Viele Ursachen, Konzepte und Lösungen

Therapie ist die konstante Wiederherstellung eines Gleichgewichtszustandes, der Äquidistanz. Christopher A. Dominic under cc
Wer sich etwas in dem Bereich der sich mit Psyche auseinander setzt umschaut, entdeckt schnell, dass es für bestimmte Diagnosen verschiedene Tests gibt und verschiedene Ursachen diskutiert werden. Exemplarisch an einem sehr häufigen psychischen Krankheitsbild, dem der Depression durchgespielt, findet man derzeit bei Wikipedia 15 mögliche Ursachen aufgeführt. Teilweise nimmt man genetische Einflüsse an, dann eine Fehlleistung des Gehirns, falsch erlernte Verhaltensweise, tiefenpsychologische Konzepte finden hier kaum Erwähnung. Wobei über die Jahre immer wieder Formen der Depression, wie die existenzielle Depression vollständig gestrichen wurde, andere werden zu Anpassungsstörungen. Auch das, könnte man etwas ironisch sagen, hat mehrere Ursachen, nicht immer sind sie rein wissenschaftlicher Natur, sondern es geht auch um Forschungsgelder, Ideologien und Eitelkeiten.
Ein anderes Beispiel ist die narzisstische Persönlichkeitsstörung, die es zu einiger Popularität gebracht hat, die man im ICD-10-WHO aber nur irgendwo am Rand unter F60.8 ‚Sonstige spezifische Persönlichkeitsstörungen‘ findet. Vielleicht noch auffälliger sind die Angaben zur Häufigkeit. Während immer wieder von einer narzisstischen Epidemie die Rede ist, die in der 1980ern begann und sich seit dem ungebrochen fortsetzt, sehen andere die Erkrankung konstant im unteren einstelligen Prozentbereich.
Stimmt meine Diagnose? Wie sicher kann man sich sein, wenn nicht mal die Forschung sich zu sein scheint?
Ganz so chaotisch wie es aussieht ist es jedoch nicht. Zum einen schließen die Ursachen einander nicht aus. Depressive Eltern geben ihren Kindern vielleicht genetisch etwas mit, aber gleichzeitig natürlich auch umweltbedingt, die Kinder wachsen ja dort auf und lernen vielleicht, dass man sich passiv allem fügt, weil man eben scheinbar nichts machen kann, so wird jede Veränderung zu einer neuen Katastrophe und man fühlt sich kontinuierlich überfordert, all das bekommen die Kinder mit. Gleichzeitig bietet die Summe der Ursachen gerade bei der Depression auch die Möglichkeit therapeutisch auf vielen Ebenen anzusetzen und das wird bei Depressionen ebenso wie bei chronischen Schmerzen getan.
Ein anderer Punkt ergibt sich aus verschiedenen theoretischen Ansätzen der Psychologie.
Die Flughöhe ist entscheidend und relativ leicht zu diagnostizieren
Es gibt unter Psychologen und Psychiatern einen Unterschied in der Ansicht was Krankheitsbilder eigentlich sind. Zum einen gibt es die kategoriale Diagnostik, die der Meinung ist, jede psychische Krankheit sei eine eigene Einheit und von anderen klar zu unterscheiden. Zum anderen eine dimensionale Einstellung, die sagt, dass verschiedene Krankheitsbilder Eskalationsstufen immer gleicher, sich jedoch verstärkender Symptome sind.
Es spricht manches dafür, dass beides stimmt, das heißt, es gibt bei einen zunehmenden Schweregrad bestimmter Erkrankungen, der recht leicht wiederzuerkennende Elemente der Stufe davor hat, jedoch immer wieder auch eigene Elemente mitbringt, die es vorher nicht gab, so wie wir es hier für den Narzissmus exemplarisch dargestellt haben.
