Ideologie

Ideologisch zu agieren oder argumentieren wird oft bestimmten Vertretern in der Gesellschaft unterstellt, nicht selten von ihren Gegnern. Die andere Seite sieht die Ideologie zumeist gerade anders herum verteilt, was wenig verwunderlich ist. Legt man den Fokus auf die vertikale Entwicklung, wie wir es hier tun, dann ist Ideologie keine Ausprägung einer bestimmten Stufe, sondern die Übertreibung jeder Stufe. Irgendwann kommt der Punkt, an dem jede Einstellung überzogen wird und ins Pathologische abdriftet.

Was ist nun an dem Wunsch das Ganze zu verbessern ideologisch? Er steht im Grunde quer zu allen früheren Entwicklungsstufen des Selbst und seiner Weltbilder, die immer bestimmte Gruppen oder Einstellungen bevorzugen. Nun kann man sagen, dass sie das auch aus gutem Grund tun, denn auf alle Rücksicht zu nehmen, ist besser als auf einige. Aber stimmt das überhaupt und vor allem, wenn es stimmt, hält sich das empfindsame Selbst eigentlich an die eigenen Vorgaben?

Im Grunde könnten Vertreter der Stufe des empfindsamen Selbst sagen, dass das tatsächlich so ist, da ihr Denken ungeheuer komplex und ihr Mitgefühl groß ist und nicht nur auf einem Gefühl, sondern auf einem tieferen Verständnis der Zusammenhänge beruht, man es also ganz einfach besser weiß, als die anderen. Aber hier stellen sie sich selbst ein Bein. Denn ihrem Wesen liegt meist eine ausgeprägte Hierarchiefeindlichkeit zugrunde und oft steht auch die Rationalität und das Begründen nicht hoch im Kurs.

Dabei geht die Skepsis des empfindsamen Selbst gar nicht unbedingt auf eine Ablehnung früherer Stufen zurück, sondern nur auf die Ablehnung ihrer Übertreibungen. Hierarchie muss nicht pathologisch oder gar zum Faschismus entarten und rationale Begründungen sind kein kaltes, emotional abgestumpftes Männerspiel. Im Gegenteil, das empfindsame Selbst steht hierarchisch weit oben und hat tatsächlich gute Gründe, aber oft auch eine panische Angst davor jemanden auszugrenzen. Und so hört es jeden an, möchte jede Meinung wichtig nehmen und wie eingangs gesagt, auch denen, die keine eigene Stimme haben, eine Stimme zu geben. Das ist wunderbar, besonders die einsichtsvolle Betonung, dass jemand oft kaum anders konnte, als zu werden, wie und was er ist.

Doch so richtig das oft sein mag, so problematisch ist es auch, denn es raubt dem anderen die Möglichkeit seinen eigenverantwortlichen und freien Weg durchs Leben zu gehen und es nötigt den anderen oft ein Maß an Toleranz ab, dass diese zu geben nicht bereit sind. Nicht jeder möchte Teil eines sozialen Experiments sein, zumal, wenn er das Gefühl hat, dass in puncto Mitgefühl und Toleranz in der Gesellschaft oft eine erhebliche Schieflage vorliegt.

Und hier richtet das empfindsame Selbst oft jede Menge Verwüstungen an. Es möchte so gern, dass die anderen so sind, wie es selbst und kann die Ablehnung auf die es stößt schwer ertragen oder tolerieren. Es mag die Menschen nicht, die nicht so empathisch und gutwillig sind, wie es selbst und hat eigenartig grobe Kategorien um damit umzugehen, entweder es pathologisiert diejenigen, die anderer Meinung sind und kann sich ihnen so im gewohnten Modus nähern (auch Du bist ein Opfer, Du weist es nur nicht) oder es lehnt sie harsch ab, man ist dann oft postwendend ein Unmensch, Rassist oder Nazi. Psychotherapeutisch ist eine zu starke Fixierung auf den Opferpol durchaus bedenklich, siehe Täter und Opfer oder ausführlich hier in Heilung.

