Ordnung und Chaos als Ortsschild dargestellt

Ordnung hat für Zwangscharaktere eine hohe Priorität. © Friedemann W.-W. under cc

Normale Zwangsstörungen sind eigentlich ein Oxymoron. Eine Störung ist ja per Definition nicht normal. Darum soll erläutert werden, was damit gemeint ist.

Zwänge können eine extreme Form annehmen, jene, die die meisten von uns aus Fernsehdokumentationen kennen. Dort werden oft Menschen mit ausgeprägten Waschzwängen gezeigt, so ausgeprägt, dass ihre Haut vollkommen zerstört wird und sie in einer einzigen Orgie aus Duschen, Baden, Händewaschen und Desinfizieren leben. Zwänge können sich auf Ordnung und Sicherheit beziehen und in der extremen Form sind Menschen von der Teilnahme am normalen Leben nahezu ausgeschlossen, weil ihre andauernden Zwänge dafür sorgen, dass sie für normale Alltagshandlungen, wie das an- und ausmachen eines Lichtschalters, einer Herdplatte, das Abstellen einer Tasse oder das Schließen einer Tür eine halbe Ewigkeit brauchen.

Es gibt innere Zwänge: Zermürbende Zählzwänge, Symmetriezwänge, Zwänge, nur gerade Anzahlen von Gegenständen zu kaufen oder die Ränder von Steinplatten in Fußgängerzonen nicht zu betreten. Es gibt skurrile Erscheinungen, wie das Tourette-Syndrom oder die von uns vorgestellte Trichotillomanie oder Menschen, die nichts vergessen können und ebenfalls alle mehr oder weniger ausgeprägte Zwänge haben.

Doch von all dem soll nicht oder nur am Rande die Rede sein, weil die manchmal exzentrischen Symptome den Blick auf die dahinterliegende Struktur verstellen und die ist ebenfalls hoch interessant. Normale Zwangsstörungen sind solche, die das Leben beeinflussen, aber Menschen von der mehr oder weniger normalen Teilnahme daran nicht ausschließen und wir wollen versuchen, das Erleben dieser Menschen zu ergründen.

Was macht normale Zwangsstörungen aus?

Menschen mit normalen Zwangsstörungen sind eher vermeidende Charaktere und haben Angst vor Gefühlen und Trieben, bei anderen und vielleicht noch mehr, bei sich selbst. Sie sind geizig mit Zeit, Geld und Emotionen. Gerade ihre Zurückhaltung von Emotionen löst jedoch in anderen Menschen eben diese Emotionen, zuweilen in sehr heftiger Weise aus.[1] Doch wie kann man sich das praktisch vorstellen?

Der perfekte Tag im Leben eines Menschen mit einer normalen Zwangsstörung ist ein von A bis Z durchorganisierter Tag. Man weiß genau was kommt, der Tagesablauf ist, wie an jedem Tag, nach der Uhr ausgerichtet und gegessen wird nicht, weil man Hunger hat, sondern weil genau jetzt Mittagszeit ist. Nichts und niemand stört den Ablauf des Tages und wenn doch etwas Unvorhergesehenes geschieht – etwa ein Anruf, außerhalb der Reihe der gewohnten Anrufe, von denen der normale Zwangscharakter sofort sagen kann, wer gerade anruft und aus welchem Grund – weiß man, wie man damit umgehen kann. Auch andere Regungen des Lebens, die eigentlich mehr spontaner Natur wären, sind oft nach der Uhr oder festen Zeiten und Tagen ausgerichtet. Vom Toilettengang über die Sexualität, aber auch die diversen Ordnungs– und Sauberkeitshandlungen, etwa, wann Wäsche gewaschen oder die Wohnung gereinigt wird. Wenn man morgens aufsteht, weiß man im Grunde schon, wie der Tag ablaufen wird, mit welcher letzten Amtshandlung und wann man ins Bett gehen wird. Was für die einen nach einem Zustand ausgeprägter Langeweile klingt ist für den normal Zwangsgestörten ein idealer Tag und wenn die Welt und ihre Bewohner nicht so verrückt wären, würde jeder Tag bereits im Vorfeld geplant sein und alle würden einsehen, dass das ein optimales Leben wäre. Alles moderat, alles zu seiner Zeit, alles irgendwie vernünftig und vor allem nicht so übertrieben laut, wild und unvorhersehbar.

Vom Sinn und Unsinn der Struktur

Strukturen zu haben ist im Leben ungeheuer wichtig. In eine Welt äußerer Struktur geboren zu werden, die von Anfang an nachvollziehbar und verlässlich ist, ist ein Segen, wenn man die andere häufige Möglichkeit betrachtet, Willkür und Sadismus zu erleben, die jede Verlässlichkeit und Sicherheit unterminieren. Das optimale Umfeld für Kinder ist ein eher unaufgeregter, aber zuverlässiger Rahmen. Eine Mutter, die in der Not da ist, aber nicht überreagiert, Eltern, die da sind, aber das Kind auch in Ruhe und Kind sein lassen und nicht jede Lebensregung euphorisch feiern oder entwerten. Fast ein wenig zwanghaft, zumindest in Anteilen.

Aber Struktur ist eben auch nur Struktur, ein Rahmen in dem sich das abspielen kann, um das es im Leben geht, um das Leben selbst. Mit all seiner Mischung aus Zyklen und Rhythmen, aber eben auch mit seiner Spontaneität, Kreativität, seinen Schrullen und Verrücktheiten. Strukturen sind mehr oder minder willkürlich, sie könnten auch anders sein. Es ist gut, zu lernen, wie man mit Messer und Gabel isst, man könnte aber genauso gut lernen, mit Stäbchen zu essen, je nach dem, wo man zufälliger- oder karmischerweise geboren wird. Und so erfährt und erlebt man seine Welt, immer und immer wieder in ähnlichen Situationen und ordnet sie dabei ganz nebenher. Das ist zum einen ein hoch individueller Akt, denn er richtet sich nach dem, was das Leben, das individuelle Umfeld dem Individuum anbietet und wie es ihm begegnet, zum anderen hängt er von der Schwelle ab, ab der das Baby auf Umweltreize reagiert und auch die ist individuell verschieden.

Gabel oder Stäbchen, Curry oder Tortilla, Zelt oder Hochhaus, aber es sind nicht nur diese Äußerlichkeiten, sondern viel mehr ein immer und immer wieder wahrgenommenes beispielhaftes Erleben, wie man miteinander redet, wann und worüber man in Wut gerät, wie man mit Konflikten und Emotionen umgeht, wie Sexualität gelebt wird, welche Rolle Gemeinsamkeiten, Neugierde, Kinder, Wissenschaft, Erzählungen und was auch immer spielen.

Und diese Strukturen sind ein virtuelles Gitter, Raster, Fundament an dem entlang und durch das wir erfahren was wir wiederholen oder eher unterlassen sollten. Dieses Wissen gibt uns einerseits Orientierung, engt uns aber andererseits ein. Es gibt Menschen, die unter der Einschränkung mehr leiden und andere, die im Grunde noch viel mehr Struktur möchten. Die Frage was davon normal, unnormal oder vielleicht sogar schon pathologisch, also krankhaft ist, ist in einer absoluten Weise nie zu beantworten, da die Frage was gut und erwünscht ist, immer auch zeit- und situationsabhängig ist.