Wir alle kennen Ratgeberliteratur, in der mehr oder weniger klar beschrieben steht, was ein Traum, ein Versprecher, eine Körperhaltung oder ein Krankheitssymptom bedeutet, doch die Frage bleibt, ob es sich dabei um zutreffende Deutungen handelt.
Der Mensch ist individuell
Die Medizin betrachtet den Menschen tendenziell als Organismus, der mehr oder minder bei allen gleich funktioniert. Doch man hat die Erfahrung gemacht, dass das nur teilweise stimmt. Zwar tut die gesunde Niere bei allem Menschen dasselbe und einzelne Zellen sind noch weniger individuell, aber andererseits wissen wir auch, dass wir Organe, Knochenmark und Blut nicht einfach so übertragen können, da diese vom Immunsystem abgestoßen werden.
Aber nicht nur das, auch die Reaktion auf Medikamente ist verschieden. Als Referenzgröße gilt zumeist der durchschnittliche weiße Mann, aber Frauen, Kinder oder andersfarbige Menschen reagieren mitunter anders. Und so ist es auch mit der Psyche. Auch sie besteht, wenn man so will, aus Bausteinen, die alle gleich sind. Bei Freud sind es Es, Ich und Über-Ich, doch man kann auch andere Komponenten finden, wie Temperament, Charakter, Objektbeziehungen oder Archetypen, die Big Five und dergleichen. Doch letztlich ist jeder Mensch ein Individuum und man kann eben nicht sagen, dass der Traum von der Banane immer ein Phallussymbol ist.
…aber nicht ganz individuell
Doch bei aller Individualität sind die Einteilungen in Stufen, Typen, „Bausteine“ nicht willkürlich, sondern resultieren aus bestimmten Beobachtungen.
Wir wissen, dass andere auch hungrig, müde, traurig oder erregt sein können und es ist sehr ungewöhnlich, wenn ein Mensch gar keine Angst oder Empathie spürt. In den Affekten, Bedürfnissen und Motiven unterscheiden wir uns nicht groß und wir können einander auch nur verstehen, wenn der andere ungefähr so tickt, wie wir.
Wenn jemand sagt: „Stell dir vor, was mir passiert ist: …“ dann resultieren die Spannung, Scham oder Komik der Geschichte daraus, dass wir uns in den andern hineinversetzen können.
Psychologisch zutreffende Deutungen nutzen dies, dadurch, dass man zu wissen glaubt, was den anderen motiviert. Psychologen gehen davon aus, dass unser Bild von uns geschönt ist. Nicht weil wir lügen oder boshaft sind, es ist mehr die ganz normale Verdrängung, die zum Leben gehört. Wir erzählen eine kontinuierliche Geschichte, die uns etwas besser sein lässt, als wir sind. Ab und zu bricht in diese Ordnung eine Diskontinuität, eine Unordnung ein. Eine scheinbar belanglose Geste, ein Versprecher, ein plötzliche Phantasie, ein Hustenanfall, ein Symptom.
Doch nicht das eine Symptom, der einzelne Versprecher entscheidet, sondern die Summe der Symptome setzten sich zu einem ganzheitlichen Bild zusammen. Der ein Versprecher könnte wirklich ein Zufall sein, aber wenn er auf ein anderes „zufälliges“ Erröten trifft oder eine plötzliche Gedächtnislücke dann verdichten sich die Anzeichen. Nun können Außenstehende und ein Therapeut eine Theorie entwickeln.
Eine Theorie, auf der Basis, dass jemand auf bestimmte Themen emotional reagiert und und häufig spezifische Fehlleistungen oder Phantasien produziert, die mit eine Thema zu tun haben, wohingegen andere Themen, ausgeblendet bleiben, auch wenn sie vielleicht naheliegend wäre. Die vermeintlichen Zufälle und die kleinen, scheinbar unbedeutenden Ereignisse weißen den Weg ins Land des Unbewussten, denn das was jemand über sich weiß, ist eben nichts Neues für ihn, stellt also insofern auch dann keinen Konflikt dar.
Wenn eine Deutung zutrifft, trifft sie auch
Wenn sich also ein bestimmte Idee aufdrängt, ein Verdachtsmoment da ist, kann man versuchsweise deuten. Dabei kann es sein, das jemand ins Nachdenken kommt und die Sache auf diese Weise noch gar nicht betrachtet hat. Er könnte sagen: „Hm, stimmt, jetzt wo sie es sagen, macht das durchaus Sinn.“ Das ist vermutlich ein Treffer, aber kein Volltreffer.
Den therapeutischen Volltreffer empfindet ein Patient in der Regel nicht als hilfreich, sondern als absurd, als Frechheit. Aber, mit einer oft hohen emotionalen Beteiligung, die im Kontrast dazu steht. Oder der Patient schweigt und findet auf einmal keine Wort mehr. Dann ist man auf einem guten Weg und der nächste Schritt wäre, den Patienten zu helfen, die Deutung anzunehmen, da sich selbst zu verstehen, ein immenser Gewinn ist.
Das sind unsere Bausteine:
- Mehrere, möglichst verschiedenartige Hinweise und Symptome weisen in die gleiche Richtung.
- Es kristallisiert sich ein Thema heraus, das in besonderer Weise zur Sprache kommt oder gemieden wird.
- Zutreffende Deutungen machen emotional betroffen oder erscheinen vollkommen absurd.
Sich selbst zu verstehen ist keinesfalls ein kleiner Denkakt, so wie man eine Eintrag in einem Lexikon liest und nun etwas mehr weiß. Für den Patienten bedeutet ein Deutungs-Volltreffer, dass man das Gefühl hat, der Boden wird einem unter den Füßen weggezogen. Er muss eventuell seine ganze Lebensgeschichte umschreiben, mitsamt den Empfindungen, Wahrheiten und Sicherheiten. Konsterniert, entsetzt, fassungslos findet man sich wieder. Das ganze Weltbild kann ins Wanken geraten, was erklärbar macht, warum man sich vor einer Einsicht so lange drückt und der Schritt so groß ist. Die Welt ist danach eine andere.