Wenn das Ich sich verändert

In jedem Stückchen Welt steckt auch ein Stückchen Ich. © Stewart Black under cc
So gibt es jenseits der Hürde der Identitätsdiffusion noch weitere, weil es das eine fixe Ich gar nicht gibt. Ich kann zum Beispiel klar wissen, was ich will und vom Leben erwarte und mehr oder weniger auf Reflexion verzichten. Reflexion nicht im Sinne von: Weiß ich eigentlich wer ich bin? Sondern: Weiß ich eigentlich, warum ich will, was ich will? Aber ist diese Frage überhaupt wichtig, oder fangen damit erst Probleme an, die man sich selbst geschaffen hat?
Im Angesicht der Existenz des Unbewussten ist diese Frage jedoch wichtig. Wir sind in der Lage, die Meinung anderer zu verinnerlichen und nachher zu glauben, es sei unsere. Die Gründe dafür sind vielfältig und nicht immer ist das schlimm. Doch manchmal gibt es in uns widerstreitende Kräfte und der Konflikt tobt dann mitten in unserer Psyche. Auf einmal haben wir irgendwelche seltsamen Symptome, ohne zu wissen, warum. Manches ruckelt sind so wieder ein, anderem muss man auf den Grund gehen und der Grund kann in sehr unterschiedlichen Tiefen liegen.
So reicht es bei manchen Feststellungen, die eben so zu sein scheinen – den Glaubenssätzen –, dass man sie hinterfragt: „Ist das wirklich so? Wieso meinen Sie das? Können Sie mir Ihre Gründe nennen?“ Andere Widersprüche oder Verhaltensweisen versteht man selbst nicht und muss sich von einem Menschen, der dafür ausgebildet ist, seine eigene Innenwelt erklären lassen, auf dass man sich selbst besser versteht. Weiß ich eigentlich wer ich bin? Großen Teile von sich kennt man immer noch ganz gut, aber bestimmte Aspekte sind da, die einem selbst fremd sind. Integriert man diese, verschwinden viele Symptome.
Könnte ich eigentlich jemand ganz anderer sein?
Wenn man schrittweise versteht, dass die ureigenen Überzeugungen, die man zu haben glaubt, in vielen Fällen gar nicht aus mir selbst kommen, sondern auf Werten und Beobachtungen der Eltern beruhen, die sich ihrerseits zur sie umgebenden Gesellschaft verhalten, dann stellt sich irgendwann die Frage, ob ich eigentlich auch jemand anderes hätten sein können, wenn ich zu einer anderen Zeit oder an einem anderen Ort geboren worden wäre.
Oder gibt es ein Ich, was so überdauernd ist, dass ich, egal unter welchen Umständen ich zur Welt gekommen wäre, immer als der oder die erkennbar gewesen wäre, als der oder die ich mich heute sehe? Wohl eher nicht, muss die Antwort lauten. Weiß ich eigentlich wer ich bin? Ein Resultat zufälliger Umstände? Ein Mensch, der Werte vertritt, die auch ganz anders sein könnten? Könnte ich eigentlich jemand ganz anderer sein? Oder bleibt immer etwas von mir erkennbar?
Einerseits kann man diese Fragen als sehr unwichtig betrachten. Wenn ich erst mal dafür sorgen muss, dass mein basalen Bedürfnisse befriedigt werden, genügend Geld verdiene oder mit dem Leben klar komme, klingt das wie eine überflüssige Diskussion. Aber wir wollen ja nicht nur überleben oder so gerade klar kommen, sondern Reflexion ist ein zentrales Gut und da sind Fragen danach, wer ich eigentlich tatsächlich bin von existenzieller Natur. Es gibt sogar Antworten.
Vermutlich ist man am Anfang tatsächlich weitgehend der Umwelt ausgeliefert und die Qualität der frühen Beziehungen sind von überragender Bedeutung. Wenn hier alles gut geht und es gelingt ein halbwegs normales Leben zu führen und ein Ich zu konstituieren, was auch jenseits der geforderten Rollen einen Wiedererkennungswert hat, dann ist man nicht nur ein Bündel äußerer Einflüsse, die zu einem zufälligen Gesamtgefüge addiert wurden. Wenn man in der Lage ist reflexiv zu denken, sich also immer mal wieder zu fragen, ob man wirklich will, was man vertritt, ob das heute noch gilt, ob man immer noch dahinter steht, dann ist man nicht nur passiver Verwalter von Zufallsereignissen, sondern ein willensfreier Akteur. Da man nicht alles per Willensbeschluss ändern kann, braucht man manchmal Psychotherapie um das, was man an sich selbst nicht versteht zu begreifen oder eine Hürde die einem im Weg steht zu überwinden. Man ist frei Altes auszusortieren, Neues anzunehmen, der Mensch kann sich tatsächlich ändern.
Ist man am Anfang des Lebens eher dem Zufall ausgeliefert, so ist man später selbst in der Lage sein Leben und seine Beziehungen zu gestalten, herauszufinden, wer man wirklich ist und was man vom Leben erwartet.
