Da die Probleme der Welt immer mehr ins Bewusstsein treten, kann ein positiver Realismus eine Antwort sein.
Realismus hat häufig einen ernüchternden Beigeschmack: „Hör‘ mal auf zu träumen und werd‘ realistisch.“ Dabei fehlt es unserer Zeit vielleicht gerade an mitreißenden Träumen und Visionen, vieles erleben wir als zu einem funktionalistischen Klein-Klein erstarrt.
In diesen entsteht einerseits die Sehnsucht nach dem großen Wurf, der einen Idee, die wieder alle vereint und fesselt. Aber auch die gefährliche Sehnsucht nach einem starken Führer. Andererseits, bei zu komplexen Ideen, steigen viele Menschen aus, weil sie sich überfordert fühlen, manchmal auch nur zeitlich.
Die Verlockung sich von der Welt zurück zu ziehen
Eine Tendenz ist, frustriert, genervt, überfordert oder gelangweilt der Welt den Rücken zu kehren, ein Phänomen, wie bei der inneren Kündigung, nur dieses mal bezogen auf die ganze Gesellschaft. Man ist zwar noch Teil der Gesellschaft und der Welt ja sowieso, interessiert sich aber eigentlich nicht mehr für sie und macht sein eigenes Ding. Auch das muss nicht unbedingt schlecht sein, es kommt darauf an, aus welchen Grundgefühl heraus dies geschieht.
Abzuwinken und resigniert und frustriert, aber bisweilen auch mit Kalkül zu verkünden, das hätte doch sowieso alles keinen Sinn mehr, weil das System, die da oben, die anderen (die dummen Schafe) und so weiter eben einfach nicht mitspielen und Eigeninitiative ja rein gar nichts bringt, reicht nicht aus. Konnte man vor wenigen Jahren wenigstens noch hoffen, irgendwie über die Ziellinie zu robben – also zu spekulieren, dass sich nichts Wesentliches ändern wird, so lange man lebt – so kommen die Einschläge sozusagen näher, auf vielen Gebieten. Das ist unangenehm, motiviert aber auch.
Ich möchte daher ein wenig für eine positive, konstruktive und optimistische Sicht werben, gleichzeitig sehe ich aber auch die Problematik, wenn man die Bodenhaftung verliert und sich in immer mehr Schwärmereien und Träumereien ergeht. Doch ebenso, dass es unkreativ und dröge ist, die eingefahrenen Muster nur immer wieder zu kopieren, von denen mich viele auch nicht überzeugen. Also nenne ich das Ergebnis positiver Realismus, der zeigen soll, dass wir in vielen Bereichen schon weiter sind, als es den Anschein hat. Wieder und wieder ist mein Eindruck, dass wir genügend Erkenntnisse haben, die nun zu einem neuen Gesamtbild zusammengefügt werden müssen.
Wenden wir uns den Gebieten zu, auf denen Fortschritte erzielt wurden.
Psychische Erkrankungen
Es ist ein heikles Thema, aber eines, was angesprochen werden muss, gerade wenn es um positiven Realismus geht. Es gibt einen gewissen Trend psychische Probleme so zu behandeln, als würde aus ihnen zwingend eine lebenslange Einschränkung folgen und als sei dies ein unabwendbarer Schicksalsspruch. Da trifft vielleicht für einige wenige Menschen zu, aber es ist ein toller Fortschritt, dass man heute Menschen therapeutisch helfen kann, von denen man früher dachte, sie seien im Grunde kaum behandelbar und wenn, dann hätten die Therapien allenfalls einen lindernden Effekt.
Kein geringerer als Otto Kernberg, der sich seit inzwischen 65 Jahren vor allem um diesen Bereich der schweren Persönlichkeitsstörungen gekümmert hat und kümmert, hat diese Möglichkeiten, zusammen mit anderen vollkommen revolutioniert. Oft hört man Borderline-Störungen seien unheilbar, Kernberg, der ein Standardwerk nach dem anderen darüber geschrieben, geforscht und therapiert hat, ist der Auffassung das zwei Drittel aller Borderline Patienten wieder geheilt werden können, so, dass die Diagnose einer Boderline-Störung nicht mehr belegbar ist.
Ähnlich gut sind die Aussichten für narzisstische Patienten, die, je älter die werden, umso besser auf eine Psychotherapie reagieren. Die nicht vorhandene Ansprechbarkeit in jungen Jahren, in denen Narzissten spöttisch lächeln, wenn man meint, sie hätten ein Problem, verändert sich häufig nach Jahren der realen Enttäuschungen in Beziehungen oder im Berufsleben. Je mehr schwere Aggressionen bis zum Sadismus in den Narzissmus eingewoben sind, umso schwieriger wird die Therapie, allerdings sind diese Fälle auch selten.
Auch im Bereich der Ängste und Depressionen und der psychosomatischen Probleme weiß man heute mehr und erkennt, dass es ein breites Spektrum an Möglichkeiten gibt, dem Menschen das Gefühl einer Selbstwirksamkeit zurück zu geben, so dass er nicht nur das Gefühl hat, ein passives Opfer äußerer Umstände zu sein, sondern ein kompetenter Akteur in eigener Sache. Das ist keinesfalls nur eine Selbstsuggestion, sondern ein fundamentaler Baustein, wieder auf die andere Seite zu kommen und das Gefühl der Kontrolle über das eigene Leben zu haben.
