteht keine Lücke für Emotionen, der nächste wichtige Termin wartet schon, der Rasen muss gemäht werden und zwar immer Samstags um Punkt 15:00 Uhr.
Wer sich weit von den eigenen Emotionen distanzieren konnte – oder musste – der hat kein Verständnis dafür, wieso Menschen sich über so unwesentlichen Kram wie ihre Empfindungen austauschen, statt ihr Leben zu organisieren, was viel sinnvoller wäre. Oder aufräumen, putzen, eben strukturierende und vernünftige Dinge tun.
Aber der Punkt ist, es reicht halt nicht irgendwas zu tun, um sich abzureagieren. Sicher, man kann Druck aus dem Kessel lassen, aber man will ja was und das wurmt und auch wenn man selbst nicht mehr weiß, dass man es will, dass man das will, man bekommt es immer wieder präsentiert oder tut es selbst, durch seine Gereiztheit bei diesem Thema, aber auch bei Versprechern, Fehlleistungen, Symptomen und Ersatzhandlungen, die einen in die Nähe des ursprünglichen Zieles bringen, die irgendwie einen Kompromiss darstellen.
Auch das erkannte Freud, diese Assoziationsketten, die seiner Meinung nach kein Zufall waren. Die Symptome weisen den Weg zum Eigentlichen, so Freud. Es gibt immer wieder die Signallampen die leuchten, wenn man gelernt hat, sie zu sehen. Die Ersatzbefriedigung ist dabei etwas, was in die Nähe dessen kommt, um was es eigentlich geht. Man kann nicht bei jedem Thema sagen, jemand solle doch Joggen gehen, weil das entspannt.
Mit der Ersatzbildung geht auch eine gewisse Entspannung einher, dazu kommt aber noch, dass das Thema in assoziativer Nähe bearbeitet wird. Essen als Ersatz für andere orale Lüste, wie etwa das Küssen oder etwas anderes, was man sich gerne einverleiben würde, aber nicht bekommt. Dafür bekommt man vielleicht jede Menge Leckereien.
Oder man wäscht sich immer wieder, weil man sich doch bei irgendwelchen schmutzigen Phantasien erwischt hat, man ordnet und regelt, weil einen doch irgendwelche unkontrollierbaren und unberechenbaren Emotionen heimgesucht haben. Man hält seine Emotionen damit in einem überschaubaren und gewohnten Rahmen, kann sich höchstens noch drüber ärgern, dass die anderen alle so unpünktlich und schludrig sind – dabei wäre es doch so einfach ein bisschen disziplinierter zu sein – und bleibt auf gewohntem Terrain von Pünktlichkeit, Sauberkeit und Ordnung.
Die Funktion der Ersatzbefriedigung

Ist er nun mitten im Leben angekommen oder fehlt im Wesentliches? Er sieht zumindest zufrieden aus. gemeinfrei, Carl Spitzweg/Scan Wikimedia
Im Wörterbuch Das Vokabular der Psychoanalyse finden wir unter Ersatzbildung den Hinweis, dass es sich dabei um einen dynamischen Übergang einerseits zur Kompromissbildung und andererseits zur Reaktionsbildung handelt.
Die Kompromissbildung finden wir dann dominierend, wenn ein Symptom einerseits zur Entspannung führt, aber wie wir sahen, reicht das allein nicht aus, es muss auch noch eine hinreichende Nähe zum Triebziel bestehen. So etwas findet man, wenn sich jemand beispielsweise über die sexuellen Verkommenheit der heutigen Zeit aufregt, sich selbst davon freispricht, aber als eifriger Kämpfer gegen ‚all die Schweinereien heutzutage‘ auftritt, über die er sich natürlich im Zuge umfangreicher Recherchen informieren muss.
Einige Bekanntheit errang dabei der österreichische Pornojäger, der in einem heldenhaften Kampf gegen Pornographie den ganzen Tag damit verbringen musste, Pornos zu sammeln. Man muss ja auch dem neuesten Stand bleiben und Beweise sichern.