Wenn Grenze fehlen

Tragisch ist, dass man das Verhalten harscher Ablehnung, mit dem sich das empfindsame Selbst heute bisweilen konfrontiert sieht, oft selbst gezüchtet hat. Jeden anzuhören ist sicher noch eine halbwegs gute Sache, aber Unsinn, Falsches und zu kurz Geesprungenes muss man nach der Anhörung als solches benennen dürfen, auch, wenn man damit Gefühle verletzt. Macht man aus allem eine andere interessante oder eigene Sichtweise, verzichtet man auf Grenzen und verliert die eigene Kontur und eine konsensfähige Größe der Objektivität. Man meint weiterhin, es sei nicht gut, andere auszugrenzen, lässt die Meinung derer, die andere Kriterien bevorzugen aber dennoch oft nicht gelten, ohne plausibel zu begründen, warum das so ist. Eigentlich möchte man sagen, dass die Haltung der anderen simpel und dass man einfach deutlich weiter sei, bekennt aber keine Farbe. Tatsächlich hat eben auch jemand der simpel gestrickt ist ein Recht auf eine eigene Meinung und natürlich eigene Gefühle zu dieser Meinung. Niemand glaubt ja, dass das, was er denkt und meint völliger Unsinn ist, sonst würde man es ja nicht vertreten. Dennoch gibt es erhebliche qualitative Unterschiede in der Argumentation, doch wenn man nie darauf besteht diese zu zu benennen und einzufordern, um niemandem zu nahe zu treten, kommt eben irgendwann die Quittung. Wenn die Großmeister des Absurden alles behaupten dürfen, man es ihnen aber nachsieht, dass sie es nicht begründen können oder wollen, ist das selbstverschuldete Unmündigkeit.

Jeder hat im Großen und Ganzen zwar seine private Meinung, allerdings ist diese nicht vollkommen anders als die einiger anderer und so man findet sich im Kreis bestimmter Menschen wieder, die ähnlich denken. Der Kreis der annähernd Gleichgesinnter kann sich aus mehreren Quellen speisen. Zum einen kann es sich auf Ähnlichkeit in den sozialen Milieus beziehen, wie wir sie hier dargestellt finden. Der regionale Einfluss, das Geschlecht und Temperament können eine gewisse Rolle spielen. Der größte Einfluss liegt meiner Ansicht nach aber in der hierarchischen Entwicklung des Bewusstseins, der einen, in die Nähe bestimmter Prämissen und Thesen über die Welt bringt. Und in diesem spezifischen Bereich der Entwicklung trifft man auch andere.

Menschen, die sich hier treffen müssen nicht immer einer Meinung sein, im Gegenteil, sie können sich auch bis aufs Blut bekämpfen. Die annähernde Gleichheit ihrer Entwicklung erkennt man daran, dass sie einem bestimmten Gebiet eine überaus große Bedeutung zumessen und eine bestimmte Art der Auseinandersetzung bevorzugen. Der Streit über Politik oder Religion könnten solche Themen sein. Ob man dabei politisch links oder rechts steht, religiös oder atheistisch eingestellt ist, spielt weniger eine Rolle, als die Art dessen, wie man mit diesen Themen umgeht.