Ein sich immer wiederholendes Muster
Was es für viele von uns noch immer zu lernen gibt weil, es alles andere als intuitiv verständlich ist, ist, dass das Ich nicht von Anfang an als fertiges ‚Ding‘ da ist, sondern es entsteht und ist dabei abhängig von seiner Mitwelt. Zu diesem Ergebnis kommen Neurobiologen/Hirnforscher, Psychologen, die die Entstehung des Ich rekonstruieren, Philosophen, die mit ihren Mitteln dasselbe tun, manche Künstler, bestimmte Religionen und auch die Mystiker der Welt.
Die Botschaft ist beeindruckend übereinstimmend, dass man erst durch andere zu sich findet. Schon das Gehirn ist von Anfang an darauf gepolt Beziehungen herzustellen. Beziehungen und ihre Qualität sind fundamental für die Ich-Bildung. Auch Philosophen zeigen, dass das Ich nicht primär sein kann, weil es die Sprache in der es sich ausdrückt erst lernen muss. Und ohne ein Du zu kennen, einen anderen, macht die Rede vom Ich überhaupt keinen Sinn.
Hat man ein gesundes Ich, was sich für die Welt und die anderen interessiert, so lässt sich dieses Ich anregen und überarbeitet, auf dem Boden der Argumente und Herangehensweisen anderer, das eigene Sosein immer wieder. Nicht in allen Aspekten. Wenn man sein Lieblingsessen gefunden hat oder eine Musik, die einen zu Tränen rührt, dann wird das vermutlich immer so bleiben. Aber Betrachtungen darüber, was gut und richtig ist, sowie bestimmte Erkenntnisse, die man als Kind lernte, können sich deutlich verschieben, bis ins hohe und höchste Alter.
Weil man, wenn es gut läuft, sich selbst und die Welt immer besser versteht und sogar sieht, wie beides zusammen hängt, kann man das, was man zu wissen glaubte, auch immer wieder hinterfragen. Bis an die Wurzeln und dann wird es richtig interessant. In der indischen Mystik sind zwei (bis drei) Varianten entstanden. Betrachten wir einmal den Buddhismus, der sagt, dass es letztlich kein Ich gibt und zum anderen den Hinduismus, der ein Ich und eine Seele kennt, so haben beide doch gemeinsam, dass sie versuchen die Grenzen den Ich zu ergründen. Beide gehen nicht ins Extrem. Der Buddhismus findet ein Bündel ständig wechselnder Zustände, aber kennt gleichzeitig ja doch jemanden, der diese Zustände erforschen soll um Einsicht in die Bedingungen des Leids zu gewinnen. Der mittlere Weg. Der mystische Hinduismus fragt ‚Wer bin ich?‘ und findet dabei immer mehr im eigenen Ich, so dass das Ich irgendwann mit allem identifiziert ist.
In allen Fällen wird aber die Ich-Zentrierung zurückgewiesen. Die buddhistische Wurzel des Leids ist die Anhaftung. Das eine will man nicht hergeben, das andere nicht haben. Dadurch entsteht die Anhaftung und daraus werden Sonderwünsche abgeleitet, man krallt sich immer tiefer an bestimmte Dinge oder Zustände und wodurch Leid entsteht, weil das Leben immer weiter geht. Schafft man es die Anhaftung hinter sich zu lassen, verringert sich das Leiden. Der mystische Hinduismus findet immer mehr andere im Ich, bezieht sich also auch auf das Du.
Das Muster ist also ein Ich, was zunächst einmal, durch einen Automatismus des Gehirns und durch andere Menschen zu sich findet und irgendwann denkt, es sei immer schon da gewesen. Durch wissenschaftliche Forschung, Reflexion oder Meditation findet es dann, dass dies nicht so ist, kann im besten Fall akzeptieren, dass es andere brauchte und braucht und im beständigen Austausch entwickeln sich das Ich und die Beziehungen zum Du, zum anderen, zur Menschheit, zur Kunst, zu Gott in einer Art Koevolution weiter. Beeindruckend finde ich, dass sowohl in alten Schriften, als auch in moderner Forschung das Glück am größten zu sein scheint, wenn man sich in ein Ganzes eingebunden sieht und den Fokus darauf richtet, das Wohlergehen anderer zu vergrößern und ihnen zu helfen.
Weiß ich eigentlich wer ich bin? Die Antwort ist wohl in fast allen Fällen, dass man sich als jemand vorfindet, der das Verhältnis von eigenem und fremden Wohlergehen in die individuell richtige Balance bringen muss. Konträr zu der bei uns vorherrschenden Idee, gilt in den meisten Fällen, dass es einem dann besonders gut geht, wenn man sich für andere einsetzt. Was insofern klar ist, weil Dankbarkeit und Anerkennung von anderen, sowie irgendwann die Freude zusammen mit den anderen und an ihrem Weiterkommen, die realistischen Beziehungen im Leben immer weiter vertieft. Und die sind ein zentraler Motor zum eigenen Glück.