Mit zwei Regeln bestens durchs Leben kommen zu wollen, das klingt zunächst abenteuerlich. Doch im Grunde ist die Reduktion ja das Prinzip der Erziehung und zum anderen, der Weisheitslehren.
In der Erziehung versuchen wir Kinder in die Lage zu versetzen, gut durchs Leben zu kommen. Wir bringen ihnen ab einem gewissen Alter, nicht jede Kleinigkeit bei, sondern das, was wir als wesentlich erachten, um im Leben zu bestehen. Schule soll mindestens die Vorbereitung auf das Leben sein, darauf, sich in diesem zurecht zu finden. Wenn mehr möglich ist, bereitet man sie auf speziellere Anforderungen vor und geht in Details einer weiterführenden Ausbildung.
Auch hier sollten die erworbenen Fähigkeiten halbwegs breit sein, darauf vorbereiten, was man im späteren Studium gebrauchen kann, das einen dann mit noch spezialisierterem Wissen ausstattet, als Ärztin, Anwalt, Psychotherapeutin, Ingenieur oder Ökologin. Die Komplexität nimmt zu, allerdings oft nur, in bestimmten Fachbereichen. Diese gliedern sich weiter auf in noch spezialisiertere Gebiete. Eine stetig wachsende Ausdifferenzierung.
Zwei gegenläufige Trends
Doch es gibt auch einen gegenläufigen Trend, der uns im Laufe unseres Lebens begegnet, der zur Vereinfachung. Wenn man eine gewisse Anzahl an Erfahrungen im Leben gewonnen hat, sieht man hier und da bestimmte Muster, die sich scheinbar in verschiedenen Lebensbereichen zu wiederholen scheinen. Diese Muster scheinen die Komplexität des Lebens wieder einzufangen und auf einfache Regeln runter zu brechen.
Wir hören auch gerne auf lebenserfahrene bis altersweise Menschen, von denen wir – selbst oft noch irgendwo dazwischen – zu erfahren hoffen, worauf es denn nun wirklich im Leben ankommt.
Doch diese Zusammenfassung auf die wesentlichen, die wichtigen Dinge und Aspekte des Lebens werden auch wieder gebrochen, da es sehr unterschiedliche Meinungen darüber gibt, was denn nun wirklich wichtig ist, um im Leben zu bestehen. Man sieht dies an den Diskusssionen darüber, was demnächst dringend mal Schulfach sein müsste: Medienkompetenz, Wirtschaft, Programmieren? Oder doch lieber Ernährung, basale Regeln der Logik oder wie man wie man ganz praktisch kocht oder einen Knopf annäht`oder Tanz, damit man endlich mal spürt, dass man einen Körper hat?
Die Menschen haben zudem verschiedene Temperamente, stehen auf verschiedenen Stufen der Entwicklung, die sich noch einmal in diverse Entwicklungslinien aufteilen: in kognitive, emotionale, ästhetische, kommunikative, empathische, moralische und weitere Stufen der Entwicklung und was für den einen genau richtig ist, kann für den anderen grundfalsch sein.
Also ist es doch nichts, mit den Lebensregeln?
Alle Fehler sind schon mal gemacht worden, oder?
Die Geschichte der Menschheit ist sehr lang, im Laufe der Zeit sind alle Fehler schon mal gemacht worden. Also schreibt man das dicke Buch der Fehler oder nimmt wenigstens die wichtigsten und warnt die zukünftigen Generationen aus diesen zu lernen und sie bitte nicht zu wiederholen. Im Grunde ganz einfach.
In einem gewissen Umfang geht das, vor allem auf technischem Gebiet sind wir immer besser geworden, man sieht, auf was für einem hohen Niveau wir diesbezüglich angekommen sind. Andere Fehler, im Privaten, sind allerdings solche, die man in späteren Jahren unter Lebenserfahrung verbucht. Dazu gehören dann die Irrungen und Wirrungen der Liebe, die den Menschen schon immer den Verstand raubte und zu diversen Verrücktheiten anregte, aber wer will ernsthaft darauf verzichten, rückblickend?
