Man würde es gerne wegerklären und das ist bereits ein ironischer Hinweis darauf, vom Unbewussten beeinflusst zu sein.
Die nächste Ironie besteht darin, dass Freud, der das Unbewusste am Prägnantesten formulierte, selbst daran glauben wollte, dass es der leisen, aber beständigen Vernunft gelingen werde, das Unbewusste zu … ja, was eigentlich: besiegen, durchlichten, erklären, überwinden?
Otto Kernberg antwortet Freud ebenfalls ironisch, wenn er über diese Idee sagt: „Wenn das keine Illusion ist, weiß ich nicht, was eine Illusion ist.“ Er führt weiter aus, dass Freud in bewussteren Stunden und ganz im Gegensatz zu dieser Äußerung, sehr klar sah, dass es immer unbewusste Anteile in uns gibt und geben wird.[1]
Damit ist ein Problem in der Welt und es liegt in der Natur des Unbewussten, dass man dieses Problem in der Regel bei sich nicht sieht, sehr gut dafür aber oft bei anderen. Ein relativ radikaler Ansatz besteht darin, bei einem Problem zu leugnen, dass es überhaupt besteht. Was die Sache nicht leichter macht, ist, dass das manchmal sogar richtig ist.
Wer kein Geld für die Miete einer Wohnung oder den Kauf eines Hauses hat, braucht sich über die Wandfarbe des Esszimmers nicht zu streiten, es gilt erst mal einen Schritt nach dem nächsten zu tun, bevor man sich in Details ergeht. Andererseits gibt es Unterkomplexität. Nicht jede Frage des Lebens lässt sich in ein einfaches Ja/Nein-Schema pressen oder zerfällt in richtig oder falsch.
Ist es richtig, sich gegen SARS-CoV-19 impfen zu lassen? Kommt drauf an. Auf das Alter, Allergien, Vorerkrankungen, ob man gerade einen Infekt hat und auch auf die Einstellung, die man dazu hat. Ist man einen breiten Fragenkatalog durchgegangen, kann vielleicht eine ziemlich eindeutige Antwort oder manchmal auch nur eine Annäherung, ein leichtes Überwiegen herauskommen, aber die eine, in allen Fälle gültige Antwort darauf gibt es nicht. So wenig wie es den besten Wein gibt oder die eine Antwort auf die Frage ob man ein bestimmtes Buch lesen sollte.
Genau das war auch Freuds revolutionäre Erkenntnis. Hieß es früher, der Mensch strebe nach Lust und wolle Unlust oder Leid vermeiden, so machte Freud, der bis dahin auch dieser Auffassung folgte, der Masochismus einen Strich durch die Rechnung. Denn der Masochist will den Schmerz, die Unterwerfung, die Demütigung und daher all das, was man üblicherweise zu vermeiden sucht. Vielleicht nur in bestimmten sexuellen Nischen, doch ebenso wie der Sadismus beschränkt sich auch der Masochismus nicht zwingend auf das Gebiet der Sexualität. So gibt es eine Form des charakterologischen Masochismus, bei dem man sich in abenteuerlicher Weise selbst sabotiert. Lassen wir die Gründe dafür mal beiseite, mit einer Theorie des simplen Strebens nach Lust und der Vermeidung von Leid kommt man auch hier nicht weiter.
Wenn man sagt, da muss es irgendwas in diesen Menschen geben, das sie das, was man gewöhnlich vermeidet geradezu suchen und als Lust empfinden lässt, dann ist man bereits bei einer Theorie des Unbewussten. Jetzt kann man streiten, ob das einfach ein Programmierfehler ist oder ob eine Bedeutung dahinter steckt. Glaubt man an den Programmierfehler kann man nichts ändern, da ist halt jemand zufällig falsch verdrahtet, damit muss er jetzt klar kommen. Freud war der Meinung, dass viele Symptome ein Ausdruck von zwei (oder mehr) im Menschen ringenden Kräften sind, die sich in ihm manifestieren. Er war der Auffassung, dass man den Mechanismus dieser Kräfte verstehen kann und wenn man das täte, so hätte man die Wahl. Das Unbewusste wurde durch Freud bewusst gemacht.