Es gibt ein Bertolt Brecht zugeschriebenes Zitat, dass dies in einem anderen Bereich schön auf den Punkt bringt, in dem er sagt Atheisten würden ihn nicht interessieren, die würden zu viel über Gott reden. Es gibt Menschen, die sich geradezu zwanghaft mit einem Bereich des Lebens beschäftigen, den sie vollkommen unmöglich finden und radikal ablehnen. Warum lassen sie es nicht einfach und kümmern sich die 10.000 anderen Dinge, die es noch im Leben gibt?
Das wäre die Kompromissbildung. Man umkreist ständig sein Thema, ohne zu erkennen, dass es wirklich das eigene Thema ist, mit dem man sich obsessiv beschäftigt, weil die anderen ja gewarnt werden müssen. Der Punkt ist nur, dass solche Akte manchmal sehr viel Zeit und Energien kosten und man sich manches verbeißen muss. Die therapeutische Alternative lautet im Grunde immer, zu erkennen und anzuerkennen, dass das Thema, was mich besonders umtreibt – gerade auch wenn ich dagegen bin – zunächst erst mal mein Thema ist. Kann man das anerkennen und die Projektion zurück nehmen, braucht man sich nicht mehr mit der Ersatzbefriedigung abzumühen, sondern kann sich und anderen die frontal Beschäftigung zugestehen und gönnen, ob das Thema inhaltlich nun Sexualität, Religion/Glauben oder sonst wie heißt.
Der andere Punkt ist die Reaktionsbildung, die eine sozial etablierte Art und Weise eines dahinter liegenden und sozial nicht genehmen Themas darstellt. Klassisch dargestellt in dem Bedauern eines armen Menschen, dem man so umfassend wie nur möglich helfen muss, was eine Abwehr gegen die eher entwertende Sichtweise ist, die es dem anderen nicht zutraut, sich selbst zu helfen. Aus dem Trottel wird der Arme.
Auch die obsessive Beschäftigung mit Sexualität kann eine Reaktionsbildung sein, wie gesagt, die Übergänge zur Ersatzhandlung sind fließend.
Dopamin: Geht es gar nicht um die Inhalte?
Wir wissen ja noch immer nicht, was nun die Ersatzbefriedigung wofür ist. Wenn man die egoistischen Triebwünsche als ursrpünglicher bezeichnet, klar, dann ist die soziale Anerkennung der Ersatz. Wer den Menschen jedoch als soziales Wesen von Anfang an begreift – und es gibt gute Gründe das zu tun – sieht in sozialer Nähe keinen Ersatz, sondern ein tiefes, ursprüngliches Bedürfnis.
Wo liegt das Paradies? Im Körper oder in phantasierten oder idealen Welten? Die Frage stellt sich, wenn wir wieder auf Kreativleistungen blicken. Ist es wirklich zu rechtfertigen, dass man sagt, die Komposition einer Sinfonie sei eben ein etwas aufwenderigeres Verfahren der Werbung und Geschlechtspartner? Also Kreativität, ein netter Umweg auf der Suche nach Sex? Oder nach Aggression, Anerkennung oder Aufmerksamkeit?
Wäre es nicht ebenfalls denkbar, dass Kreativität das Ziel ist, um was es geht und Sexualität nur eine Variante dieses Selbstausdrucks? Was ist nun eigentlicher, grundlegender oder ursprünglicher? Und wäre das Ursprüngliche überhaupt zwingend auf das Ziel, das, um was es geht?
Oder geht es gar nicht um die Inhalte? Am Ziel des Triebes steht die Belohnung, neurobiologisch in aller Regel eine Dopamindusche, ausgeschüttet vom eigenen Gehirn. Zur Belohnungsvorbereitung. Fühlt sich in aller Regel so gut an, dass viele Süchte über diese Mechanismus erklärt werden. Ob Essen, Spielen, Rauchen oder Fremdgehen: Dopamin wird frei. Aber auch wenn wir soziale Anerkennung bekommen oder unseren inneren Schweinehund überwinden, uns ein Ziel setzen und dann unsere Steuererklärung machen, den Frühjahrsputz oder den Keller aufräumen, wenn das Ziel eine echte Hürde darstellte wird Dopamin frei.
