Sex und Essen gehören zu den sogenannten Primärtrieben der Menschen, die wir heute oftmals als Verhaltenssüchte als Pathologie wiederfinden. Sie dienen sowohl dem individuellen Überleben, als auch dem genetischen Erhalt der eigenen Art.
Essen und Sex aktivieren unser Belohnungssystem im Gehirn stark, das mit einer Ausschüttung des Glückshormons „Dopamin“ reagiert. Dopamin schenkt uns Wohlbefinden und signalisiert uns: „Das ist wichtig für dich! Sorg dafür, dass Du VIEL davon bekommst!“
Seit Menschheitsgeschichte waren Sex und Nahrung knappe und dadurch strategisch wichtige Ressourcen. Mittlerweile steht jedoch Nahrung im Überangebot zur Verfügung und neuartige sexuelle Superreize des Internets können per Knopfdruck aus der heimischen Komfortzone völlig autark abgerufen werden. Während unser Verstand die Neuigkeiten versucht einzuordnen und sinnig zu nutzen, arbeitet unser Belohnungssystem prinzipientreu wie ein Schweizer Uhrwerk nach einem jahrtausendlang bewährten Skript, in dem Nahrung und Sexualität mit großem Vorsprung auf Platz Eins stehen, gefolgt von Bindung, Anerkennung, Erfolg, Macht, Abenteuer und Abwechslung.
Welche Dimensionen und Verwerfungen diese konstante Überflutung mit sexuellen Superreizen für Betroffene und ihr Umfeld beudeuten kann, habe ich in meinem Buch „Scharfstellung: Die neue sexuelle Revolution“ ausführlich dargestellt, da bei sexuellen Grenzen, Möglichkeiten und Variationen derzeit kein Stein auf dem anderen bleibt.
Die Nahrungsmittelindustrie konditioniert unser Essverhalten durch und durch
Werfen wir erst einmal einen Blick auf das Thema Ernährung, das viele Parallelen zu der Sexualität aufweist.
Unseren Vorfahren ernährten sich vorwiegend von Getreide, Gemüse, Obst, Fisch und Fleisch aus regionalem Anbau. Kohlenhydrate und fettreiche Nahrungsmitteln sorgten für den überlebensnotwendigen Winterspeck, mit dem sich Hungerperioden überleben ließen.
Heute kaufen wir raffinierten Zucker für 0,65 € / kg und Sonnenblumenöl für 1,09 € / Liter. Nahrungsmittel stehen im Übermaß parat. Diäten und Stoffwechselerkrankungen begleiten einen Großteil der Bevölkerung über weite Strecken ihres Lebens. Pizzen mit Chips und Pommes als Belag, süße kleine, bunte Jelly Bellys, die Vielfalt von Haribo Colorado oder aromatisierter Quark aus Quetschtüten. Die Profiteure der Nahrungsmittelindustrie kennen unser Belohnungssystem im Detail und kreieren darauf abgestimmt immer wieder neuartige verführerische Texturen aus Fett, Einfachzucker, künstlichen Aromen und Farbstoffen.
Haben Sie sich nicht schon einmal gewundert, warum wir trotz fundiertem Wissen über Ernährung immer wieder die Ratio beiseitelegen, wenn uns schmachtend das Tiramisu beim Italiener, die Schwarzwälder Kirschtorte beim Konditor oder das würzig duftende Raclette auf der Almhütte zuzwinkert? Wir wissen doch alle, dass wir Einfachzuckern, gesättigten Fettsäuren und Alkohol besser aus dem Wege gehen sollten. Aber was helfen sachrationale und logische Gründe, wenn unser aufs Überleben trainiertes Belohnungszentrum dem Frontalhirn kurzer Hand den Stinkefinger zeigt und alle guten Vorsätze mit einem „jetzt sofort haben wollen“ in den Wind schlägt?
