Eine hochfunktionale Depression sieht man nicht auf den ersten Blick, oft nicht einmal die Betroffenen selbst. Sie funktionieren im Alltag, haben einen Job, vielleicht auch eine Partnerschaft. Doch trotzdem fühlen sie sich im Inneren leer. Es mangelt ihnen an Energie und Freude. Bei den meisten Menschen vergehen Jahre, ehe ihnen bewusst wird, dass ihr Gefühlsleben durch Symptome gekennzeichnet ist, für die sie Hilfe in Anspruch nehmen können.
Hochfunktionale Depression: Wie sie aussehen kann
Menschen, die von einer hochfunktionalen Depression betroffen sind, meistern ihr Leben oft. Zieht man die externen Kriterien für ein gutes Leben heran, so gehören sie häufig zu den Menschen, die man auf der Positivseite des Lebens einordnen würde. Sie haben einen Job, den sie mit Zuverlässigkeit ausführen, und sind darin nicht selten sogar erfolgreich. Manche haben eine Partnerschaft, die über mehrere Jahre besteht. Sie haben vielleicht Familie und Kinder. Sozial können sie gut eingebunden sein, einen Freundeskreis haben – und dennoch fühlen sie sich innerlich leer und ausgebrannt. Über Monate oder Jahre. Immer wieder gibt es Phasen, die von Schwermut gezeichnet sind. Manche sind emotional niedergeschlagen, können kaum positive Gefühle spüren. Die empfundene Hoffnungslosigkeit geht mitunter so weit, dass sie suizidale Gedanken entwickeln.
Jahrelanges Verschließen vor sich selbst
So wie die meisten Personen in ihrem Umfeld bei den Betroffenen keine typischen depressiven Symptome zuordnen würden, so verschließen sich die Erkrankten selbst oft auch jahrelang vor einem Eingeständnis. Es passt schlichtweg nicht in ihr Bild von einem Leben. Sie haben doch alles, was ein erfolgreiches Leben ausmacht, werden sie sich sagen. Für sie gibt es keinen Grund, sich schlecht zu fühlen. Menschen mit einer hochfunktionalen Depression stoßen weniger auf Verständnis in ihrem Umfeld bezüglich ihrer Symptome, weil sie eben »alles haben«. Demzufolge laufen sie eher Gefahr, trotz des Leidensdruckes keine Hilfe aufzusuchen. Weil eben trotz des offenkundig guten Lebens etwas an ihnen nagt und sie regelrecht aushöhlt.
Hochfunktionale Depression: Klinische Einordnung
Erfahrene KlinikerInnen sprechen nicht von »der Depression«. Es gibt nicht »die Depression«, sondern Depressionen oder depressive Störungen entsprechen einer Gruppe mit zahlreichen Ausprägungen. Die Erscheinungsbilder von Depressionen sind so unterschiedlich wie die Betroffenen selbst. Manche Betroffene glauben nicht »genügend depressiv« zu sein, um depressiv zu sein. Manche Diagnose-Checklisten würden oberflächlich betrachtet vielleicht gar keine depressive Symptomatik ergeben. Andere klinische Erscheinungsbilder passen weder so richtig in eine Major Depression, noch in eine Dysthymie, noch in eine atypische Depression oder in andere Ausprägungen affektiver Störungen.
Bandbreite emotionalen Erlebens berücksichtigen
Einige PsychiaterInnen, PsychotherapeutInnen und PsychologInnen gehen immer mehr dazu über, die klinischen Diagnoseinstrumente zwar für eine grobe Zuordnung zu berücksichtigen, jedoch diese nicht als endgültige dichotome Einordnung anzusehen. Eine solche Sichtweise tut nicht zuletzt den PatientInnen gut, deren Bandbreite an emotionalem und kognitivem Erleben durch eine Zuordnung (ja/nein) sicherlich nicht genüge getan wäre. Denn viele psychisch Erkrankte sprechen von einem regelrechten Diagnosedschungel, durch den sie gegangen sind, weil ihre Symptomatik mehreren Erscheinungsbildern zugeordnet werden kann, und sie fühlen sich dennoch nicht richtig gesehen. Deshalb kann der neue, auch von der ICD-11 verfolgte Ansatz als zeitgemäßer und patientenfreundlicher angesehen werden.