Die dimensionale Komponente (verschieden starke Eskalationsstufen) bringt aber eine neue Möglichkeit der Systematisierung und Zusammenfassung mit sich. Kurz gesagt, kannte Freud früher zwei große Gruppen von Störungen, die einen nannte er Neurosen, die anderen Psychosen, wobei die Neurosen als leicht galten, die Psychosen als schwer. Die Borderline-Symptomatik, die irgendwie beide Symptomgruppen in sich zu vereinen schien, war zwar schon früh beschrieben, allerdings ging man davon aus, dass es nur eine schmale Grenzlinie sei. Diese Ansicht hat sich fundamental geändert, denn wir kennen heute drei große Reiche: Psychosen als schwerste Erkrankungen. Darüber die schweren Persönlichkeitsstörungen, ein eigenes großes Reich zu dem Narzissmus, die Borderline-Störung (emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ), die paranoide Persönlichkeitsstörung und einige weitere gehören, Erkrankungen die vermutlich weiter verbreitet sind und oft auch schwerer, als man denk. Darüber dann die Neurosen, die man allerdings kaum noch erwähnt, aber wie gesehen, ist stete Bewegung in der Diagnostik das Prinzip.
Die Abgrenzung der unterschiedlichen Reiche ist diagnostisch relativ leicht vorzunehmen, für die Diagnostik der Psychosen gilt, dass Realitätsverlust vorliegen muss und das kann man gut prüfen, siehe hier unter Realitätsprüfung. Bei schweren Persönlichkeitsstörungen hat man keinen Realitätsverlust, aber eine Identitätsdiffusion. Bei Neurosen hat man weder Realitätsverlust, noch eine Identitätsdiffusion, sondern es sind spezifische Lebensbereiche gestört, oft jene die mit Spontaneität, Kreativität und Sexualität zu tun haben.
Wenn man erst mal weiß in welchem der drei Reiche Psychose, schwere Persönlichkeitsstörung oder Neurose man sich befindet, ist dies wichtiger, als genau zu wissen, um welche Krankheit es sich innerhalb dieser Reiche nun genau handelt und auch die Therapie ist innerhalb dieser Reiche ähnlich.
Berühmt und berüchtigt: Die Krankheitseinsicht
Wenn man es mit Kritik an der Psychodiagnostik zu tun hat, ist man oft im Bereich der Fundamentalkritik, die jede Diagnostik ablehnt oder fragwürdig findet. Ein Begriff taucht dort immer wieder auf, die Krankheitseinsicht. Damit ist im Grunde eine double bind Situation gemeint gewesen, die vermeintlich keinen Ausweg aus der einmal gefällten Diagnose zulässt.
Kurz skizziert: Wenn jemand eine Diagnose bekommt, dann hat er die Einsicht, die Sinnhaftigkeit dieser Diagnose einzusehen und damit gibt er zu, dass die Diagnose stimmt. Leugnet man auf der anderen Seite aber die Diagnose, so gilt man als besonders krank, da man nicht mal in der Lage ist, die Diagnose zu akzeptieren und sie stimmt erst recht. Die Alternative von Einsicht oder nicht, zerfällt in Wirklichkeit zu einer Scheinalternative oder eben double bind Situation, in der es heißt: Akzeptieren oder akzeptieren. Soweit die Kritik.
