Um es gleich vorweg zu nehmen: Das Buch „Sexuelle Komplextraumata: Das Innere-Kinder-Retten als wirksames Verfahren der sanften Traumaverarbeitung“ der Psychotraumatherapeutin Gabriele Kahn sollte zur Pflichtlektüre erklärt werden für alle diejenigen, die therapeutisch mit Menschen arbeiten. Diese Empfehlung gründet auf der Annahme, dass weitaus mehr Menschen an einer Komplextraumatisierung leiden, als bisher bekannt ist. Die Betroffenen werden lediglich oft nicht als solche identifiziert.

Die Autorin ist aufgrund ihrer Erfahrungen zu der Überzeugung gelangt, dass sich sexuelle Traumata nicht mit den „gewöhnlichen seelischen Verletzungen“ vergleichen lassen, sondern sich deutlich von allen anderen Traumata unterscheiden.
Infolge von sexuellem Missbrauch kommt es zu einer komplexen Post-Traumatischen-Belastungs-Störung (komplexe PTBS), die sich noch einmal besonders schwer auswirkt, wenn die Übergriffe durch nahestehende Bezugspersonen erfolgten.
Eine komplexe PTBS ist oft lange Zeit nicht erkennbar, weil die Betroffenen durch den Abwehrmechanismus der Abspaltung zunächst relativ frei von Symptomen sind. Erst zu einem späteren Zeitpunkt melden sich die abgespaltenen Teile durch unterschiedliche Symptome immer deutlicher, weil sie wieder in die Persönlichkeit integriert werden wollen. Das ist meist der Zeitpunkt, an dem sich die betroffenen Menschen in therapeutische Behandlung begeben.

Eine Persönlichkeitsspaltung dient der Rettung in höchster Not

Ausführlich und verständlich erklärt die Autorin, wie es zu einer Persönlichkeitsspaltung – einer sogenannten „strukturellen Dissoziation“ – kommt: In einer bedrohlichen Situation, in der weder Flucht noch Kampf möglich sind, gewährleistet ein Abwehrmechanismus das psychische Überleben: Das Bedrohliche wird abgespalten.

Bei diesem automatischen Vorgang, ohne den ein Kind ein so schweres Trauma psychisch nicht überleben könnte, spaltet sich die Psyche in zwei Teile auf, sodass von nun an eine Persönlichkeitsspaltung entsteht: Der betreffende Mensch beherbergt von nun an einen Anteil, der weitgehend frei von der erlebten traumatischen Erfahrung ist und demzufolge weitgehend „normal“ wirkt. Deshalb wird dieser „Anscheinend normaler Persönlichkeitsanteil“ (ANP) genannt.
Dahinter verbirgt sich der andere Anteil, der als „Emotionaler Persönlichkeitsanteil“ (EP) bezeichnet wird. Dieser ist vom ersteren völlig verschieden; in ihm sind alle Trauma-Erinnerungen und die damit zusammenhängenden unerträglichen Gefühle untergebracht. Deswegen ist er zu großen Teilen ins Unbewusste verbannt.

Trotz der strikten Trennung ringen beide Teile unerlässlich miteinander: Der ANP will mit Traumata nichts zu tun haben, sondern möglichst den Schein einer „normalen“ Persönlichkeit herstellen, während der EP auf die Notwendigkeit einer Verarbeitung der traumatischen Ereignisse hinweisen will. Deshalb meldet er sich mit den verschiedensten Symptomen. Die Betroffenen werden keine Ruhe finden, denn ihre Psyche hat einen starken Drang nach ganzheitlicher Heilung.

Heilung ist möglich

Nach Meinung der Autorin sollte eine solche ganzheitliche Heilung eigentlich das Ziel jeder Traumatherapie sein: die traumatischen Erfahrungen müssten wieder integriert werden. Wenn nur eine Stabilisierung der Betroffenen erfolgt, besteht die Gefahr, dass die Symptome zurückkehren.

