Nachdem wir im ersten Teil des Interviews darüber sprachen, wie es sich anfühlt, mit mehreren Identitäten zu leben, ohne sich bewusst darüber zu sein, gehen wir nachfolgend auf einige dieser Identitäten ein.
Wir sind viele Anteile eines Systems

»Wir sind viele«: Das kann sich im Kopf oft unklar und diffus anfühlen. © justin lincoln under cc
Fleur, wie setzt ihr die Ruhezeiten um, die euch von der Therapeutin empfohlen wurden?
Wir haben eine Ruhezone in unserer Wohnung. Unsere Wohnung hat nur einen Raum, also ist die Ruhezone ein Sessel. Ein großer Ohrensessel mit dunkelgrünen Ornamenten darauf. Er gibt uns Kraft. Das hat die Thera empfohlen. Hier können die Kleinen Bücher anschauen und die Großen sich zurückziehen.
War das sechsjährige Kind schon einmal in dieser Ruhezone?
Isabell?
Ja. Das Kind, was in einer Ecke sitzt und weint. Könnt ihr es dazu einladen, in die Ruhezone zu kommen?
Nein, wir haben es versucht. Aber es will einfach nicht aus seiner Ecke herauskommen. Es lässt uns verzweifeln.
Es braucht Zeit.
Die braucht es. Vielleicht später.
Wird das Kind größer? Wächst es?
Erst war es dreieinhalb Jahre alt. Dann sechs. Und jetzt ist es immer noch sechs. Es ist so voller panischer Angst und Hilflosigkeit. Manchmal ruft es nach seiner Mutter. Aber die kommt nicht. In der Therapie haben wir den Plan erarbeitet, dass Marlene und Toni versuchen, es abends ins Bett zu bringen. Erst einmal ist es gelungen.
Ein großer Fortschritt.
Ja, das ist es. Unser System funktioniert immer besser. Seit wir die innere Kommunikation anwenden, werden Marlenes Kopfschmerzen immer weniger. Früher hatte ich unspezifische Kopfschmerzattacken. Die Thera vermutet, dass der Kopfschmerz mit den Switches verbunden sein könnte. Aber das wissen wir bedauerlicherweise nicht so genau.
Euer System zeichnet sich durch Verantwortungsübernahme aus. Ihr bildet Teams, um bestmöglich zurechtzukommen. Welche Stärken habt ihr? Welche Talente?
Wir sind inzwischen organisiert und wir können uns als Gemeinschaft schützen. Durch die Therapie sind die meisten von uns sehr reflektiert. Früher in der Therapie, wenn weniger reflektierte Anteile auf die Fragen der Thera geantwortet haben, hatten wir so gut wie keine Probleme. Weil diese Anteile alles verleugnet haben. Heute können wir uns dahingehend steuern. Problematisch wird es nur, wenn manche Anteile nicht sagen wollen, was sie in ihrer Zeit gemacht haben. Wir versuchen, alle Innis davon zu überzeugen, dass die innere Kommunikation wichtig ist, damit Fleur als System funktionieren kann.
Innis?
Ja. Alle Innenpersonen. Einige versuchen gut zusammenzuarbeiten. Andere sträuben sich.
Wie macht sich das bemerkbar, dass sie sich sträuben?
Früher wollten sie dem System erheblichen Schaden zufügen. Sie haben uns verletzt, sogar damit gedroht, uns umzubringen. Durch die jahrelange Therapie ist unsere Selbstverletzung erheblich zurückgegangen. In der Therapie tun manche ihre Zweifel kund. Dabei wissen sie genau, dass wir als System funktionieren müssen, wenn wir uns verbessern wollen. Irgendwann wollen wir ein normales Leben führen. Es heißt, dass manche Therapeuten es schaffen, die dissoziative Identität bei manchen als Ganzes zusammenzufügen. Dass man sich wieder als eins erlebt. Momentan halten wir das für völlig unvorstellbar und manche von uns wollen das auch gar nicht, da unser Zusammenleben funktioniert. Wir sind zufrieden, mit dem, was wir erreicht haben. Wir haben schon einige Verbesserungen durch die Therapie erreicht. Deshalb ist es wichtig, dass alle an einem Strang ziehen. Wir wollen mehr Freude spüren. Es wäre schön, wenn wir irgendwann unbeschwert leben könnten, unabhängig davon, wie viele Innis in uns leben. Hauptsache alle zusammen, wie in einer Wohngemeinschaft.