Gemeint sind hier oft Diagnosen im psychotischen Bereich, diese würden eine annähernd sadistische oder kafkaeske Konstellation darstellen und so heißt es auch, dass gerade solche double bind Gesprächssituationen, in denen man vor vermeintlichen Alternativen steht, die in Wahrheit keine sind, Psychosen auslösen. Dazu muss man sagen, dass die double bind Theorie selbst heute kaum mehr als Ursache, allenfalls als Trigger oder Verstärkung von Psychosen angesehen wird, zum anderen ist das was mit Krankheitseinsicht gemeint ist, dem entsprechend, was bei der Realitätsprüfung gefragt wird und dort sehr harmlos, so dass es seine sadistische Komponente sofort verliert: Auf die Idee, dass jemand eine Psychose haben könnte, muss man ja zunächst überhaupt erst mal kommen. Damit das der Fall ist, muss derjenige sich irgendwie seltsam und merkwürdig in seinem Verhalten, seinen Affekten oder Gedankengängen darstellen und zwar seltsam genug, so dass es überhaupt auffällt. Um das aufzuklären, machen Psychiater und Psychotherapeuten das, was alle machen, sie fragen nach. Es kann sich ja wirklich um ein Missverständnis, eine Unklarheit oder eine Marotte handeln, die zu erklären ist. Wenn dem Psychiater oder Psychotherapeuten etwas seltsam vorkommt, dann stellt er kurz dar, taktvoll und nicht bloßstellend, was ihm aufgefallen ist, verbunden mit der Frage: „Können sie verstehen, dass mir das seltsam vorkommt?“
Wenn man eine merkwürdige Angewohnheit hat und diese von sich kennt, ist es klar, dass anderen das seltsam vorkommen kann. Das kann man verstehen und benennen. Vielleicht es einem selbst auch noch gar nicht aufgefallen, was man macht und auch dann kann man sagen, dass man das noch nie gemerkt hat, aber verstehen kann, dass es anderen seltsam vorkommen muss. Menschen mit einer Psychose können das jedoch nicht aufklären, sondern fallen entweder deutlich erkennbar in sich zusammen oder können nicht nachvollziehen, dass anderen ihr Verhalten seltsam erscheint und äußern dies in dem sie es entweder fröhlich zu überspielen versuchen oder extrem misstrauisch werden: „Was wollen sie denn damit andeuten?“ Das ist der Hintergrund der Krankheitseinsicht, die keinesfalls auf eine double bind Konstellation ausgerichtet ist.
… und der Deutungswiderstand
Ein anderer, wenn auch sehr ähnlicher Punkt der Fundamentalkritiker ist der terminologisch von Freud eingeführte Deutungswiderstand, der sogar dazu führte, dass Popper der Psychoanalyse die Wissenschaftlichkeit absprechen wollte. Dabei geht es darum, dass eine psychoanalytische Deutung von Patienten entweder angenommen werden kann, dann hilft sie ihm weiter oder zurückgewiesen wird, dann sagt man, der Patient könne die Deutung nicht annehmen und zeige einen Widerstand gegen die Deutung. Problematisch daran ist, dass die Deutung selbst nie infrage gestellt wird, dass man nie auf die Idee, dass sie falsch sein könne, kommt. Weil das so ist, ist die Deutung nicht falsifizierbar und daher (da Falsifizierbarkeit ein Kriterium der Wissenschaftlichkeit einer Theorie ist) unwissenschaftlich.
Es ist jedoch auch hier etwas anders. Zum einen kann man durchaus einer Deutung widersprechen, Therapeut und Patient probieren öfter mal herum, schließlich haben sie das gemeinsame Ziel, dass der Patient seine eigenen unbewussten Anteile besser versteht. Die Psychoanalyse beansprucht dabei, die Geschichte eines Menschen, den man kennt, anders und zwar umfassender, nämlich die sexuellen und aggressiven Komponenten mitberücksichtigend, erzählen zu können. Diese umfassendere Deutung soll den Patienten in die Lage versetzen sich so zu sehen, wie der Therapeut ihn mit seinem Hintergrund sieht und sich selbst, die eigenen unbewussten Motive, besser zu verstehen. Dabei geht es weniger um die Übernahme jeder einzelnen Deutung – wie gesagt, manche helfen, andere nicht – als viel mehr um die Einübung einer Sichtweise. Eine, zu der man sich immer wieder mal durchringt, die man dann, an anderen Stellen aber verweigert und noch nicht einsehen oder annehmen kann. Ziel ist letztlich, dass der Patient am Ende beide Sichtweisen zur Verfügung hat – seine und die des Therapeuten – und selbst entscheiden kann, was ihm treffender vorkommt. Ausführlicher in: Wie wirken psychologische Deutungen? und: Woran erkennt man zutreffende Deutungen?
Insgesamt kann man vielleicht eher zur Psychiatrie als zur Psychotherapie (dazu auch: Der Unterschied zwischen Psychotherapie und Psychiatrie) sagen, dass sie trotz erheblicher Fortschritte in den letzten Jahrzehnten noch immer Luft nach oben hat.