„In Übereinstimmung mit Green vertrat ich die Ansicht, dass die Unfähigkeit, sich einem Wertesystem verpflichtet zu fühlen, das über Grenzen selbstsüchtiger Bedürfnisse hinausgeht, gewöhnlich eine schwere narzisstische Pathologie widerspiegelt. Die Verpflichtung gegenüber einer Ideologie, die sadistische Perfektionsansprüche stellt und primitive Aggression oder durch konventionelle Naivität geprägte Werturteile toleriert, gibt ein unreifes Ich-Ideal und die mangelnde Integration eines reifen Über-Ichs zu erkennen. Die Identifizierung mit einer „messianischen“ Ideologie und die Akzeptanz gesellschaftlicher Klischees und Banalitäten entspricht daher einer narzisstischen und Borderline-Pathologie. Dem gegenüber steht die Identifizierung mit differenzierten, offenen, nicht totalistischen Ideologien, die individuelle Unterschiede, Autonomie und Privatheit respektieren und Sexualität tolerieren, während sie einer Kollusion mit der Äußerung primitiver Aggression Widerstand leisten – all diese Eigenschaften, die das Wertesystem eines reifen Ich-Ideals charakterisieren. Eine Ideologie, welche die individuellen Unterschiede und die Vielschichtigkeit menschlicher Beziehungen respektiert und Raum für eine reife Einstellung zur Sexualität lässt, wird den Personen mit einem höher entwickelten Ich-Ideal attraktiv erscheinen. Kurz, Adorno, Green und ich stimmen darin überein, dass Ich- und Über-Ich-Aspekte der Persönlichkeit das Individuum zu übergroßer Abhängigkeit von konventionellen Werten prädisponieren. Es ist berechtigt zu sagen, dass der spezifische Inhalt des Konventionellen durch soziale, politische und ökonomische Faktoren beeinflusst wird: Die Universalität der Struktur der Konventionalität in der Massenkultur jedoch und ihre Attraktivität für die Massen sind nach wie vor erklärungsbedürftig.“[1]

Hier finden wir drei Entwicklungsstufen, von Kernberg dargestellt. Die Unfähigkeit sich einem Wertesystem zu verpflichten, die messianische Überhöhung und die differenzierte Vorstellung. Das empfindsame Selbst hat eine hoch entwickelte Sichtweise aber Ideale, die es ihm mindestens erschweren andere Positionen zurückzuweisen. Gelegentlich hört man zwar, so dürfe man nicht denken, aber es fehlt die Begründung und dann verflacht das Ganze mehr und mehr zu einer Masche. Wo Argumente ausgeblendet werden, wird das aber zu einer Entscheidung ‚auf der richtige Seite zu stehen‘, zu einer Glaubenssache. Dann wird es mitunter prekär, mehr dazu im zweiten Teil.

Dabei wären Argumente reichlich vorhanden. Unter dem Irrsinn der Selbstoptimierungsversuche ächzen heute viele, lagerübergreifend. Man muss nur verstehen, was dazu führt, sich auf diesen Irrsinn überhaupt erst einzulassen. Dass heute viel geredet wird, aber man zu dem nicht steht, was gesagt wird und dies sogar als normal angesehen wird, darf man kritisieren. Dass wir unser Leben den Anforderungen der Wirtschaft unterordnen sollten, wird richtigerweise als idiotisch erkannt, auch das quer durch alle ideologischen Lager. Demzufolge brauchen wir auch uns und andere Menschen nicht allein unter dem Aspekt der Nützlichkeit zu betrachten. Es ginge uns tatsächlich besser, wenn wir niemanden zurücklassen, aber dazu müsste man erklären, warum und nicht einige Gruppen bevorzugen.

Beispiele fände man reichlich, wird aus einzelnen Argumenten aber eine Glaubenssache, so werden einzelne Aspekte blockweise verarbeitet, gemäß der eigenen ideologischen Linie. Dann werden einige Gruppen und Projekte tatsächlich bevorzugt und das ist der kulturelle Kampf, den wir derzeit auf vielen Ebenen erleben. Auch das ist komplex. Man tauscht eine Denkfreiheit gegen eine Identität ein und beides ist für uns wichtig, vielleicht ist die kulturelle Identität, das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft noch grundlegender. Vor allem für die, die ansonsten ausgegrenzt sind.

Die Schatten des empfindsamen Selbst

Das empfindsame Selbst ist über beides, kulturelle Identität und Denkfreiheit bereits hinaus, in dem Sinne, den Wilber als zugleich bewahrend und negierend vorstellt. Etwas spielt noch immer eine Rolle, aber man ist nicht mehr ganz und gar darauf fokussiert und ausschließlich damit identifiziert. Man geht, mit anderen Worten, reifer und gelassener damit um.

