Die Frage: Weiß ich eigentlich wer ich bin?, scheint vergleichsweise absurd zu sein, denn die spontane Antwort lautet: Wer, wenn nicht ich?
Intuitiv scheint es vollkommen klar zu sein, dass man weiß, wer man ist, ist man doch der oder die, der immer in sich zu Hause ist. Dahinter steckt die Idee, dass man auf die Welt kommt und im Grunde seines Charakters bereits so ist, wie man eben ist. Irgendwann erlernt man dann die Sprache des Landes, in dem man wohnt und kann nun das, was immer schon in einem war, was man gefühlt und empfunden hat, mit ihrer Hilfe ausdrücken.
Sprache ermöglicht einem also die Dinge draußen zu benennen: hier ein Auto, da ein Hund und so stellt man sich auch vor, dass man das Innere benennt: da ein Gedanke an den nächsten Urlaub, dort ein Gefühl der Trauer.
Davon ging die ältere Philosophie und auch die Psychologie aus, noch Freud dachte, da wäre ein mehr oder minder fertiges Ich im Zentrum, das sich entweder um sich oder um andere und anderes kümmern kann und wenn man sich um andere kümmert, leidet das Ich und es kommt zu einer gewissen Ich-Schwäche.
Die gewaltige Bedeutung von Beziehungen
Diese alte ich-psychologische Sicht hat sich heute radikal geändert. Philosophisch ist klar, dass man sich das Ich mit Hilfe der öffentlichen Sprache und der Hinweise anderer Menschen erst erschließen muss. Man lernt sich also selbst erst im Laufe seines Lebens kennen und zwar wesentlich auch dadurch, wie andere einen sehen. Andere, die das was ihnen an mir auffällt, zu einem Teil den Werten der Kultur entnehmen, aus der sie stammen. Der Westen hat eine eher individualistische Sicht, der Osten eher eine kollektivistische.
In weitaus stärkerem Maße, aber sich durchdringend, ist die Beziehung zu anderen Menschen prägend. Meistens gehen Beziehungen gut, ohne dass sie perfekt sein müssen. Die Werte in einer Familie sollten einfach verlässlich und nicht sadistisch sein, das heißt, nicht schroff asymmetrisch, so dass einer die absolute Macht und Freude daran hat, allen anderen zu zeigen, dass er oder sie machen kann, was er will.
Dass Erwachsene den Kindern überlegen sind, ist unvermeidlich und nicht weiter schlimm. In einem verlässlichen und halbwegs ruhigen Umfeld können sich die Kinder genau deshalb entspannen, wenn und weil sie wissen, dass das Erwachsene sind, die sagen, wo es lang geht, ihnen aber wohlgesonnen sind und sie beschützen und versorgen. Vor diesem ruhigen Hintergrund können auch gelegentliche Krisen durch Spitzenaffekte toleriert werden, die ansonsten das größte Gift sind. Zudem, wenn ihr Einfluss zu groß wird, sind sie die Ursache dafür, dass man nicht weiß, wer man eigentlich ist.
Wer sind Sie denn?
Wenige Menschen bemerken, dass sie nicht wissen, wer sie sind. Dieses Sein ist durchaus in einem umfassenden Sinne gemeint. Dabei braucht man im Grunde keine großen theoretischen Verrenkungen zu machen, der beste Weg ist auch der direkteste und pragmatischste, man sagt einfach, wer man ist. Dieses ‚Wer bin ich?‘ hat natürlich mehrere Facetten. Mein Denken, Fühlen, meine Beziehungen, meine Sexualität, meine Werte und Einstellungen zur Gesellschaft, zum Leben, meine Interessen, Hobbys, meine Arbeit und so weiter. Lebe ich gerne, was interessiert mich, was nicht? Interessiert mich Kunst, Politik, Spiritualität? Kann ich Spaß haben und mein Leben genießen? Wann und wobei? Je genauer, umso besser.
Menschen die diese Fragen nicht beantworten können, haben eine Identitätsdiffusion. Das heißt, sie wissen nicht was sie eigentlich wollen. Die Frage: Weiß ich eigentlich wer ich bin?, müssten sie mit ‚Nein‘ beantworten, aber kaum einer der Betroffenen merkt das. Im Gegenteil, viele Konflikte mit anderen haben aus ihrer Sicht oft den Grund, dass die anderen sie einfach nicht umfassend genug verstehen können.
Das kann man von anderen auch nicht unbedingt erwarten, aber man kann sich diesem Zustand annähern, indem man sagt, was mit einem los ist, was man denkt, fühlt und je besser man das auf den Punkt bringen kann, um so leichter kann es dem anderen fallen, zu verstehen, was los ist.
Aber Menschen mit einer Identitätsdiffusion gelingt das nicht. Manchmal können sie einfache Fragen zu sich selbst nicht beantworten. Manchmal erzählen sie etwas, kommen aber nicht auf den Punkt. Es wirkt zusammenhanglos und unverständlich. Oder sie erzählen etwas und eine Viertel Stunden später exakt das Gegenteil von dem, was sie eben sagten. Manchmal ist das vielleicht ein Missverständnis, was man klären kann, aber Menschen mit einer Identitätsdiffusion bemerken überhaupt keinen Widerspruch, weil sie jetzt gerade eben in einer anderen Stimmung sind, als eben und da erscheint es ihnen völlig in Ordnung, das Gegenteil zu sagen und zu empfinden. So ist man dann eben. Nur, sollte klar sein, dass andere diesen wilden Ritt durch die Stimmungsschwankungen nicht unbedingt nachvollziehen können. Man kann von anderen nicht erwarten, dass die hellsichtig sind und immer genau die Stimmungen und Phantasien erfühlen können, die in einem Menschen vorgehen. Die muss er uns schon selbst mitteilen. Die Identitätsdiffusion bringt es allerdings gerade mit sich, dass man auch andere nicht versteht, insofern ist hier oft Therapie angezeigt.
Denn das ist der andere Part. Andere weisen uns auf uns hin, auf unsere Eigenarten und Besonderheiten. Wir brauchen zur Erschließung unseres Ich die öffentliche Sprache. Die Mutter deutet uns unsere basalen Gefühle, wenn sie bemerkt, dass wir Angst haben oder so fröhlich sind. Aber wir selbst sind und bleiben es, die aus all diesen Informationen ein Ganzes machen – im besten Fall ein integriertes Ich – und damit einen privilegierten Zugang zum eigenen Inneren haben. Der Teil wird oft unterschlagen. Wenn wir diese Mittel nutzen (öffentliche Sprache und Hinweise anderer, die uns helfen uns selbst kennenzulernen), dann haben wir ja die Möglichkeit zu sagen, was mit uns los ist. Wenn das dem anderen nicht klar geworden ist und er nachfragt, so gibt uns das selbst die Chance in uns zu gehen, die Frage, die Kritik, oder Anmerkung einzubauen und uns selbst tiefer zu befragen, was wir eigentlich genau in diesem oder jenem Fall denken, fühlen und wollen.
Die Beziehungen und der Austausch mit anderen bleiben wichtig, nicht nur in der ersten Phase der Konstitution des Ich, auch später, denn Entwicklung hört im Grunde nie auf. Was extreme Freude machen kann und unsere Grenzen immer weiter nach außen verschiebt.