Im vorhergehenden Teil haben wir bereits einige Tipps zum Umgang mit der Schule und dem Leistungsdruck gegeben. Im dritten und letzten Teil möchten wir nun abschließend auf das alltägliche Miteinander Bezug nehmen. Wir möchten einen Rahmen setzen, dahingehend, wie ein guter Umgang mit ungehorsamen Kindern – vermeintlich ungehorsamen Kindern – sein könnte. Ich setze »ungehorsam« in Anführungszeichen, denn wir haben es im Grunde mit starken Kindern zu tun, die versuchen, sich selbst zu behaupten.

Umgang mit ungehorsamen Kindern: Drei Leitmotive

Um mit »ungehorsamen« Kindern umzugehen, braucht es eigentlich nur drei (nicht-) erzieherische Leitmotive, die außerdem zusammenfassen, was in den vorangegangenen Artikeln stellenweise bereits angeklungen ist.

1. Leitmotiv: Augenhöhe

Je mehr Druck ich aufbaue, umso mehr Widerstand erzeuge ich.

Jesper Juul (Dänischer Erziehungsexperte und Familientherapeut)

Behandeln Sie Ihr Kind so, wie Sie selbst behandelt werden wollen. Das bedeutet nicht, dass Sie Ihr Leben um die kindlichen Bedürfnisse herum aufbauen. Bei Babys und Kleinkindern mag das sicherlich noch der Fall sein. Je größer die Kinder aber werden, desto stärker haben Sie auch wieder die Möglichkeit, sich um Ihr eigenes Leben zu kümmern. Und das sollten Sie. Ihrem Kind zuliebe!
Ein Umgang auf Augenhöhe meint vielmehr, die kindlichen Bedürfnisse zu registrieren und zu respektieren. Zudem haben Sie Ihre eigenen Bedürfnisse und Grenzen. Darüber hinaus ist das Kind Bestandteil einer Gemeinschaft. Es lebt in dem Sozialsystem Familie, in welchem jeder andere auch Bedürfnisse hat, und hat außerdem als Mitglied einer Gesellschaft gewisse Pflichten – so wie Sie auch. Arbeiten gehen, Essen einkaufen, die Wohnung reinhalten etc. Möchte Ihr Kind mit Ihnen nicht einkaufen gehen, haben Sie mehrere Ansatzpunkte in Abhängigkeit davon, wie dringend der Einkauf ist (denn manchmal muss dieser eben einfach sein).
Könnte man sich etwas später mit dem Kind zum Einkaufen verabreden? Könnte man mehr Zeit anberaumen und noch auf dem Rückweg am Spielplatz vorbeischauen, um den Weg etwas schöner zu gestalten? Wenn der Einkauf an dem besagten Tag nicht zwingend sein müsste, lassen Sie doch mal etwas Spielraum, damit Ihr Kind die Möglichkeit hat, zu lernen. So kann es helfen, ohne selbstgerechte Genugtuung und dem Alter des Kindes entsprechend aufzuzeigen, dass es am Abend dann nur Brot, Butter und Normalo-Käse geben wird. Sie werden überrascht sein, wie enthusiastisch Ihr Kind nach einem langweiligen Abendbrot spätestens am nächsten Tag zum Einkaufen losmarschieren wird, wenn es erkennt, dass diese Tätigkeiten etwas mit den Versorgungsaufgaben des Lebens zu tun haben.

Ermuntern und Hilfsbereitschaft: Ihr Kind ist nicht Ihr Feind

Junge verärgert Schwarz-Weiß-Bild

Im Umgang mit vermeintlich ungehorsamen Kindern sollte man sich an drei Leitmotiven orientieren. © Guilherme Yagui under cc

Wichtig ist dabei, nicht aus der Erschöpfung heraus in einen Konkurrenzkampf mit dem Kind zu verfallen. Es geht nicht um Macht, sondern um ein kooperatives Miteinander, sodass das gemeinsame Leben läuft. Der dänische Erziehungsexperte Jesper Juul hat die treffende Bezeichnung eines Leitwolfes geprägt. Jeder in dem Familienrudel hat bestimmte Freiheitsgrade, sein Leben zu gestalten, und ein Mitspracherecht. Der Leitwolf ist ein fairer und weiser Anführer. Aber das Zusammenspiel im Rudel und das Überleben des Rudels muss gesichert sein. Sie als Leitwolf oder Leitwölfin halten das Rudel auf Kurs.
Auf die Art erlebt das Kind seine eigene Stimme im Kontext der Familie und lernt so Kooperation und Eigenverantwortung. Es wird selbstbewusst und fühlt sich nicht in seiner Wertigkeit untergraben. Sie glauben nicht, wie viele psychische Erkrankungen/Beeinträchtigungen (Narzisstische und Borderline-Persönlichkeitsstörung, Alkoholabhängigkeit, Co-Abhängigkeit etc.) unter anderem mit einem erlebten Kontrollverlust in der Kindheit in Zusammenhang stehen können. Und das wollen Sie nicht für Ihr Kind!