Anzeichen einer hochfunktionalen Depression
Doch wie kann sich eine hochfunktionale Depression äußern?
Betroffene einer Atypischen Depression unterscheiden sich von der „typischen Depression“ in der Art, Anzahl oder Dauer der Symptomatik. Die gedrückte Stimmung der Betroffenen kann durch äußere Umstände verändert werden, sodass Momente von Freude auftreten können. Symptome wie ein gesteigertes Schlafbedürfnis und vermehrter Appetit, Kritikempfindlichkeit, Empfindlichkeit vor sozialer Zurückweisung und Gefühle von Taubheit oder Schwere der Gliedmaßen können auftreten. Betroffene einer Atypischen Depression führen ihr Leben oft oberflächlich weiter – sie nehmen an sozialen Aktivitäten teil, fühlen sich jedoch anschließend häufig ausgelaugt. In diesem Zusammenhang kann eine Atypische Depression auch als „hochfunktionale Depression“ bezeichnet werden.
zitiert nach Oberberg Kliniken
Und ferner:
Betroffene einer Dysthymie, einer Form der chronischen Depression, zeigen über mindestens zwei Jahre depressive Beschwerden. Diese sind im Schweregrad leichter ausgeprägt als bei einer typischen Depression, bestehen jedoch länger fort. Betroffene können bis zu einigen Wochen eine normwertige Stimmung aufweisen, zeigen dann aber wieder Phasen mit depressiver Verstimmung und eingeschränktem Wohlbefinden. Aufgrund der nicht durchgängigen und teilweise mild-depressiven Symptomatik, können Menschen mit einer Dysthymie auf Außenstehende als wenig belastet wirken und als „hochfunktional depressiv“ bezeichnet werden.
zitiert nach Oberberg Kliniken
Nach außen hin: alles gut
Betroffene, die an einer hochfunktionalen Depression leiden, funktionieren im Alltag meist auf ausreichendem Niveau. Auch zeigen sie oft je nach der Situation angemessene Gefühle und weisen Empathie und Einfühlungsvermögen auf.
Hinter der Fassade: Düstere Gedanken, allgemeine Traurigkeit
Zu Hause (zum Beispiel nach Feierabend) können eine innere Leere, Erschöpfung, Traurigkeit und ein Gefühl, überfordert zu sein, zutage treten. Innerlich stoßen die Betroffenen an ihre Grenzen. Obwohl im Äußeren objektiv vielleicht alles in Ordnung ist und sie doch eigentlich zufrieden sein müssten, fühlen sie sich ausgebrannt und nicht selten auch kognitiv und emotional ans Limit gebracht.
Mehr Schlaf und Heißhunger
Die klassische Depression wird durch drei Hauptsymptome definiert: eine tiefe, ununterbrochene Niedergeschlagenheit, Freudlosigkeit und ein Interessenverlust. Bei der atypischen, übrigens rund ein Drittel aller Depressionen, sagt Rein (Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie der Oberberg Tagesklinik in München Bogenhausen, Anm. der Redaktion), können die Menschen noch Freude empfinden, haben meist einen übersteigerten Appetit und ein hohes Schlafbedürfnis.
zitiert nach Carina Schroeder, Deutschlandfunk Kultur
Betroffene weisen also nicht unbedingt Schlaflosigkeit oder Appetitlosigkeit auf. Stattdessen haben sie ein erhöhtes Schlafbedürfnis und Heißhunger-Attacken. Zur Kompensation treten möglicherweise andere suchtähnliche Verhaltensweisen auf wie zum Beispiel Alkoholmissbrauch. Manche haben ein schweres Gefühl in den Armen und Beinen und fühlen sich irgendwie betäubt.
Perfektionismus und Leistungsstreben
Betroffene sind nicht selten von Versagensängsten geplagt. Sie haben einen gewissen Anspruch an ihr Funktionsniveau. Demzufolge müssen etwaige entspannende Freizeitgestaltungen nicht selten weichen. Die innere Erholung bleibt versagt.