Kernbergs Einwand bezieht sich darauf, dass es auch wenn dieser therapeutische Prozess gelingt – etwas, wovon auch Kernberg zutiefst überzeugt ist – es immer wieder auch Anteile gibt, die entweder unbewusst bleiben oder wieder im Unbewussten verschwinden oder versinken, so dass das Bild eines in Zukunft vollkommen seiner selbst und seiner Motive bewussten Menschen eben im Status einer Illusion bleibt.
Das rationale Lager
Wer nun denkt, na ja Freud, kennt seine Ideen vielleicht nicht so genau oder um Max Gitleson zu zitieren: „Es gibt viele Menschen, die an die Psychoanalyse glauben, außer wenn es um Sex, Aggression und Übertragung geht.“ Oder er gehört zu den Rationalisten, die glauben, der Mensch und die Welt seien alles in allem verstehbare Größen, wenn nicht jetzt, dann bald.
Der gesamte Gedanke der Aufklärung ist davon durchdrungen, dass man verstehen kann. Von Kant über Marx bis Freud und weit hinein in unsere Gegenwart. Dort ist der breite Gedanke der Aufklärung allerdings verflacht, eingekürzt auf das was funktioniert und daraus leitet man ab, was funktioniert, müsse irgendwie auch wahr sein. Wir wissen jedich, dass auch der Irrtum und die Lüge funktionieren können.
Andere hingegen lassen sich davon nicht beirren und glauben, man könne auch das verstehen und umprogrammieren. Letztlich seien es alles Informationen, Algorithmen, bestimmte kleine ‚Wenn …, dann …‘-Programme, die uns steuern. Nicht nur die Vernunft funktioniert so, auch Moral und noch emotionale Regungen und Körperempfindungen seien doch letztlich nur aus einfachsten Ja/Nein-Bausteinen zusammen gesetzt. Man ist wieder beim Unterkomplexen gelandet.
Dahinter steckt die Idee, dass die kleinsten Einheiten das Große und Ganze determinieren. Doch unterm Strich erkennen viele, dass diese Idee bestenfalls die halbe Wahrheit darstellt. Das große Ganze mag ohne seine Einzelteile nicht auskommen, aber in den Einzelteilen sehen wir nicht zwingend das Ganze. Wenn wir wissen, dass der komplette Inhalt eines Romans aus Buchstaben und Satzzeichen besteht, wissen wir noch immer nicht was drin steht. Der erste Satz, der erste Absatz, das erste Kapitel mögen uns den Inhalt immer mehr erschließen, aber ganz erfasst haben wir ihn erst, wenn wir alles kennen und selbst dann wissen wir, dass man Bücher im Laufe der Jahre immer wieder mit einem anderen Verständnis liest und der eine beim gleichen Buch etwas anders auffassen kann, als der andere. Alles zusammen ergibt erst das Ganze und das scheint nie fertig zu sein.
Rationalisten meinen manchmal, es ginge im Wesentlichen darum, die Welt zu verstehen. Das Gegenargument ist, dass das Leben nicht verstanden, sondern gelebt werden will. Teile des Lebens kann man nur spüren, sich tatkräftig erobern, passiv erdulden, mal schwitzt man, mal friert man, mal ist man gerührt. Was sind das für Menschen, die all diese Empfindungen, Erregungen und Gefühle auf Informationen, einen Datensatz reduzieren wollen?
Menschen, die mit dem Leben, wie es ist – wie es auch ist – vielleicht so ihre Probleme haben. Die den Körper, seine Vergänglichkeit, seine Anfälligkeit, seine Sexualität und das Feuchte gerne auch einen Datensatz reduzieren wollen. Die Begierden, Sterblichkeit und den Körper gerne verdrängen und es gerne klarer und sauberer hätten. So sieht es Siri Hustvedt und die Psychoanalyse würde nicht widersprechen.