Manche Anteile sorgen füreinander

Multiple Persönlichkeit: Als würden mehrere Personen voneinander abgewandt sitzen und nicht wissen, was der andere tut. © justin lincoln under cc
Sind Anteile von euch gebunden? In einer Beziehung?
Eine von uns hat einen Freund. Electra. Aber er ist Alkoholiker. Deswegen wollen die meisten anderen nicht, dass sie zu ihm geht. Aber sie kommt nicht von ihm los. Sie liebt ihn.
Was unternehmen die anderen, damit sie nicht zu ihm geht?
Vor allem Marlene, also ich, versucht, mit der Thera über Electra zu sprechen. Sie ist sehr engagiert. Sie will, dass es uns besser geht. Aber Electra ist nicht einsichtig.
Hast du beziehungsweise hat Marlene eine Theorie, warum Electra von diesem Mann nicht loskommt?
Ja. Marlene hat in der Therapie diese Vermutung erarbeitet. Es heißt doch, dass Frauen sich Männer suchen, die so sind wie ihr Vater.
Dann trifft das auf Electra zu?
Sie hatte keine gute Kindheit.
Worin unterscheiden sich Marlene und Electra? Und in welchen Punkten ähneln sie sich?
Marlene versucht, alles im Griff zu haben. Marlene will stark sein. Electra ist schwach. Einmal hat sie mit dem Mann zusammen Alkohol getrunken. Dadurch hat sie uns Probleme mit der Betreuungseinrichtung bereitet. Aber ich konnte das klären. Es hat uns besonders Probleme bereitet, weil wir zu dem Zeitpunkt ein Medikament genommen haben. Risperi…
Risperidon? Das Neuroleptikum?
Ja.
Ist alles in Ordnung? Sollen wir eine Pause machen?
Nein. Ich bin vorne. Marlene.
Welche Gemeinsamkeiten haben Marlene und Electra?
Es gibt keine.
Wäre es auf lange Sicht vorstellbar, dass ihr ein Arbeitsteam bildet, um Electra von diesem Mann wegzubringen?
Bisher ist es uns nicht gelungen. Electra geht einfach zu ihm, wenn sie will.
Das wirkt auf mich nicht schwach. Eher so, als hätte sie innere Stärke.
Hm. Möglich. Du meinst, dass sie diese grad nur nicht funktional einsetzt. Nicht für das System, sondern gegen das System.
Ja, so kommt es mir vor.
Darüber müssen wir in Ruhe kommunizieren. Die Thera hatte ebenso angedeutet, dass man Electras Stärke nützen müsste. Vielleicht erarbeiten wir das als nächsten Therapiebaustein.
Das System Fleur habt ihr euch auch in der Therapie erarbeitet. Wie war das anfangs, als ihr die Diagnose »Dissoziative Identität« erhalten habt?
Wir konnten es nicht glauben. Wir wussten nichts voneinander. Bis auf diese schattenhaften Erinnerungen bei einigen Anteilen hatten die meisten von uns keine Ahnung. Wir haben in der Therapie alles mühsam zusammengefügt zu einem System.
Haben manche Anteile von euch in der Therapie Erfahrungen aus der Vergangenheit geschildert? Wie war das für die anderen?
Die Geschichten mancher Anteile klangen für uns wie Filme. Wir konnten gar nicht glauben, dass sie so etwas durchmachen mussten. Wir hielten die Thera für eine Lügnerin, als sie uns davon erzählt hat. Erst der Therapieverlauf machte es glaubhaft für uns. Wir haben zwei Schriftproben gesehen, die je nach Anteil unterschiedlich waren. Wir sind allgemein sehr misstrauisch. Deswegen haben wir uns auch mit dir vorher zweimal getroffen, ehe wir uns zu diesem Interview entschlossen haben.