Ermuntern Sie Ihr Kind, Dinge selbst zu versuchen, aber unterstützen Sie es, wenn es Hilfe braucht. Denn Hilfsbereitschaft und Füreinander da sein sind gleichermaßen wichtig im Umgang mit dem Kind.

Den Sinn des Lebens entdecken lassen

Wenn wir eine Beziehung haben, gegenseitigen Respekt und eine gemeinsame Sprache, können wir über alle Ängste, Sorgen und Widerstände miteinander reden.

(Jesper Juul)

Wenn ein Kind die Chance hat, sich selbst kennenzulernen, anstatt sich sinnlosen Doktrinen zu unterwerfen, wird es automatisch mehr im Einklang mit sich und der Welt sein. Es wird intuitiv die Wichtigkeiten im Leben erkennen und wissen, welche Anstrengungen notwendig dafür sind. Es wird Zeit haben, seine eigenen Interessen und Vorlieben zu entdecken. Kinder lernen mit Wonne und ganz automatisch Dinge, für die sie sich interessieren. Sie können Ihrem Kind sicherlich Angebote machen, aber Sie sollten nicht enttäuscht sein, wenn es seine eigenen Präferenzen findet.
Wir alle haben nur eine begrenzte Zeit auf diesem Planeten zur Verfügung. Wir alle haben die Chance dazu beizutragen, das gesellschaftliche Miteinander, die Umwelt, die Psyche etc. zu verbessern. Indem wir lernen, uns von der Egozentrik wegzubewegen und uns dem Mehrwert der Gemeinschaft öffnen, werden wir automatisch zu mehr Lebenszufriedenheit gelangen und weniger Angst vor dem Leben und dem Tod haben.
Machen wir unseren Kindern dieses Geschenk, den Sinn für ihr Leben selbst entdecken zu können. Durch einen respektvollen Umgang auf Augenhöhe sollen sie erspüren können, was sie selbst zu dieser Welt beitragen möchten.

2. Leitmotiv: Selbstfürsorge

Selbstfürsorge ist ein wesentlicher Bestandteil des Lebens. Dazu gehört einerseits, mit sich selbst sorgsam umzugehen, und andererseits, dem Kind seine eigene Selbstfürsorge zuzugestehen. Modelllernen gilt als erfolgreichste Lernform in der Natur. Seien Sie ein gutes Modell und lernen Sie, für sich selbst Sorge zu tragen, anstatt ein schlechter Dompteur Ihrer Kinder zu sein, indem Sie permanent werten, belohnen und bestrafen. Erfinden Sie selbst keine Ausreden für das Leben, dann werden es Ihre Kinder auch nicht tun. Gehen Sie stattdessen aktiv Ihren eigenen Entwicklungsprozess an. Es kommt nicht darauf an, von wo man startet, sondern, dass man bereit ist, den ersten Schritt zu tun. Übernehmen Sie Verantwortung für Ihr Leben, dann werden es auch Ihre Kinder tun. Verharren Sie nicht in der Opferhaltung (»Immer muss mir so etwas passieren, das Leben ist so schwer!«), dann werden Ihre Kinder diese auch nicht übernehmen. Dramatisieren und Katastrophisieren Sie nicht. Lernen Sie einen gelassenen Umgang mit dem Leben, zu welchem, wie bei jedem anderen Menschen auch, Probleme und Rückschläge gehören.

Einen kindgerechten Maßstab für die Lebensprobleme finden

Mama Tochter vor Notebook oranges Shirt

Medieninhalte und die Aufgaben des Erwachsenenlebens können mit den Kindern ehrlich und auf Augenhöhe besprochen werden. © Nenad Stojkovic under cc

Sollte ein solches Gespräch mit Ihrem heranwachsenden Kind zustande kommen, dann seinen Sie ehrlich: Wann und warum sind Sie an manchen Punkten im Leben gescheitert und was haben Sie sich dadurch eventuell verbaut? Gehen Sie offen mit dem Leben um, Ihre Kinder lernen dadurch zu differenzieren. Aber: Jammern Sie nicht, sondern übernehmen Sie Verantwortung für Ihre Entscheidungen. Ihr Kind ist immer noch Ihr Kind und Sie sind der Erwachsene. Kinder sollen zwar wissen, dass Geld nicht unablässig verfügbar ist, aber sie müssen nichts von Existenz- oder Verlustängsten mitbekommen, sondern sie dürfen altersabhängig beobachten, wie Sie ruhig und selbstbestimmt einen Weg finden werden. Ansonsten gilt: Selbstbestimmte Kinder profitieren durch Selbstfürsorge und Teilhabe.