Dazu gehören gewiss auch verrückte Träume, die dann aber immer wieder auf mal der Vernunft weichen mussten. Was ist da richtig? Man weiß es nicht, kann aber auch mal auf das schauen, was Menschen am Ende ihres Lebens, Sterbende uns sagen:
„Die häufigste Reue von Sterbenden betraf das Bedauern, nicht das Leben gelebt zu haben, das sie sich erträumt hatten; dass sie, statt eigene Ziele zu verfolgen, zu oft die Erwartungen anderer erfüllten. Am zweithäufigsten wurde genannt: «Ich wünschte, ich hätte nicht so viel gearbeitet.» Drittens wünschten sich die Todkranken, sie hätten Gefühle stärker zugelassen und mitgeteilt. Viertens: sie hätten den Kontakt zu ihren Freunden behalten. Diese vermissten sie in den letzten Monaten ihres Lebens. Und als Fünftes galt die Reue der Erkenntnis, dass man hätte glücklicher sein können, wenn man es nur gewollt hätte.“[1]
Vom großen Buch der unnötigen Fehler ist da nichts zu lesen. Keine Klagen darüber, dass man sich doch besser auf dies oder das nicht eingelassen hätte, nein, das Gegenteil, ihnen hängt nach, dass sie es nicht getan haben, nicht auf ihre Träume, Gefühle und ihr Herz gehört haben. Das Leben als etwas, in dem es wesentlich darum geht, Fehler zu vermeiden, nein, darum kann es offenbar nicht gehen.
Aber eben auch nicht darum, jeden Fehler mitzunehmen, das wäre einfach dumm. Aus Fehlern lernt man am besten, wenn man eine zweite Chance bekommt, eigene Fehler sind oft besser, als fremde Ratschläge. Das Scheitern inklusive, man muss sich die Hörner abstoßen, wie es heißt und hier und da wirklich auch mal erleben, dass das, was die anderen immer schon gesagt haben, mitunter tatsächlich stimmt und sich die Welt nicht einfach nur bislang zu dumm angestellt hat. Der Übermut, die Hybris, sie gehören dazu, mit Niederlagen und dem eigenen Scheitern umzugehen, wird mehr und mehr als eine Qualität und Kompetenz im Leben erkannt, gerade wenn man daraus lernt und trotzdem nicht restlos entmutigt ist. Immer besser zu scheitern, lautet hier oft die Devise.
Regel 1: Lebe so bewusst, wie es geht
Ansonsten dreht sich einfach vieles darum, das was klappt und das was nicht klappt und darüber hinaus auch das, worum es mir oder in meinem Leben geht, mitzubekommen, zu erkennen. Das große Muster, die roten Linien, die sich durch alles durchziehen. Manche erkennen sie, andere sind blind dafür und werden nicht mal aus Schaden klug. Aber man kann die Sinne schärfen. Nahezu alles was als Weisheitslehre bezeichnet wird, geht in diese Richtung. Man wird still, offen, achtsam, lauscht in sich und schaut in die Welt, in dieser Mischung aus teilnahmsloser und meditativer Offenheit.
Auch in der Psychotherapie geht es häufig darum, in sich zu lauschen und sich in Bereichen umzuschauen, die man zuvor nie beachtete, um eben diese Linien zu erkennen. Und auch die Lebenserfahrung lehrt uns, wacher zu werden. Bewusst zu leben ist sicher eine der abgedroschensten Phrasen. Neuerdings Achtsamkeit genannt. Aber was ist das eigentlich? Einerseits ist es der Versuch aus der Routine auszubrechen, unser Leben in semibetäubter Halbautomatik wieder mit Empfindungen zu füllen. Andererseits wird es zum Bumerang, wenn man nun versucht, alles ganz bewusst zu erleben, weil man dann in unausgesetzter Selbstbeobachtung lebt und sich fortwährend kontrolliert, ob man auch bewusst genug erlebt und nicht etwa oberflächlich wird. Ein letztlich auch nur narzisstisches Kreisen um sich selbst, das das verstärkt, was es eigentlich aushebeln will.