Für das mir entgegengebrachte Vertrauen bin ich sehr dankbar. Ich weiß das sehr zu schätzen. Mögt ihr mir erzählen, welche Erfahrungen in der Therapie besprochen wurden?
Vorrangig ging es bei einigen Anteilen um Selbstverletzung. Aber auch um Mobbing. Josie, ein zwölfjähriges Mädchen, spielt so schön Klavier. Alle anderen Anteile in uns sind so gar nicht musikalisch. Aber Josie ist sehr talentiert. Bei ihr wurde eine Hochbegabung diagnostiziert. Sie hat sich das Klavierspiel selbst beigebracht. In der Schule ist sie eine Außenseiterin. Sie wird dort gehänselt und auf dem Schulhof zu Boden getreten. Das Klavier ist ihre einzige Wiese. Manche Anteile von uns sprechen von häuslichem Missbrauch, der in ihrer Vergangenheit stattgefunden hat. Electra wurde als Kind mit Zigaretten gebrandmarkt. Selbst vor einigen Monaten noch hatte sie Brandblasen auf ihren Armen. Seit ganz langer Zeit schönerweise nicht mehr. Aber sie sagt uns nicht, woher diese Wunden stammten, sie will es uns nicht sagen. Weiter möchten wir bedauerlicherweise nicht ins Detail gehen.
Dafür habe ich Verständnis. Das ist kein Problem. Was wünscht sich Fleur für die Zukunft?
Wir wollen diese Stabilität, die wir uns erarbeitet haben, weiter ausbauen. Dazu ist die Kommunikation zwischen den Innis wichtig. Wir wünschen uns, dass die negativen Erfahrungen aus der Vergangenheit einiger Innis nicht mehr eine so große Bedeutung für uns haben.
Dissoziative Identität als Anpassung des Gehirns

Statt Gedächtnislücken und Aufsplittung schaffen manche dissoziative Persönlichkeiten sich durch die Therapie als Ganzes wahrzunehmen. © justin lincoln under cc
Manche Psychologen sagen, die Dissoziative Identität ist eine enorme Anpassungsleistung des Gehirns an eine negative Umwelt. Ein Schutzmechanismus, der verhindert, dass man noch weiteres Leid bewusst erfährt. Was sagt Fleur dazu?
Wir sind zwiegespalten. Marlene glaubt das zumindest. Sie glaubt daran, dass wir stark sind. Und alles überwinden können, was wir wollen.
Das klingt sehr positiv für mich. Es ist jetzt früher Nachmittag. Wir gestaltet sich euer restlicher Tag?
Wir gehen zurück in die Wohnung. Unterwegs kaufen wir für die Kleinen ein Eis.
Habt ihr Regeln, wenn ihr draußen seid?
Ja, haben wir, um den Alltag bewältigen zu können und nicht aufzufallen. Das klappt meistens. Manchmal beginnt eines der Kinder zu weinen, weil sie Angst haben. Weil sie einen bestimmten Trigger wahrnehmen. Zum Beispiel einen bestimmten Geruch, der sie an etwas erinnert. Wir versuchen sie dann mit starken Reizen abzulenken. Wir haben Tabasco-Sauce, die scharf ist, um die Dissoziation zu überbrücken. Damit werden sie aus den Flashbacks zurückgeholt und wieder in unser System eingegliedert. Manchmal verwenden wir auch Minze oder süßsaure Bonbons.
Gibt es etwas, was alle von euch gleichermaßen gern tun? Fleurs Lieblingsbeschäftigung?
Ja. Wir sind gern im Park. Aber dort müssen andere Menschen sein. Das Zwitschern der Vögel zu hören, ist das Beste für uns.
Ich danke euch sehr für dieses Interview und wünsche euch für die Zukunft weitere so wunderbare Fortschritte!
Im nächsten Teil unserer Serie zu dissoziativen Störungen beleuchten wir neurowissenschaftliche Befunde in Bezug auf multiple Persönlichkeiten.