Auch das muss realistisch sein. Man kann nicht von etwas überzeugt sein, wenn man einfach nicht daran glaubt. Dennoch gibt es Wege auf dem Boden einer Kombination bewährter Ansätze und individueller Überzeugung, die den Patienten ins Boot holen und aktiv und konstruktiv mitarbeiten lassen, wir haben das Modell bei der Reihe über chronische Schmerzen vorgestellt. Der Ansatz lässt sich auf weitere Bereiche übertragen, es geht oft darum, durch eine Kombination verschiedener Maßnahmen, die sich gegenseitig ergänzen, in eine Aufwärtsspirale zu kommen, in der sich dann das, was sich bisher gegenseitig im Weg stand, entzerrt.
Ein Drang zur Heilung
Es scheint einen Drang zur Heilung zu geben, denn unsere Psyche legt sich selbst immer wieder Situationen vor, in denen sie lernen kann, ein Trauma oder Hindernis zu überwinden. Bei einigen psychischen Erkrankungen kann es sein, dass Betroffene denken, etwas würde vielleicht allen anderen helfen, man selbst sei aber die große Ausnahme und hier sei alles besonders kompliziert.
Das kann man deuten, es gibt verschiedene Erklärungen dafür, außerdem kann man beständig weiter üben, was mühsam klingt, aber in vielen Fällen effektiv ist. Wenn die aktuelle Hürde nicht als solche, sondern vollkommen unüberwindlicher Abgrund erscheint, kann man versuchen das Problem einfach eine Zeit lang unangetastet zu lassen und das Umfeld des Problembereichs weiter zu stabilisieren und zu verbessern. Hier ein wenig die körperliche Fitness verbessern, sich da kleine Erfolge können und dort etwas Spaß am Leben. Irgendwann wird dann auch der Abgrund kleiner und man kann das Problem wieder frontaler angehen.
Man kann sich im Grunde noch nicht erklären, wo dieser Drang zur Heilung herkommt, aber es ist irgendwie gut zu wissen, dass da eine unbekannte Kraft im Stillen mitarbeitet. Man braucht sich von Rückschlägen nicht entmutigen zu lassen, auch hier weiß man ganz gut, wie diese aufzufangen sind. Man kann parallel weiter lernen aus kleinen Schritten Kraft zu ziehen, stolz auf sie zu sein, weil es allen Grund dazu gibt und bei Misserfolgen das Katastrophisieren abzustellen und mittels Aufzeichnungen, etwa einem Tagebuch, realistisch zu überprüfen, ob nun tatsächlich alles aus und vorbei ist. Wenn man sieht, wie der Trend der letzten Tage und Wochen ist, was Schmerzen, Depressionen, Angst oder was auch immer angeht, kann man die schlechte Phase oder den einen schlechten Tag als das erkennen, was er ist: eben ein schlechter Tag. Er gehört zum Leben von uns allen und man sollte sich keine unrealistischen Ziele setzen und rund um die Uhr glücklich sein wollen.
Covid-19
Die Pandemie ist zäh und zermürbend, sie fordert uns alle, vor allem auch psychisch. Das sollten wir uns erst mal klar machen und uns und anderen verzeihen. Wir erkunden gerade kollektiv Neuland, jeder etwas anders. Wir haben das Thema hier immer wieder begleitet[link], die Situation ist durchgehend die, dass man zu wenige Prognosen machen kann, wie es weiter geht, ständig entwickelt sich die Lage neu. Andererseits will man aber heute wissen, wann man seine Freunde wieder treffen kann, ob in den Urlaub fahren, den nächsten Geburtstag größer feiern kann und überhaupt wäre etwas Licht am Ende des Tunnels mal ganz gut.
Man weiß allerdings in vielen Fällen einfach nicht, wie sich die Lage entwickelt und so pendelt die öffentliche Meinung zwischen einer Einstellung ein, in der man sich mehr Mut wünscht und anderen Teilen, die noch mehr Vorsicht wollen. Es gibt Menschen, die sehr unter der Situation leiden und andere, denen es dabei ganz gut geht.
Wir dürfen wenigstens hoffen, dass ein Bündel an Maßnahmen, von regionalem Lockdowns, über Impfungen, den üblichen Regeln Abstand, Hygiene, Masken und Lüften, sowie einfachen Tests für den Hausgebrauch, die angeblich endlich kommen sollen, eine Trendwende bringen. Wenn es schlecht läuft, stehen wir unmittelbar vor einer dritten Welle, wenn es gut läuft können wir diese klein halten und der Frühling wird uns zusätzlich helfen.
Psychische Zähigkeit und ein wachsendes Bewusstsein dafür, dass es auf uns alle ankommt, könnten positive Effekte sein. Nationalismen sind dabei eher hinderlich, denn als tückisch erweisen sich vor allem die Mutationen. Zwar ist es höchst wahrscheinlich möglich, die Impfungen an neue, aggressive Erregertypen anzupassen, aber die Vorstellung sich alle paar Monate neu impfen zu lassen, wird vermutlich nicht von jedem verstanden – wer gerade geimpft wurde, könnte sich fragen, warum das nun schon wieder geschehen soll – und selbst wenn es verstanden wird, ist die Aussicht nicht besonders prickelnd. Doch die Grundregel ist hier: Je mehr Infektionen, desto mehr Mutationen und so bringt es uns nichts sich in Europa im sicheren Hafen zu fühlen, wenn das Virus in Afrika oder sonst wo ein freies Experimentierfeld hat, da die Mutationen irgendwann auch zu uns kommen.
Das eigene Immunsystem fit zu machen oder zu halten könnte nach wie vor eine der besten Strategien sein, aber Mutationen sind immer ein Lottoriespiel und alle Beschwörungen und Erklärungen, dass das Virus einen Vorteil hätte, wenn es harmloser würde, sind leider nur Beschwichtigungsstrategien. Dennoch, mit Krisen, auch globalen umgehen zu lernen ist etwas, was wir auf dem Schirm haben sollten, denn die nächsten kommen bestimmt, es muss kein Virus sein.