Eine Bruchrechnung, eine Gefühlswallung und der Geschmack von Wein seien ja letztlich auch nur eine Art von Informationsverarbeitung. Erfasst man diese in ihrer Gesamtheit und überspielt alles auf einen Computer, so lebt man weiter und würde nicht mal einen Unterschied bemerken können, da auch unser bewusstes Leben nur Datenverarbeitung ist, so der Gedanke.
Ob man das nun verlockend oder verstörend findet ist dann eine Frage des eigenen Betriebssystems, allein das klappt bereits theoretisch alles nicht so wirklich überzeugend. Praktisch auch noch nicht. Der Funktionalismus ist obendrein kein Argument für eine dahinter liegende Wahrheit, aber wenn etwas erst gar nicht erst funktioniert ist das auch nicht sonderlich überzeugend.
Doch mindestens einen Punkt haben die Rationalisten. Leben ist eben auch nicht nur einfach so vor sich hinzuleben. Versuch und Irrtum sind nicht die beste Strategie des Lebens, wer jeden Tag vor die selbe Glastür rennt, ist einfach auch blöd sein. Auch das Lernen gehört zum Leben und eine gewisse Tendenz zur Tradierung und Optimierung von Lernprozessen. Aber Lernprozesse und Informationsverarbeitung, Datensätze und Algorithmen, das allein riecht nach Sterilität, allenfalls noch nach Lötzinn und Ozon.
Das emotionale Lager
Am anderen Ufer des Flusses sitzen die Vertreter des emotionalen Lagers, die den Ansatz der Rationalisten, wenn nicht für ganz und gar falsch, so doch mindestens für arg übertrieben halten. Für sie ist Leben oft ein vor allem biologischer Prozess und die Rationalität hat bestenfalls die Funktion diese biologische Funktion optimal zu unterstützen. Es ist halt nicht gut, wenn man täglich mit dem Kopf gegen eine Glastür rennt, daher merkt man sich das und vermeidet es in Zukunft.
Also wieder Vermeidung von Schmerz und Unlust und Steigerung der Lust, im Dienste des Organismus. Aber hier macht das Unbewusste der Deutung eben einen Strich durch die Rechnung.
Radikalere Deutungen gehen davon aus, dass unsere Emotionen mehr oder weniger leitend für all unsere Entscheidungen sind und die Denkprozesse ein nettes, wenngleich ziemlich überflüssiges Beiwerk. Ob man verreist und wohin die Reise geht, das ist eine Sache der Emotionen, die Rationalität darf dann die Koffer packen, so ungefähr sieht man hier die Gewichtung. Die weitere Zuspitzung behauptet, der Mensch sei generell zur rationalen Erkenntnis nicht in der Lage. Ein Fehlurteil, was man daran erkennt, dass man den, der das behauptet fragen kann, ob er seine Meinung für eine Erkenntnis hält. Wenn nein, ist sie nichts wert, wenn ja, widerspricht sie der eigenen These.
Aber wir leben, so hört man manchmal, in postfaktischen Zeiten und so kommen derlei philosophische Einwände an viele gar nicht ran, beziehungsweise, sie sehen sich als berechtigt an, den ganzen intellektuellen Kram vom Tisch zu wischen, weil es darauf nicht ankommt. Argumente seien generell nichts von Wert, auf die Emotionen käme es an.
Als Beleg dienen oft Ergebnisse aus der Hirnforschung. Doch deren Problem ist, dass ironischerweise gerade ihre bunten Bilder so hochgradig der Interpretation bedürfen, also einen ganzen Wust von offenen und stillen (und nicht immer klaren und kohärenten) Prämissen im Gepäck haben, dass die Aussage, auf Argumente und Theorie käme es nicht an, sich bereits hier selbst widerlegt. Doch dem nicht genug: Man könnte das ganze Projekt der Wissenschaft oder sogar der Aufklärung beenden, würde man ernsthaft glauben Argumente und Rationalität seien wertlos. Der nächste Widerspruch in sich: Man hätte dann wissenschaftlich bewiesen, dass wir nicht in der Lage sind wissenschaftliche Beweise zu verarbeiten.