Mit der Zeit des übermäßigen, allseits verfügbaren Konsums reagieren unsere mittlerweile auf Geschmacksverstärker konditionierten und zugekleisterten Geschmacksknospen nur noch träge. Kinder werden auf Fruchtzwerge, Milchschnitte und McDonalds konditioniert, sodass ihnen mit der Zeit weder frisches Obst, Gemüse noch Milch pur mehr schmecken. Erwachsene, die in der Hektik des Alltags auf Fast Food und Fertigprodukte setzten, verlernen dabei die feinen sinnlichen Nuancen eines frisch zubereiteten Gerichtes zu würdigen. So manch einer nimmt erst nach einer Phase des Verzichtes beim Fasten oder während einer Diät war, wie grandios ein frischer Apfel, ein Vollkornbrot mit Kräuterquark oder ein frisch gepresster Möhren-Zitronen-Saft schmecken kann.
Herzkreislauferkrankungen sind die Todesursache Nr. 1 in Deutschland
Wer sich jedoch hedonistisch treiben und dem Belohnungszentrum freie Hand lässt, degeneriert nicht selten zur lebenden Marionette einer gigantischen, auf Gelüste und Verlockungen abzielenden.
In Deutschland sind laut der Deutschen Gesellschaft für Ernährung 59 % der Männer und 27 % der Frauen übergewichtig. Herzkreislauferkrankungen sind die Ursache für 50 % aller Todesfälle in Deutschland. Daran schuld sind Übergewicht, Bewegungsmangel, Bluthochdruck und Stoffwechselerkrankungen als Folge eines dysfunktionalen Essverhalten.
Laut WHO leiden weltweit über 400 Mio. Menschen allein an Diabetes Mellitus Typ II, der mit einer Störung des Insulinstoffwechsels einhergeht. Die Erkrankungsrate steht dabei in direkter Abhängigkeit zum Wohlstand: Während in armen Entwicklungsländern bevorzugt reiche Menschen erkranken, welche in der Lage sind sich Nahrung zu kaufen, erkranken in reichen Industriestaaten, in denen Nahrung günstig und im Übermaß vorhanden ist, vorwiegend arme Menschen. Die höchsten Zuwachsraten an Diabetes Mellitus Typ II verzeichnen aktuell Schwellenländer in Ozeanien, mittlerem Osten und Nordafrika, währenddessen in Industriestaaten der Trend stabil bis leicht rückläufig ist. Menschen, die aus einem Mangel heraus in ein Überangebot an Nahrung kommen, konsumieren in der Regel solange auf Vorrat, bis negative Begleiterscheinungen wie Übergewicht und Krankheiten zu einer Verhaltensänderung führen. Aus Mangel an Kenntnissen über die Erkrankung vergehen oftmals Jahre, bis die Symptome richtig gedeutet, diagnostiziert und therapiert werden.
Diäten begleiten unser Leben
Heutzutage verfügen wir über wesentlich mehr Wissen in Bezug auf Ernährung, Bewegung und Gesundheit als sämtliche Generationen zuvor. Durch breite Aufklärungsarbeit sind Menschen in der Lage zu reflektieren, um bewusst ihr Verhalten zu verändern. In einer Zeit von Aufmerksamkeitsdefiziten und Impulskontrollstörungen heißt der Schlüssel zum Erfolg heute Achtsamkeit und Selbstkontrolle. Nach dem Motto „Weniger ist mehr“ kommt der Abgrenzung und dem „Nein“-Sagen dabei eine zentrale Rolle zu.
Das Geschäft mit dem Gewicht boomt bei Anbietern wie „Weight Watchers“ und Co. Unzählige Diättipps füllen YouTube-Kanäle und Zeitschriften. Der Run auf Fitnesscenter ist so hoch wie nie zuvor. Bücher wie „Für immer zuckerfrei“ und „Darm mit Charme“ halten sich über Monate und Jahre in der Top 10 der Spiegel-Bestsellerliste. Die vor einigen Jahren noch belächelte und für verrückt erklärte Fraktion der Vegetarier und Veganer liegt heute voll im Trend: Immer mehr Menschen tauschen das Schnitzel mit Pommes gegen einen grünen Smoothie ihrer Wahl ein.