Aber nur darum geht es auch nicht, das wäre ein egozentrisches Konzept. Sei gut zu anderen, damit es Dir gut geht und Du stolz darauf sein ganz, was Du für ein netter Mensch bist. Noch besser wirkt das und ist es allerdings, wenn man anderen helfen möchte, um anderen zu helfen. Der Großplan, wie man sein Dopaminsystem optimiert, läuft letztlich immer darauf hinaus, dass man von den Optimierungsplänen wieder ablässt, egal auf welcher Ebene, aber eben auch auf der der biologischen Erzählungen.
Sublimation oder der optimale Kompromiss
Oft wird die Sublimation als der ideale Kompromiss angesehen. Sublimation heißt im Grunde, dass man einen grundlegenden Impuls oder Affekt nimmt, ihn aber nicht direkt agiert, aber gleichzeitig auch nicht abwürgt, sondern seine Energie nutzt. Aus Krieg wird dann zum Beispiel ein ritualisierter Wettstreit, bei dem man selbst, aber auch Zuschauer ihre Affekte in einem bestimmten, definierten Rahmen ausagieren können, etwa bei einem Fußball Länderspiel. Je mehr man innerlich dabei ist, mitfiebert, leidet und sich ein Stück weit auch ins Unfaire und Parteiische gehen lässt, umso besser für die Psychohygiene. Danach kann man wieder ein normaler respektabler Mensch sein, wenn man diese Möglichkeiten des Ausbruchs hat, in denen man auch mal die Sau rauslassen darf. Für gut zwei Stunden und dann ist man wieder ein normaler Mensch.
Große Konzerte können Ähnliches leisten, wenn man tobt und tanzt, schwitzt und mitsingt, im besten Fall ein einziger Rausch. Man sollte den anderen nicht als Mittel zum Zweck oder Ding behandeln oder gar benutzen, beim Sex kann es aber sein, dass genau das durchaus im Sinne beider Partner ist, auf das ein Ritual und im besten Fall ein Leibesfest, bei dem man seine eigenen Regeln findet.
Aufgeschoben ist nicht aufgehoben und in sublimierter Form kann man die grundlegenden Ideen noch immer nutzen, man ist noch mit ihnen in Kontakt, durch sie motiviert, nur ist das Ganze eben auf eine andere Ebene transponiert.
Spitzweg und die Ersatzbefriedigung
Die Bilder Carl Spitzwegs sind voll von dezenten Andeutungen von Ersatzbefriedigungen. Manche sind nur symbolisch angedeutet, wenn der ehemalige Apotheker, der sich natürlich auch in der Botanik auskennt, Pflanzen in ein Bild malt, die symbolisch für die Liebe stehen oder denen Potenzförderung nachgesagt wird. Der junge Mönch, der an Blumen riecht und dann doch dem Liebespaar einen verstohlenen Blick hinter wirft. Die himmlische oder die irdische Form der Liebe, welche trägt nun weiter? Das könnte eine der stillen Fragen sein, die eines seiner Bilder uns stellt.
Aber sie stellen durchaus auch andere Fragen. Manche der dargestellten Charaktere wirken schrullig. Deplatzierte Sonderlinge, von denen man ahnt, dass sie in der normalen Welt keinen rechten Platz gefunden haben und die deshalb in die Nischen des Lebens ausgewichen sind. Irgendwo am Rande der Zivilisation finden wir sie, in teilweise absurden Situationen. Strickende Wachposten, an irgendeiner Grenze, die zu bewachen lächerlich erscheint. Dieser oder jener hilflos agierende Jäger, der unfreiwillig komisch wirkt.
Allerdings wirken andere Charaktere so begeistert in ihrer Welt versunken, dass man sich ernsthaft fragen muss, ob der Durchbruch zum Eigentlichen für sie überhaupt ein Gewinn wäre. Die einen wirken verschroben, die anderen versunken und glücklich, ganz gleich was die Normalen von ihrer Welt halten mögen, sie scheinen ihre Heimat[ gefunden zu haben.
