Der Triumph, dass man tot ist

Ich hab’s dir doch gleich gesagt. Ein später, aber fragwürdiger Sieg. © Joe Shlabotnik under cc

Die Grabinschrift bringt es auf den Punkt: „I told you I was sick“. Ich habe dir doch gesagt, dass ich krank bin. Das hast du nun davon. Entweder hat da jemand einen sehr ironischen Lebensansatz oder er will noch im Tode triumphieren und Recht behalten. Man muss sich nicht entscheiden, beides ist möglich.

Vielleicht kennt man aber auch selbst die Phantasie, was denn wäre, wenn man auf einmal tot da liegen würde. Das kann sogar mit einer gewissen Lust verbunden sein, es am Ende doch besser als alle gewusst zu haben. Durchaus nachvollziehbar, wenn man sich nicht richtig ernst genommen fühlt. Auf der anderen Seite zeigt es, wie weit man gehen würde, um Recht zu behalten. Man könnte im Tod, durch den Tod triumphieren. Um was zu erreichen? Im schlimmsten Fall, um das Leben und Glück anderer zu zerstören. Noch im Tod rächt man sich, doch das ist selten und entspricht den schwersten psychologischen Krankheitsbildern, die wir kennen.

So treten manche Menschen mit einer antisozialen Persönlichkeitsstörung ab. Sie rächen sich und zerstören den anderen durch den eigenen Tod, um ihm zu zeigen, wie ohnmächtig er ist. Wenn ein Psychotherapeut sich abmüht und man sich dann genüsslich vor dessen Augen die Pulsadern aufschlitzt. „Schau her, was du kannst: Gar nichts.“ Hier tritt die Angst hinter den Wunsch nach Zerstörung anderer zurück. Abgeschwächter finden wir das bei Menschen mit Borderline-Störungen, die eine intensive, frei flottierende Angst, die entsetzlich ist, immer wieder heimsucht. Zuweilen ist da die Selbstschädigung bis hin zu inszenierten Suiziden Teil der Absicht, anderen zu zeigen, was passiert, wenn man nicht funktioniert, aber nicht auch Bosheit, sondern aus entsetzlicher Angst. Mitunter dient die Selbstverletzung dem Abbau der psychischen Hochspannung. Diese Inszenierungen sollen in der Regel nicht zum Tode führen, aber es kann sein, dass man manchmal zu hoch pokert und dennoch stirbt.

Aber auch wenn man gesünder ist, kann man in sich diese Phantasien finden und reflektieren. Dazu wäre ich also bereit? Tatsächlich? Wie wichtig ist mir so ein Triumph? Würde ich wirklich mein Leben dafür hergeben, dass ich am Ende Recht hatte? Und was ist es, was mir da fehlt? Das passiert Menschen, die selten das Gefühl hatten, dass sie wirklich ernst genommen wurden. Man hat sich auch nie um ihre Bedürfnisse gekümmert. Manchmal ging das nicht, weil das Leben war, wie es eben war. Aber dem kann man therapeutisch nachgehen und in überraschend vielen Fällen, kann man effektiv helfen.

Was auch immer gewesen ist, ich kann versuchen mich selbst ernst zu nehmen. Ich kann ergründen, was ich wirklich vom Leben erwarte. Was ich bereit bin, dafür zu tun? Was möchte ich lieber nicht? Ich kann mich fragen, welcher meiner Wünsche vielleicht gar nicht mein Wunsch ist. Will ich wirklich das Geschäft der Eltern weiter führen, weil es doch so praktisch ist? Könnte durchaus sein, nur ist es gut, das herauszufinden. Wer nicht weiß, was er wirklich will und was einem suggeriert wurde, der tut gut daran klein anzufangen. Wer bin und was mag ich eigentlich wirklich? Welches Essen, welche Farben, welche Musik, was macht mir Spaß? Man muss die Antwort darauf nicht nach 30 Minuten oder einer Woche finden.

Was ist eigentlich mein Wunsch? Was muss ich eigentlich können?

Gut, dann werde ich eben kein Hochseilartist oder Showstar, das muss vielleicht wirklich nicht sein. Aber Arbeiten, Einkaufen und so weiter muss ich schon. Und wenn mir alles zu viel ist? Dann brauche ich Rückzug und einen geschützten Raum. Man ist dann unsicher und ängstlich, zuweilen auch noch depressiv, weil man einfach kein Licht am Ende des Tunnels sieht. Der sichere Ort innen und außen ist wichtig. Den inneren kann man sich selber schaffen und ausbauen, es reicht wenn es ein phantasierter Ort ist. Auch das wirkt, das sollte man wissen. Wenn man sich auch dort anfangs nicht zu 100% sicher fühlt, sondern nur zu 70%, okay, besser als nichts.