Dabei geht es vielen Menschen nicht allein darum, dass sie Fleisch, Fisch und Milch nicht mögen, sondern auch darum, ganz bewusst die skrupellosen Machenschaften der Massentierhaltung nicht weiter zu unterstützen.
Auch das Fasten erfreut sich einer immer größeren Anhängerschaft, denn durch den passageren Verzicht auf Nahrungs- und Genussmittel kann sich unser Körper regenerieren und wird wieder sensibler für die alltäglichen Genüsse. Gewinner der neuen Freiheit sind diejenigen, die gekonnt den Versuchungen von Sahnetorte, Chips und Cola eine Absage erteilen und es schaffen, sich regelmäßig aufs Fahrrad zu setzen oder durch den Park zu joggen. Die Verlierer werden zum Spielball ihres Glucose-Insulin-Kreislaufes und enden in folgenschweren repetitiven Reiz-Reaktions-Zyklen einer Fettsucht oder Stoffwechselerkrankung.
Sex, Beziehung und Fortpflanzung waren eng miteinander verbunden
Ganz ähnlich, nur mit einem stärkeren Effekt auf unser Belohnungssystem, wirkt Sex. Seit Menschheitsgeschichte lebten unsere Vorfahren wesentlich kürzer, gründeten bereits in jungen Jahren Familien und der Zusammenhalt in der Familie und Sippe war überlebensnotwendiger Bestandteil zur Sicherung der Aufzucht von Kindern. Frauen wägten sorgsam ab, mit wem sie Sex hatten, denn Sex, Beziehung und Fortpflanzung waren damals noch unumgänglich miteinander verwoben.
Kinder zu haben machte Frauen verletzlich, kostete ihnen nicht selten schon bei der Geburt das Leben und entließen sie in eine jahrelange Abhängigkeit von Partner oder dem Familienverbund. Logischerweise lagen deshalb bei der Partnerwahl Versorgungs- und Bindungsmotive ganz weit vorn. Während Frauen sparsam ihre begrenzten Eizellen pflegten und hegten, konnten Männer weitaus verschwenderischer und sorgloser mit ihren bis ins hohe Alter zur Verfügung stehenden Millionen Spermien pro Ejakulation umgehen.
Männer waren dann evolutionär erfolgreich, wenn sie es schafften, Gewehr bei Fuß die wenigen Momente sexuell weiblicher Verfügbarkeit erfolgreich abzupassen. Das Screening weiblicher Reize und sexueller Optionen gehörte damit zu ihrer Tagesordnung. Die Kombination aus aufgestauten Testosteron und Adrenalin, besonders während kriegerischer Auseinandersetzungen oder auf der Jagd mit längerer häuslicher Abwesenheit, kanalisierte sich nicht selten in einem eruptiven Stressabbau im Rahmen gewalttätiger sexueller Übergriffe.
In der Regel begrenzte sich die Anzahl sexueller Kontakte auf weniger als eine Handvoll Partner im Leben und etwaige Ausschweifungen konnten besonders für Frauen immense Folgen für Leib und Leben zur Folge haben.
Die Anbahnung von Sex fand im direkten Kontakt im alltäglichen Leben statt, sei es am Lagerfeuer oder beim Tanz in den Mai. Als Aphrodisiakum kamen pflanzliche Substrate wie Kräuter, Gewürze und später Alkohol zum Einsatz und Pornografie beschränkte sich auf Sprache in Wort und Text sowie unbewegte, zumeist gemalte Bilder. Die Fantasie war eine der größten Ressourcen sexueller Energie und obwohl Masturbation im Schussfeuer von kirchlichen oder gesellschaftlichen Vorgaben stand und als nicht erstrebenswert galt, wurde sie heimlich flächendeckend betrieben.