Doch in der Vergangenheit gab es bei schwereren und komplexen Traumatisierungen keine Möglichkeit, eine Therapie erfolgreich abschließen zu können, weil es an Strategien fehlte, die abgespaltenen Anteile zu erreichen und die unerträglichen Erinnerungen in schonender Weise wieder in die Persönlichkeit integrieren zu können. Deshalb gab es bisher wenig Hoffnung auf eine umfassende Heilung für Menschen mit einer Komplextraumatisierung. Und selbst heute noch sind viele Therapeutinnen und Therapeuten der Meinung, dies sei nicht möglich.

Es wurden überhaupt erst seit den 1980er Jahren neue Methoden für die Behandlung schwer traumatisierter Menschen entwickelt, da erkannt worden war, dass sich alle herkömmlichen Verfahren nicht für diese spezifischen Traumata eigneten.
Dann hat es noch einmal 30 Jahre gedauert, bis von Gabriele Kahn mit dem tiefenpsychologisch fundiertem Ansatz „Innere-Kinder-Retten“ (IKR) ein wirklich heilversprechendes Verfahren vorgestellt werden konnte.
Mit ihrer imaginativen Arbeit, welche sie ausführlich beschreibt, lassen sich selbst schwerste Traumata heilen; das bedeutet, dass die einst erlebten traumatischen Geschehnisse zu abgeschlossenen Erfahrungen der Vergangenheit werden und die Betroffenen ein „normales Leben“ führen können.

Während die meisten Traumatherapieverfahren noch von der Prämisse ausgehen, ein detailliertes Durchleben der frühen Traumata sei für die Traumaverarbeitung unerlässlich, hält die Autorin die damit verbundene Überforderung der betroffenen Menschen für zu riskant, denn es kann dadurch zu erneuten Abspaltungen kommen.

Andererseits müssen die abgespaltenen Anteile erreicht und identifiziert werden, da sie nur so aus der Abspaltung erlöst und wieder in die Persönlichkeit integriert werden können. Doch wie sollte das geschehen?

Der Einsatz von imaginierten Helfern

Man könnte es durchaus als Geniestreich bezeichnen: Gabriele Kahn kam auf die Idee, ihre imaginative Arbeit dahingehend zu modifizieren, dass sie künftig ihre Klientinnen anwies, Helferinnen und Helfer im Innern zu konstituieren, um diese – quasi stellvertretend – zu den traumatisierten und abgespaltenen Anteilen zu schicken. Während sich der Erwachsene imaginativ an ihren sicheren Ort begibt, führen die Hilfspersonen die Traumaanteile aus ihrem leidvollen Dasein heraus und begleiten sie zu einem sicheren und vor allem idealen Ort, der ebenfalls in der Vorstellungswelt errichtet wurde.
Dieser Rettungseinsatz, der max. 15 Minuten dauert, verlaufe ausnahmslos erfolgreich.

Da eine Überflutung von Traumagefühlen durch Exposition vermieden wird, zeichnet sich diese schonende, sanfte Methode der Traumatherapie als eine Besonderheit aus. Der Entlastungseffekt sei in der Regel sofort spürbar. Symptome, die mit dem geretteten Anteil verbunden waren, treten nicht mehr auf.
Das „gerettete Kind“ bleibt für immer am sicheren, idealen Ort mit seinen idealen, bedürfnislosen Helferinnen und Helfern, die dem Kind verlässlich zur Seite stehen; es erfolgt keine Rückkehr in die Alltagssituation – da diese nie ideal sein kann.
Nach und nach wird dann der aus der Abspaltung befreite Anteil durch die unbewusste Selbstheilungskraft völlig integriert.