Ansonsten ist es in etwa wie beim Sport. Wer wenig fit ist, profitiert von kleinsten Fortschritten. Ich darf mir etwas zutrauen. Ich brauche das, was ich kann nicht immer wieder zu entwerten: „Ist doch nichts. Kann doch jeder. Gut, kann sein, dass ich das kann, aber da sind Tonnen von dem, was ich alles nicht kann.“ Ist man erst einmal unsicher und ängstlich, kann man sich überhaupt nicht vorstellen, dass man jemals wieder auch nur halbwegs am normalen Leben teilnehmen kann und wird. Jeder wird das schaffen, aber ich nicht. Vorsicht mit dieser Sonderrolle, die gehört zur Ich-Schwäche. Auch das kann man lernen zu verstehen.

Ich darf mich auch über kleine Fortschritte freuen, über meine. Niemand wird Sie dafür feiern, dass Sie zum erstem Mal wieder Bus fahren, in die Stadt gehen oder einkaufen, aber Sie dürfen es. Das Gute ist: Wenn es ein echte Hürde war, die Sie übersprungen haben, feuert Ihr körpereigenes Belohungssystem. Nennen Sie es Körper, Psyche, Gehirn, tiefere Weisheit, all das ist auf Ihrer Seite.

Wenn Sie sich noch keine großen Sprünge zutrauen, machen Sie kleine. Informieren Sie sich, wie Sie Affekte dämpfen können. Ruhe, Einfachheit, Sport, vielleicht mal erdendes Essen. Die Orientierung an natürlichen Rhythmen. Immer wieder schauen, wer und wie Sie sind. Können Sie es ausdrücken? Aufschreiben, Malen, Tanzen, in Musik fassen oder Knetgummi?

Unsere Lebensweise ist über die Jahrzehnte wirklich fragwürdig geworden. Es liegt also nicht an Ihnen. Aber dennoch ist es schön, mit der Welt, wie sie ist, klarzukommen. Das heißt nicht, dass man sie nicht ändern dürfte oder sollte, aber es heißt eben auch nicht, dass man permanent lamentieren oder unter ihr leiden muss. Was will ich? Sich kennen zu lernen, heißt Ich-Stärke aufzubauen, heißt, sicherer und angstfreier zu werden irgendwann vielleicht sogar selbstbewusst und mutig. In einigen Bereichen sind Sie es ja schon.

Es ist auch hier so, dass die Abwärtsspirale sich irgendwann umdrehen kann und dann kommt eines zum anderen, wenn es wieder nach oben geht. Die zunehmende Ruhe, die wachsende körperliche Fitness, die tiefere Innenschau, das konstante Üben, die kleinen Fortschritte und die Erlaubnis, die man sich gibt, sich über sie zu freuen … Irgendwann ist das Leben keine Übung mehr, sondern wieder Leben. Mein Leben. Ich freue mich nicht mehr, weil ich etwas ausgehalten oder geschafft habe, sondern weil ich gerade Lust dazu hatte. Dann geht ein weiterer Vorhang auf, man ist wieder da oder vielleicht sogar zum ersten Mal angekommen, im eigenen Leben.

Ist die Abwesenheit von Angst und Unsicherheit ein wünschenswertes Ziel?

Bestimmt, wenn man unter intensiven Formen von Angst und Unsicherheit leidet, wünscht man sich nichts sehnlicher, als dass man diese los wird, egal wie. Da pfeift man auch drauf, dass die Angst eine evolutionären Nutzen hat, wenn die Lebensqualität gegen Null geht. Klar, es ist, wie beim Schmerz. Wer unter intensiven Schmerzen leidet, wird auch nicht froher, wenn dieser biologisch sinnvoll ist, auch wenn es stimmt. Durch eine genetische Abweichung schmerzfreie Menschen sterben früh und entsetzlich. Dennoch macht das den eigenen Schmerz nicht besser.