Die Stufe des empfindsamen Selbst ist also hoch entwickelt, intelligent, fürsorglich, empathisch aber mit zwei zentralen Schattenbereichen ausgestattet, aus denen alle weiteren Problembereiche kommen, was dazu führt, dass nach Ken Wilbers Einschätzung, das empfindsame Selbst, was er grünes Mem nennt, zu eben jenem Mem wird, was die größten Probleme in die Welt bringt und das obwohl, oder gerade weil es ein ausnehmend wohlmeinendes Selbst ist. Er nennt die pathologische Übertreibung dieser Stufe „mean green meme“, fieses grünes Mem.

Wenn wir die Aussage des Mephisto in Goethes Faust, er sei eine Teil von jeder Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft umdrehen dürfen, dann könnte es in der Tat sein, dass es problematisch ist, wenn man zu viel Gutes will, weil dies zu jenem Gesinnungsterror führen kann, den das Wort „Gutmensch“ aufs Korn nehmen soll, wobei der Begriff inzwischen eine unappetitliche Eigendynamik entwickelt hat. Doch davon später.

Der Haken an der sympathischen Geschichte des empfindsamen Selbst ist, dass es auf seine Art ebenfalls gegen alle anderen Weltbilder steht, die es zuvor selbst durchlaufen hat. Es ist zwar einschließend, statt ausschließend, aber nicht im Bezug auf die anderen Weltbilder, die es radikal ablehnt. Überleben, Macht, Zweckrationalität, Gemeinschaft, Funktionalismus … sie alle sind wichtig, aber nicht ausreichend, doch das empfindsame Selbst macht einen Fehler. Dass es selbst über das, worüber es hinaus ist, nun entspannter sehen kann, ist schön, aber es hilft denen nicht, die noch auf diesen Stufen sind. Zu sagen, man solle den ganzen Kram d“ch hinter sich lassen, dies sei kleinkariert und unnötig, verkennt den Stufenprozess der Entwicklung.

Analog der langen Geschichte der Entwicklung des Bewusstseins der Menschheit wiederholen Kinder dieses Muster in ihrer Individualentwicklung. Sie kommen als kleine Narzissten zur Welt, lernen bald darauf aber auch zu kooperieren und wie wir bereits im Artikel Ein Grundpfeiler des Lebens und der Psyche: Aggression (1) feststellten, ist der Mensch sowohl ultrakooperativ, als auch ultraaggressiv. Ernsthaft zu glauben, dass Kinder von Natur aus lieb seien ist eine romantische Verklärung und dass sie keine Unterschiede machten, ist die Verwechslung einer Unfähigkeit etwas zu können – Kinder können nämlich bis zu einem bestimmten Alter mit komplexeren Regeln und Rollen noch nichts anfangen – mit der Fähigkeit etwas überwinden zu können, zu verwechseln. Wir brauchen Klischees, Stereotypen und Vorurteile, mit anderen Worten grobe Raster und Muster, um uns zu orientieren.

Zu glauben, dass man diese Stufe aber nie wieder verlassen kann, wenn man sie einmal erreicht hat und die daraus resultierende Skepsis gegenüber Hierarchie und Gehorsam, sind verständlich. Aber auch ein verständlicher Irrtum ist falsch und ein Entwicklungspessimismus, der unbegründet ist. Man hat Angst, dass die Kinder hier hängen bleiben und für immer in eine falsche Richtung geprägt werden und anstatt zu freien Menschen zu gehorsamen und fügsamen Anhängern verrückter Ideologien werden. Dabei ist das empfindsame Selbst der beste Gegenbeweis. Doch fällt ihm selten etwas Besseres ein, als den Kontakt zum ‚Bösen‘ möglichst zu vermeiden. Der Ödipuskomplex kommt heute immer seltener vor, was keine gute Botschaft ist, denn wir brauchen ihn dringend. Väter und Männer haben im öffentlichen Ansehen einen eher schweren Stand. In der Tat sind Autoritäten heute so angekratzt wie kaum jemals zuvor. Man glaubt niemandem mehr etwas: Politik, Wirtschaft, Journalismus oder Wissenschaft, alle befinden sich in einer Vertrauenskrise.