Es funktioniert

Die Diplom-Psychologin, die eine Ausbildung in tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie, Gestalttherapie und imaginativer Traumatherapie absolviert hat, sowie zahlreiche Fortbildungen (EMDR, Brainspotting, Hypnotherapie und Ego-State-Therapie) nachweisen kann, konnte in über einem Jahrzehnt hinreichende Erfahrungen mit dem von ihr entwickelten genialen Vorgehen sammeln, sodass sie heute behaupten kann: Es funktioniert!

Die Autorin gibt einen umfassenden Überblick über den aktuellen Stand der Komplextraumatherapie-Methoden. Nach einer Beschreibung der jeweiligen Methode in Kurzform erfolgt ein Kommentar, eine Einschätzung und eine Beurteilung des zu erwartenden Nutzens.
Dieser Überblick ist sicher nicht nur für Betroffene, die auf der Suche nach einer geeigneten Therapie sind, von großem Wert, sondern auch für all jene, die therapeutisch mit Menschen arbeiten. Denn immerhin soll die Hälfte aller Erwachsenen, die in ihrer Kindheit sexuell traumatisiert worden sind, keine Erinnerung mehr daran haben. Sie kommen deshalb gar nicht auf die Idee, sich in eine Traumatherapie zu begeben. Ihre Amnesie kann das gesamte Leben bestehen bleiben. Dadurch bleibt es für diesen Personenkreis oft ein Rätsel, weshalb sich die Symptome trotz verschiedenster Therapieverfahren einfach nicht auflösen wollen.
Wirkliche Heilung kann jedoch nur dann eintreten, wenn fundiertes Wissen vorhanden ist, welches es ermöglicht, nach und nach die Amnesien aufzulösen und die entsprechenden Traumata zu integrieren.

Meiner Einschätzung nach kann das 2018 erschienene Werk als das beste Fachbuch über sexuelle Traumatisierung angesehen werden. Das liegt nicht zuletzt daran, dass sich die Autorin in sexuell missbrauchte Menschen einfühlen und deren zunächst eigentlich unverständliche Fühl- und Verhaltensweisen vor dem Hintergrund der traumatischen Erfahrungen erläutern und verstehbar machen kann. Der gesamte Text wirkt, als hätte die Autorin ihn mit dem liebevollen Blick einer „guten Mutter“ verfasst. Ihre Ausdrucksweise ist sanft, mitfühlend, von einem tiefen Verständnis für die bisher allgemein unverstandenen Vorgänge eines traumatisierten Menschen.

Eine neue Sicht auf Selbstheilungsprozesse

Neben der ausführlichen Darstellung der Methode des „Innere-Kinder-Retten“ (IKR) enthalten beide Bücher der Autorin einen Überblick über die – zum Teil bisher noch gar nicht zugeordneten – Folgen der komplexen PTBS.

Zunächst aber wird eine völlig neue Sichtweise der Selbstheilungsprozesse vermittelt: Nach einem Trauma, so erklärt die Autorin, beginnt die Selbstheilungskraft sofort mit ihrer Arbeit und versucht – oft mithilfe von Reinszenierungen – eine vorsichtige Annäherung an das traumatische Erlebnis herzustellen. Auf diesem Wege wird Heilung gesucht.
Vor allem für Betroffene dürfte dieser Hinweis zu großer Entlastung führen. Wissen sie doch nun, dass ihr zeitweiliges unerklärliches Verhalten einen Sinn hat(te). Auch quälende Schuldgefühle aufgrund von masochistischen Tendenzen können sich auflösen, weil hierin Reinszenierungen zur Traumaverarbeitung erkannt werden. Selbst das Festhalten an Gewaltbeziehungen lasse sich als Reinszenierung deuten. Dass hier jeweils die Selbstheilungskräfte am Werk sind, wird bisher von den wenigsten durchschaut.