Dieser Versuch Bewusstheit zu erlangen ist als mehr und anders. Es ist das subtile Gleichgewicht, bei dem man sich selbst vergessen kann, weil man ganz in einer Tätigkeit aufgeht, die einen bis zum letzten Moment erfüllt, gleichzeitig aber keine monotone Routine, kein versteinertes Zwangsritual ist. Wenn Ritual, dann eines, in dem Sinne, dass man etwas mit Bewusstheit erfüllt und ausfüllt.
Aber wie kann man bewusst sein, ohne sich sklavisch selbst zu beobachten, also nur ums eigene Ich zu kreisen? Indem man in eine Art von Flow kommt. Man wird ganz eins mit einer Sache, mit etwas und vergisst sich dabei. Das passiert am ehesten in den Bereichen, die man sehr gerne macht und – beides fließt oft zusammen – in denen man talentiert ist. Man tut diese Dinge freiwillig, sie gehen einem gut von der Hand und irgendwann vergisst man sich wirklich selbst oder wird, auf die stets sonderbare Weise der Gipfelerfahrungen eins mit dem, was man macht.
Sehr viele Menschen kennen das, aber dennoch sind es seltene Momente. Man kann sie durch Training öfter erleben, aber wir nehmen uns oft nicht die Zeit dafür. Wir wollen oft schneller fertig und effizienter werden. Aber auch bei uns kann sich etwas anderes einstellen. Eine Art, oft von Intuitionen geleiteter Wachheit, die nicht das Ziel hat, jeden Moment wach zu erleben – die besten der Yogis sagen uns, dass dies sogar im Tiefschlaf möglich sein soll – aber so etwas wie ein Gespür für wichtige Augenblicke entwickelt, in denen man dann ganz da und präsent ist. Damit sind nicht unbedingt Gefahrenmomente gemeint, sondern entspannte Situationen, in denen man Gespräche von ungewöhnlicher Tiefe führt. Etwas in der Natur beobachtet, das einen ergreift. Die Liebenswürdigkeit in den Schrullen anderer entdeckt und einfach merkt, wann man da sein muss. Aber auch jene Momente, in denen wir überfordert sind, nicht weiter wissen, die quälend sind.
Die einige von uns so oft peinigende Langeweile resultiert daraus, dass in einem Leben alles zur Routine erstarrt ist und sämtliche Lebendigkeit fehlt, die ja grundsätzlich auch immer da wäre. Oder daraus, dass man sich auf Welt und andere nicht einlassen kann und stets nur im eigenen Saft kocht.
Ein guter Test
Wenn man sich fragt, wie bewusst man lebt, kann einen einfachen Test machen: Gesetzt, ich würde morgen sterben, wie fiele dann meine private Lebensbilanz aus? Hat es sich gelohnt, dieses Leben, mein Leben?
Natürlich ist das auch eine Altersfrage, inklusive der Hybris, mit 20 der Überzeugung zu sein, man hätte bereits weitaus mehr erlebt, als die meisten anderen mit 80, weil man doch so krass, so intensiv lebt. Hier ist dann in der Regel tatsächlich die Lebenserfahrung korrigierend, obwohl man in dieser Zeit der jungen Jahre, die tatsächlich wahnsinnig intensiv und dicht sein können, das authentische Gefühl haben kann, man sei bereits übervoll mit Lebenserfahrung.
Später erlebt man, dass anderes, was vielleicht weniger knallt, ebenfalls intensiv sein kann und auch, dass grelle und Reize nicht alles sind, nicht mal alles, was einen befriedigt.
Wer der Auffassung ist, das Leben hätte sich nicht gelohnt, nicht etwa, weil alles schief gelaufen ist, sondern weil man einfach noch nicht die Zeit hatte sich um das zu kümmern, was einem etwas bedeutet und es stets ‚Wichtigeres‘ gab, was noch getan werden musste (wirklich?), der oder die könnte etwas nachjustieren. Die gute Nachricht ist die, dass man wirklich überall im Leben anfangen kann. Es geht nicht darum, was man erlebt, sondern wie und den Regler für mehr Bewusstheit kann man in jedem Moment höher drehen.