Was also, wenn die Ersatzbefriedigung gar nicht mehr den Charakter des Ersatzes hat, sondern viel mehr zur eigenen Welt geworden ist? Ist die Befreiung von der Neurose dann noch eine? Freud war die Ambivalenz durchaus bewusst, darum betonte der den Leidensdruck als Motiv so sehr. Wer sich in seiner Welt der Kompromisse – und welches Leben wäre nicht genau das? – eingerichtet hat, den sollte man vielleicht in Ruhe lassen.
Wenn die Ersatzbefriedigung inzwischen schöner ist als das eigentliche Triebziele, man es sich am Rande der Normalität wohl fühlt, oder Schokolade besser als Sex findet. Wenn man alles worum es angeblich gehen soll frei schaufelt und der Mensch sich viel schlechter fühlt. Was dann? Dann muss man die Frage noch mal neu stellen.
Und worum geht es nun wirklich im Leben?
Die unbefriedigende Antwort ist, dass einem das im Grunde niemand sagen kann. Es ist nicht so, dass es darauf keine Antworten gibt, von rigidem Biologismus über die Retroromantik, technische, soziale und religiöse Utopien ist alles im Angebot. Es scheint nur nie für alle zu passen.
Wenn man also pragmatisch an die Frage nach den Ersatzbefriedigungen heran gehen will, dann schaut man am besten zunächst, ob der Schmerz, den man fühlt auch groß genug ist, um wirklich etwas zu ändern. Wenn man noch keine Ahnung hat, wo der Schuh drückt, unsere zwei Regeln können einen in die Nähe bringen. Besonders der Ärger weist den Weg.
Es ist nicht so ganz ohne die komplexen Ideen etwa der Psychoanalyse in sein Leben einzubauen. Man muss sie nicht unbedingt theoretisch verstehen, aber doch alles in allem für möglich halten, dann ist es bereichernd. Es empfiehlt sich von unten nach oben vorzugehen und sich bis zum Beweis des Gegenteils zunächst mal den Themenkomplex Aggression anzuschauen, dazu gehören dann auch Themen wie Neid, Kränkbarkeit, Ansehen, Misstrauen und dergleichen.
Sexualität ist das nächste Tabu, auch wenn man das im Zeitalter von Tinder und Porno nicht glauben möchte, die ganze Geschichte ist komplizierter, auch die mit den sexuellen Tabus.
Worum es ebenfalls nach Ansicht vieler geht, ist ein gerechter Ausgleich grundlegender Versorgungsgüter. Leider wird diese Sicht oft gegen die Psychologie angeführt, von der es dann heißt, sie würde an den Zuständen nichts ändern, aber es gibt sehr gute Gründe davon auszugehen, dass sich beide Bereiche weitreichend überlappen, wie in Narzissmus in der Gesellschaft ausgeführt.
Es kann aber in einem Leben auch um anderes gehen, man kann durch und durch Sportler sein, ganz sicher ist die Kunst eine Welt für sich, Wissenschaft, Spiritualität sind Bereiche, die, wenn man sie mal für sich erobert hat, Selbstzweck sind und nicht primär etwas anderem dienen, auch wenn man natürlich nebenher noch andere Bedürfnisse im Leben hat. Nicht selten ist man vielleicht gar nicht auf genau einen Bereich fokussiert, sondern lebt eine Mischung.
Ja, und dann ist da noch was. In all dem schöner, schneller, reicher, inmitten der Fülle der abgedrehten Bereiche und der Gnade, dass wir es uns leisten können, ziemlich bekloppte Lebensansätze tatsächlich zu leben, gibt es Menschen, die einfach nur normal leben wollen.
Menschen, die gar nicht abseits und am Rand leben, sondern die es sich inmitten der Angebote dieser Welt bequem gemacht haben und dort angekommen sind und gerne so weiter leben möchten. Die sich nichts sehnlicher wünschen, als dass ihre Welt, die sie sich errichtet und und die sie viel investiert haben bestehen bleibt. Vielleicht ist das manchmal etwas spießig und bieder, vielleicht gelten sie hier und da heute schon als Exoten, aber wenn man einen kompletten Lebensentwurf zertrümmern möchte, wäre es nur fair ein besseres und für alle lebbares Angebot für die gemeinschaftlich gelebte Ersatzbefriedigung zu haben.