Sozial weitestgehend unauffällig
Da das Leben mit einer hochfunktionalen Depression trotz allem von einer gewissen Effizienz und einem Funktionieren gezeichnet ist, sind Betroffene im sozialen Umfeld nicht auffällig. Das heißt, sie ziehen sich nicht unbedingt wie viele an einer klassischen Depression Erkrankte sozial zurück und isolieren sich. Sondern sie glauben oft, auch sozial weiter funktionieren zu müssen.
Vielleicht weisen Betroffene manches Mal eine gewisse Gereiztheit auf, jedoch im Großen und Ganzen findet bei einigen das Netzwerken mit Arbeitskollegen oder die Treffen mit den Freunden durchaus statt. Aber der Preis ist ein höherer als bei anderen Menschen. Denn Betroffene mit einer hochfunktionalen Depression fühlen sich nach sozialen Kontakten erschöpft und ausgelaugt. Außerdem besitzen sie überaus feine Antennen für soziale Bewertungen und Zurückweisungen oder unterschwellige Kritik und können schwerer mit Kritik umgehen.
Erscheinungsbild: Ausprägungen auf einen Blick
In Anlehnung an die Oberberg Kliniken ist eine hochfunktionale Depression oftmals durch folgende Ausprägungen gekennzeichnet:
- vermindertes Erleben von Freude, aber situationsbedingt reaktiv durchaus ein Gefühl von Freude möglich
- hohe Standards an sich selbst und andere; vermehrte Kritik gegenüber anderen Personen und der eigenen Person
- Starke Selbstzweifel, Minderwertigkeitserleben
- Gefühl von Traurigkeit, Erschöpfung und Ausgebranntsein
- Anzeichen einer Fatigue, das heißt, das Schlafbedürfnis scheint unstillbar, die Gliedmaßen sind schwer, eventuelle Konzentrations- und Entscheidungsprobleme, gefühlt weniger leistungsfähig, weniger Motivation, höhere emotionale Empfindlichkeit
- schnell zu verunsichern und mitunter stark empfundene negative Gefühle wie Wut und Ärger
- sich schnell gestresst, überfordert und überbeansprucht fühlen
- viel Sorgen, Grübeln, eventuell geplagt sein von Schuldgefühlen und Verantwortungsgefühl
- Heranziehen von ungesunden Bewältigungsstrategien, mitunter Suchtmechanismen zur Kompensation
- Wunsch nach Perfektionismus und Versuch, Perfektionsstreben umzusetzen
- Entspannung kann schwerlich verschafft werden; schlechter zur Ruhe kommen
- Komorbidität mit anderen psychischen Erkrankungen wie Suchterkrankungen, Angsterkrankungen, Panikattacken oder Essstörungen
Wenn die Psyche klopft
Für eine hochfunktionale Depression gibt es bisher keine standardisierte Diagnostik, weshalb die hier aufgeführten Kriterien lediglich die Ausprägungen grob umreißen können. Das klinische Feld der hochfunktionalen Depression bedarf weiterer klinischer Forschung. Selbstredend dienen die Kriterien nicht einer Eigendiagnose. Solltest du Anzeichen einer hochfunktionalen Depression bei dir erkennen, ist eine professionelle Diagnostik angeraten, um den individuellen Leidensdruck zu verringern und mit einer professionellen klinischen beziehungsweise psychoambulanten Versorgung eine höhere Lebensqualität wiederzubringen.
Das ständige Aufrechterhalten der Fassade kostet Anstrengung. Viele Betroffene haben sich »irgendwie und halbwegs« an die regelmäßige Überbeanspruchung gewöhnt. Sie haben verlernt, auf ihre Bedürfnisse zu hören. Viele glauben, es stünde ihnen nicht zu, um Hilfe zu bitten, weil sie sich nicht »krank genug« fühlen. Doch damit würden sie einem immerwährenden Teufelskreis den Vorzug geben. Durchbreche ihn! Der Weg in die psychologische Behandlung für eine hochfunktionale Depression ist der erste Schritt in eine wohlwollende Richtung voller Selbstmitgefühl und Selbstfürsorge.
Ein weiterer Artikel in Bezug auf die hochfunktionale Depression findet sich hier: Ursachen einer hochfunktionalen Depression: Woher kommt die innere Leere?.