Orientierung

Warnung vor Extremismus. © Jeff Barnes under cc
Unsere Zeit des Pluralismus definiert sich darüber, dass sie einen sehr weiten und toleranten Raum anbietet. So schön diese Freiheit ist, sie ist auch ein Stück weit unscharf, muss es vermutlich sein. Ein Sprung vom Konkreten ins Abstrakte, von der moralisch konkreten Anweisung zum ethischen Prinzip. Das wird nicht von allen Menschen als gut und befreiend empfunden, weil es dem Individuum zwar sagt, es könne machen, was es will, aber nicht sagt, was richtig und falsch ist. Auf manche Menschen wirkt das zu unkonkret und Wischiwaschi, sie wollen lieber klare Rollen und Zuordnungen, Orientierung im Leben.
Patriarchales Modell
Extremistische Gruppen bieten fast durch die Bank ein patriarchales Modell an. Das bedeutet in aller Regel einen starken, männlichen Anführer zu haben, dessen Autorität nicht infrage gestellt wird und insgesamt eine recht hierarchische Einteilung. Das mag nicht jeder, aber die, die es mögen, wissen, wo sie stehen. Vielleicht, wenn sie noch Novizen in der Gemeinschaft sind, ganz unten, aber dafür ist ihre Gemeinschaft eine Wahlverwandtschaft und dort überhaupt Mitglied sein zu dürfen, wird bereits als Privileg empfunden.
Auch wenn man in der Welt draußen als Nichts zählt, wer eine Gruppe gefunden hat, für die die Welt der Normalen der letzte Dreck ist, dem tut es nicht mehr weh von der Masse abgelehnt zu werden. Irgendwann hat man auch das ehrliche Empfinden, der Welt der „Normalen“ gar nicht mehr angehören zu wollen, von der man das Gefühl hat, sie werde von Menschen, die wie bloße Marionetten funktionieren und die weit unter einem stehen, bewohnt. Die Normen und Werte, die Ziele und Lebensweise dieser Alltagswelt kommen einem immer fremder, fragwürdiger und schließlich verachtenswert vor. Die neuen Werte mögen rigide sein, aber man weiß, wo es lang geht und dem oft bedingungslosen Gehorsam, der (zumindest anfangs) freiwillig und gerne geleistet wird, steht ein Gefühl der Sicherheit gegenüber: die Gruppe und ihr Anführer wird den einzelnen schützen, je treuer man folgt, umso mehr.
Einer steht für den anderen ein
Ein starkes Motiv ist es, Mitglied einer verschworenen Gemeinschaft zu sein, die zwar von der Mehrheit der Gesellschaft abgelehnt (und manchmal gefürchtet) wird, aber gerade deshalb nach innen nur umso mehr zusammenhält. Hier steht einer für den anderen ein, die Bande zwischen den einzelnen Mitgliedern sind mitunter stärker als zur eigenen Familie. Man hat das gute Gefühl, dass, wenn man ein Problem hat, die anderen wirklich da sind. Sind die Organisationen groß und einflussreich genug und im kriminellen Milieu angesiedelt, bieten sie ihren Mitgliedern sogar im Knast Schutz. Auch das ist keine schlechte Botschaft. Wo du auch bist, wir sind bei dir, wir lassen niemanden im Stich. Bevor wir die Nase rümpfen, kein Geringerer als Altkanzler Kohl hat in der Spendenaffäre sein Ehrenwort über die demokratischen Rechte der Gemeinschaft gestellt, die er eigentlich vertreten sollte.
Menschen, die sich von diesen Gruppierungen und geheimen Gesellschaften angezogen fühlen, sind daher längst nicht in alle Fällen amoralisch, sie haben nur kein Interesse an der konventionellen Moral der Gesellschaft, die sie ablehnen und die sie ablehnt. Innerhalb ihrer Gemeinschaft können sie durchaus anständig und treu sein und sich für ihre Gefährten einsetzen, den Begriff Ganovenehre gibt es nicht erst seit gestern.
Auserwähltheit und Initiation
Menschen müssen sich nicht nur abgehängt fühlen, um das Gefühl zu haben, dass der Alltag nicht alles gewesen sein kann. Manche wollen mehr von ihrem Leben als die Routine ihnen bieten kann und schließen sich Gemeinschaften an, die in den Augen der Menschen, die sie faszinierend finden, einen elitären Touch, einen besonderen Klang haben. Vereinigungen, die in der Subkultur einen Namen haben, eine Hausnummer, ein Mythos sind. Wenn schon, will man genau da mitmachen.
Diese Gemeinschaften bauen selbst Hürden auf, es darf durchaus nicht jeder ein Mitglied werden, man muss sich bewähren, eine alte Gewohnheit, die ihren eigenen Reiz ausübt, ob Logen, politische Organisationen oder Motorradgangs. Ulrich Schnabel schreibt in seinem lesenswerten Buch „Die Vermessung des Glaubens“, dass genau jene religiösen Gemeinschaften mehr Zulauf haben, die von ihren Mitgliedern etwas verlangen. Die katholische Kirche verzeichnet in Deutschland einen dramatischen Mitgliederverlust, mit einer Ausnahme: das Opus Dei, die Geheimorganisation der römisch-katholischen Kirche, hat gegen den Trend Zulauf.
Wenn Menschen sich zu einer Gruppe besonderer und auserwählter Menschen zugehörig fühlen können, ist das natürlich in der Vielzahl der Fälle ein erhebendes Gefühl für das eigene Ich, ein Gefühl des Stolzes, das viele dieser Menschen oft so noch nicht vermittelt bekommen haben.
Omertà
In extremistischen Gruppierungen gilt oft ein striktes Schweigegebot. Man braucht sich im Selbstverständnis der Gruppe oft an keinerlei Regeln der gewöhnlichen Welt halten, doch innerhalb der eigenen Gruppe gelten strikte Regeln und das eherne Gesetz des Schweigens. Kooperation mit dem Staat oder ein Wort zu Uneingeweihten gilt als Verrat, der oft extrem bestraft wird.
Abenteuer
Ein weiterer Grund ist, dass dies eine aufregende und spannende Welt ist. Die Regeln sind einfach, sie lauten Gut gegen Böse, man weiß, in welches Lager man gehört – selbst gehört man immer zu den, gelegentlich missverstandenen, Guten – und in einer zugespitzten Welt erlebt man einfach immer wieder Abenteuer. Manchen macht das Angst, doch für einige ist das, wovor andere zurückzucken, das Salz in der Suppe, das, wofür sich das Leben erst lohnt. Man kann sich beweisen, zeigen, dass man mutig ist. Im Internetzeitalter werden gerade junge Leute mit passend gemachten Videos angeworben. Hier stehen eher Spaß und Abenteuer als weltanschaulicher Anspruch auf dem Plan, eine Mischung, für die viele jungen Menschen, in der großen Überzahl Männer, zu gewinnen sind.