Viele weitere Erklärungen bezeugen das außerordentliche Fachwissen der Autorin, das weit über das hinausreicht, was allgemein bekannt ist. So erkennt die Autorin in vielen Phänomenen, vor denen die Öffentlichkeit bisher noch „Warum?“ fragend steht, Folgestörungen sexuellen Missbrauchs:

  • Essstörungen
  • Zwangshandlungen
  • Süchte
  • Unbewusste Suizide (lebensbedrohliche Unfälle)
  • Aggressionen bis hin zu „Killerwut“ (Peter Levine)
  • Amokläufe u.v.m.

Ein Werk, das große Aufmerksamkeit verdient

In Anbetracht der Relevanz dieser Erkenntnisse – sowohl für die Betroffenen als auch für die Gesellschaft – ist es schwer nachzuvollziehen, weshalb die eindrucksvollen Werke bisher noch nicht die Aufmerksamkeit gefunden haben, die ihnen meiner Meinung nach gebührt.

Vielleicht liegt es am Titel? Vielen Menschen ist die „Arbeit mit dem inneren Kind“ bekannt; ein ebenfalls imaginatives Verfahren. Die Autorin weist jedoch ausdrücklich darauf hin, dass ihre Methode nicht damit verwechselt werden darf. Das „Innere-Kinder-Retten“ sei keine Variante der „Arbeit mit dem inneren Kind“, auch wenn die Bezeichnung und die Titel der Bücher entsprechende Assoziationen wecken. Das weiß aber nur, wer das Buch auch gelesen hat.

Darüber hinaus wäre ein weiterer, gewichtigerer Grund vorstellbar: Sexueller Missbrauch wird zwar zunehmend in der Öffentlichkeit thematisiert. Die Medien berichten regelmäßig über Missbrauchsfälle in den Kirchen, in den Schulen und aktuell über jene, die sich auf einem Campingplatz ereignet haben. Demgegenüber hat es der sexuelle Missbrauch innerhalb von Familien bisher noch nicht geschafft, aus der Tabuzone herauszukommen. Doch gerade hier geschieht er vieltausendmal.
Vor diesem Hintergrund würde sich erklären, weshalb die Methode des „Innere-Kinder-Retten“, die endlich eine berechtigte Hoffnung für alle Betroffene mit sich bringt, bisher weder von der Tagespresse noch von Rundfunk und Fernsehen vorgestellt worden ist.

Für das Fachpublikum sind die Ausführungen der Autorin sicher von großem Wert, doch scheint die Zeit auch reif zu sein für eine allgemeine Aufklärung. Solange die Hintergründe von komplexen Traumatisierungen und deren Implikationen nicht wirklich verstanden sind, verfehlen sämtliche ins Leben gerufene Maßnahmen ihre Wirkung. Es besteht im Gegenteil die Gefahr, dass sich die abgespaltenen Kindanteile dadurch nur noch weiter zurückziehen.

Die Autorin hält es für „erstaunlich, wie viel Verschüttetes mit dieser Methode nach und nach ans Licht gelangen kann.“ Da kann man nur wünschen, dass ihr die Gelegenheit gegeben wird, all dies einer breiten Öffentlichkeit mitzuteilen, auf dass sich ihre Methode durchsetzt. Wir alle würden davon profitieren: Unsere Welt wäre weitaus sicherer und freudvoller, wenn die Menschen mit komplexer PTBS wirkliche Heilung finden könnten, statt ihre schwere Störung auf vielfältigste Weise ausagieren zu müssen. Ganz abgesehen davon, dass dadurch die Weitergabe an die nächste Generation aufgehalten werden könnte.

Sprache: deutsch
Amazon.de-Link: Sexuelle Komplextraumata: Das Innere-Kinder-Retten als wirksames Verfahren der sanften Traumaverarbeitung
ISBN-10: 3837927814
ISBN-13: 978-3837927818
Verlag: Psychosozial-Verlag
Veröffentlicht: 2018
Preis: 32,90 €
317 Seiten

geschrieben von Dr. Barbara Kiesling, Berlin