Sigmund Freuds Psychoanalyse wird gerne vorgeworfen, sie würde sich übermäßig stark auf Sexualität beziehen. Das ist insofern nicht ganz richtig, als Freud Sexualität unter anderem als Aufhänger für menschliche Beziehungen verstanden hat (ähnlich wie Marx den Begriff der Arbeit), zum anderen ist es so, dass sexuelle Tabus auch heute noch Bestand haben, freilich anders, als wir oft glauben.
Zeitalter der Pornographie
Nie war der Zugang zu pornographischen Darstellungen leichter als heute, selbst Kinder auf dem Schulhof können via Handy pornographische Filme und Bilder konsumieren. Beim Rest der Gesellschaft ist Pornographie als Bestandteil der Subkultur akzeptiert und es gibt eine breite Einigung, nicht offen darüber zu reden. Unter Freunden vielleicht, aber man würde den Chef nicht zu einem entsprechenden Filmabend bitten.
Wie die Folgen davon sind, kann man noch nicht abschätzen, offenbar kommt es – es wäre nicht das erste Mal so – nicht zu einer Verrohung der Sitten, sondern im Gegenteil zu einer eher puritanischen Gegenbewegung bei der Jugend.
Aber wenn Sexualität allgegenwärtig ist, in den Werbeblocks und in Anspielungen in weiten Teilen der Gesellschaft, was sind dann überhaupt sexuelle Tabus?
Das Tabu der Unvereinbarkeit von Leidenschaft und Sorge
Pornographie, die explizite Darstellung von Sexualität unter Ausblendung komplexerer Beziehungen, ist die eine Seite, konträr dazu gibt es aber eine explizite Leugnung von Sexualität in der Mainstream-Unterhaltung. Konkret ist es die sexuelle Leidenschaft und die Aspekte von Sorge, Zärtlichkeit und Beziehung, die nicht in Einklang gebracht werden können.
So ist die schöne heile (Phantasie-)Welt des Mainstreams betont asexuell. Ob Schlager, Vorabendserie oder Hollywoodfilm. Zwar gibt es angedeutete sexuelle Abenteuer, aber diese werden bestraft. Der Held mag aus der trauten Zweisamkeit ausgebrochen sein, die Rache folgt auf den Fuß (exemplarisch der Film: Eine verhängnisvolle Affäre).
Am Ende bereut der oft männliche Sünder seinen Fehltritt und kehrt demütig in den Schoß der Familie zurück, dort hin, wo man vor dem Alpenpanorama am reich gedeckten Frühstücktisch oft mit mehreren Generationen sitzt. Das Thema sexuelles Abenteuer, Lust und Leidenschaft ist erst mal gegessen, wir ahnen, hier werden nur noch Nachkommen gezeugt, die Fetzen fliegen hier nicht.
Wo die pornographische Darstellung das Über-Ich verdrängt, verdrängt die Mainstream-Darstellung das Es. In beiden Fällen fehlt etwas und die Zurückweisung einer Hälfte der Möglichkeiten ist in beiden Fällen alles andere als optimnal.
Nur ist es ungewohnt, eine „saubere“ Heile-Welt-Romantik als die andere Seite der Pornographie zu betrachten.
Die Integration
Es gibt ein Tabu hinsichtlich des Gelingens der Integration von Leidenschaft, Zärtlichkeit und Sorge. Eine Beziehung in Tiefe geht mit einem Verlust der Leidenschaft zwingend einher, heißt es. Man kennt sich und ein Prickeln ist offenbar zwingend an eine neue Beziehung gebunden. Das Bekannte muss langweilig werden und wer das Gegenteil behauptet wirkt suspekt.
Häufiger als Langeweile ist allerdings unterschwellige Aggression die Ursache für sexuellen Frust. Oft sind der Zeitmangel, die Arbeitsbelastung, die wechselseitige Bekanntheit nur Ratioanalisierungen dieser Verbote. Manche Paare haben regelmäßigen und befriedigenden Sex bis in ihre 80er Lebensjahre. Man weiß nicht, ob das Tabu der Unvereinbarkeit Ursache oder Wirkung ist.
Eine gelungene Integration hält erotische Leidenschaft aufrecht, ohne die Komplexität von erwachsenen Beziehungen (in der Regel begegnen sich auch beim Sex denkende Menschen), Sorge und Zärtlichkeit zu negieren.
Das Tabu der frühkindlichen Sexualität
In naturalistischen Settings beginnen kleine Kinder von unter einem Jahr spontan zu masturbieren. Dennoch gibt es ein Tabu hinsichtlich der (früh)kindlichen Sexualität, denen man – als hätte es Freud nie gegeben – allenfalls zugesteht irgendwann in der Pubertät sexuell zu erwachen, entgegen aller Forschung, die allerdings nicht gerade gefördert wird.
Brisant ist, dass das Thema aus der falschen Ecke aufgegriffen und versucht werden könnte sexuellen Kindesmissbrauch zu legitimieren. Damit genau das aber nicht geschieht, müssen sexuelle Tabus auch auf diesem Gebiet abgebaut werden, an Stelle einer Politik des Wegschauens.
Quelle:
- Otto F. Kernberg, Liebesbeziehungen: Normalität und Pathologie, Klett-Cotta /J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger; Auflage: 3., Aufl. (2007)