Angst ist auch hilfreich, aber Panikattacken oder generalisierte Angst sind einfach unerträglich. Angstfreiheit gibt es tatsächlich, interessanterweise bei zwei sehr unterschiedlichen Gruppen von Menschen, nämlich Heiligen und Psychopathen. Menschen mit antisozialer Persönlichkeit haben keine Angst. Auch ihre Anspannung steigt zunächst an, doch während sie bei normalen Menschen mit weiterem Stress immer größer wird, macht es bei Psychopathen irgendwann klick und sie werden kühl, konzentriert, fokussiert und eben komplett angstfrei. Eine biologische Besonderheit?

Falls ja, fragt man sich, wie wünschenswert sie ist, denn die Angstfreiheit geht auf Kosten jedes Mitgefühls. Menschen, die extrem unsicher und ängstlich sind, würden diese Option vermutlich dennoch wählen, weil sie über die Maßen leiden. Irgendwann kann man so normal und selbstsicher werden, dass man Morgens auch wieder in den Spiegel schauen möchte und dann hat man schon wieder ein Problem.

Erstaunlich genug ist es daher, dass die vom anderen Ufer, meditierende Mönche, die den ganzen Tag Mitgefühl üben, die andere Gruppe darstellen, die komplett angstfrei ist. Dafür muss man halt meditieren wie der Teufel und das tut längst nicht jeder. Aber auch das wäre ein Weg. Man sollte ihn nicht leichtfertig gehen, weil es eben auch spirituelle Krisen gibt und da ist es besser, mit jeder spirituellen Praxis auszusetzen oder Hilfe von Menschen in Anspruch zu nehmen, die sich auf dem Gebiet der Spiritualität und der Psychotherapie auskennen, aber wichtiger ist mir ohnehin die Botschaft, dass es viele Wege gibt, die helfen können.

Oft ist auch die Angst vor der Angst das größere Problem und das schon angesprochene Katastrophisieren. Man baut sich riesige Hürden auf. Springt man ins kalte Wasser reagiert man in echten Stresssituationen oft anders als geahnt. Aber eigentlich kommt es auch darauf nicht an, ich man kann nach und nach die Deutungshoheit über das eigene Leben übernehmen. Nicht indem ich irgendeinen willkürlichen Unsinn behaupte, sondern weil ich mich inzwischen kennen gelernt habe.

Die Urteile der Gesellschaft werden dadurch auch ein wenig fragwürdig oder mindestens relativiert, vielleicht auch die Werte, auf deren Basis diese getroffen werden. Man kann nicht verhindern, aus eben dieser Sichtweise bewertet zu werden, aber das muss einen nicht erschüttern. Auch die Rückschläge nicht, die irgendwann ganz sicher noch mal kommen, weil das Leben nie ganz rund läuft. Es wird Ihnen schlecht gehen, so wie anderen in der Situation auch, aber ab einem bestimmten Punkt wird Sie das nie wieder zerstören.

Wir wissen heute viel und sind zudem in einer Phase des gesellschaftlichen Umbruchs. Die Menschen sind generell verunsichert, neue Richtungen müssen sich erst noch herauskristallisieren. Wenn Sie mit ihrem Thema durch sind, sind Sie sogleich kompetent anderen zu helfen, weil Sie, wenn Sie sich selbst kennen gelernt haben, immer ein Stück weit auch die Menschen kennen gelernt haben. Sie werden viele kleine Steine umdrehen müssen, aber es kommt der Tag, an dem sich aus dem losen Verbund die Umrisse eines neuen Bildes erkennen. Ob der Fluss der Lehrer ist, ein Mensch, ein Tier oder die Angst ist eigentlich egal. Sie werden gelernt haben, dass Sie allen vertrauen können – aber auch, dass Sie das nicht grundlos und ohne Widerruf tun müssen – und vor allem einem Menschen, sich selbst.

Sie werden im guten Fall gelernt haben, dass es keine Schande ist andere zu brauchen (sondern, dass es eine Fähigkeit zur Abhängigkeit gibt, wie Kernberg uns lehrt) und Hilfe in Anspruch zu nehmen, aber gleichzeitig wissen Sie, dass Sie sich letztlich selbst entscheiden können und müssen. Gar nicht so selten ist ein reduzierteres Leben reicher, aber ob das bei Ihnen so ist, werden Sie selber sehen. Sie werden hier und da noch immer unsicher und ängstlich sein, weil das zum Menschsein gehört, aber Sie haben erkannt, dass es den anderen nicht anders geht. Ansonsten fangen Sie eben jetzt damit an.

Quellen