Ein selbstfürsorglicher und zukunftsgerechter Umgang mit Medien

Unsere Kinder werden in einer stark medialen Welt leben. Sie werden sich in dieser Welt zurechtfinden müssen. Wer sind wir, dass wir ihnen diese Erprobung versagen? Wir können ihnen die Freiheit der Eigenverantwortung zugestehen. Das heißt nicht, dass wir nicht auch mit ihnen wundervolle Tage in der Natur verbringen können und sollen. Auch heißt es nicht, dass wir ihnen keine Bücher näher bringen sollen, indem wir ihnen vorlesen. Und ebenfalls bedeutet es nicht, dass wir nicht regelmäßig dafür sorgen, dass sie den Blick vom Tablet loseisen und andere Dinge des Lebens bewältigen. Es heißt lediglich, dass wir ihre Interessen nicht in gut oder schlecht unterteilen und das, was sie am Tablet schauen oder am PC spielen, abwerten sollten.

Die Beziehung zu einem Kind ist keine Einbahnstrasse. Das Kind soll nicht nur entgegennehmen, was wir ihm geben wollen. Wir müssen auch bereit sein, das entgegenzunehmen, was unsere Kinder uns geben.

(Jesper Juul)

Die Welt wandelt sich. Das werden wir nicht verhindern können. Es werden im Zuge des digitalen Wandels neue Jobs entstehen. In Japan lernen viele Kinder bereits mit fünf Jahren Programmieren. Auch wenn das für den einen oder anderen sehr extrem erscheinen mag, so zeigt es doch, wohin die Reise geht. Wie bei jeder industriellen Revolution werden Berufe aussterben und neue entstehen. Oder hören Sie abends noch den Nachtwächter draußen herumgehen, der ruft: »Hört ihr Leut’ und lasst euch sagen: Unsere Uhr hat Zwölf geschlagen.«

FSK als Orientierung

Mann Kind reicht Hand Hauseingang

Eine helfende Hand zur Unterstützung reichen. © Andreas Schalk under cc

Wir sollten unseren Kindern den Zugang zur medialen Welt zur Verfügung stellen – die Altersfreigabekennzeichnung (FSK) gibt uns als Eltern eine Orientierung dabei –, damit Kinder lernen können, was sie in dieser neuen, mehr digitalen Lebensart benötigen werden. Kinder lernen an den Medien. Nicht nur, wie man googelt. Auch wie man schreibt oder liest oder programmiert. Sie lernen Sozialkompetenz in Computerspielen, was fair ist und was nicht fair ist im Umgang mit Menschen (und Zauberern, Elfen, Superhelden etc.). Sie lernen, komplexe Aufgaben zu bearbeiten in Computerspielen, wie man plant, was man tun muss, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Viele Computerspiele warten mittlerweile nicht nur mit einer interessanten Geschichte auf, sondern die Kinder können an ihnen sogar spielerisch Chemie oder Physik lernen. YouTube, Computerspiele etc. gehören zum Leben im einundzwanzigsten Jahrhundert dazu. Bleiben Sie offen für die Interessen Ihres Kindes und (nochmal!) bewerten Sie diese nicht. Dann wird sich Ihr Kind auch jederzeit an Sie wenden, wenn ihm etwas unverständlich erscheint oder Angst macht.

3. Leitmotiv: Struktur

Es gibt eine bestimmte Struktur, welche den Alltag regelt. Diese hat gewisse Freiheitsgrade, über welche man verhandeln kann. Andere Punkte sind wiederum fest. So ist es zum Beispiel wichtig, morgens aufzustehen, um arbeiten/in die Kita/in die Schule zu gehen. Freiheitsgrade bestehen dahingehend, ob man davor noch etwas anderes machen und entsprechend früher aufstehen möchte, welche Kleidung man tragen möchte, was man als kleine Naschsache mit in die Kita nehmen darf (neben gesundem Essen) usw.
Die Hausaufgaben müssen bis zu einer bestimmten »Deadline« erledigt werden. Besprechen Sie gemeinsam mit Ihrem Kind, wann es sich am besten konzentrieren kann, und gestehen Sie ihm zu, aus seinen Irrtümern zu lernen. Es soll erleben können, wie es ist, die Aufgaben zu rechnen, obwohl man gegen Abend müde ist. Sorgen Sie als Erwachsener dafür, dass am nächsten Tag noch eine Pufferzone besteht, sodass die Rechenaufgaben gut und gerne noch einen Tag später erledigt werden können.

Die Qualität von Eltern bemisst sich nicht nach den Regeln, die sie ihren Kindern vorgeben, sondern nach der Art ihrer Reaktion, wenn diese Regeln gebrochen werden.

(Jesper Juul)

Die Erziehungsratgeber des dänischen Erziehungsexperten und Familientherapeuten Jesper Juul finde ich nach wie vor sehr zeitgemäß und kann diese für den Umgang mit vermeintlich ungehorsamen Kindern empfehlen. Sie selbst als Eltern ermuntere ich, mutig und eigenständig zu denken, selbst wenn dies bedeutet, auch mal aus den herkömmlichen Konventionen auszubrechen. Bleiben Sie in Kontakt mit Ihrem Kind. Viel Freude wünsche ich Ihnen an dem gemeinsamen Leben mit Ihren Kindern.