Strasse bei Nacht, Kopfstein, schwarzweiß

Trist, einsam, eigen, romantisch und oft vergessen: der deutsche Osten. © Matthias Ripp under cc

Jeder hat schon mal Situationen erlebt, in denen er sich überflüssig fühlte. Der misslungene Urlaub zu dritt, bei dem man denkt, dass man besser zu Hause geblieben wäre und das nie wieder tun wird, die Party, bei der man sich fragt, was man eigentlich hier soll und wie um alles man hier gelandet ist, kurze Momente, die dennoch quälend genug sind, um sie lange Zeit in Erinnerung zu behalten und zu wissen, wie es sich anfühlt überflüssig zu sein.

All das ist nicht nicht schön, aber man überlebt es. Ernsthafter wird es schon, wenn man längere Zeit so einer Situation ausgesetzt ist. Das erlebt man heute öfter mal in beruflichen Kontexten, wenn man gemobbt wird, oft noch mit dem unausgesprochenen Zusatz, dass man nicht nur überflüssig, sogar obendrein auch nicht gewollt ist. Sich längere Zeit wie das fünfte Rad am Wagen zu fühlen oder nichts zu tun zu haben, ist eine Quelle von großem Stress, der Boreout kann so sehr belasten, wie der Burnout. Die Zahl derer die daran ernsthaft erkranken ist gerade in unserer Zeit beträchtlich.

Doch hier soll es um andere Menschen gehen, nämlich solche die ihr vermeintliches Überflüssigsein mit der Diagnose lebenslänglich serviert bekommen. In archaischen Kulturen soll es noch den Tod zur Folge gehabt haben, wenn jemand aus der Gemeinschaft ausgestoßen wurde. Wir leisten es uns heute, immer mehr und immer größere Gruppen aus der Gesellschaft auszuschließen, darunter längst nicht nur Fremde oder jene, die uns fremd erscheinen, sondern eine immer größere Zahl an Mitgliedern verschiedenster Gruppierungen und Milieus, die alle um die Ohren geschlagen bekommen, dass sie nicht gebraucht werden.

Viele sitzen in einem Boot

Ganz offensichtlich sind viele Migranten davon betroffen, auch solche der Generationen, deren Eltern und Großeltern bereits hier lebten, auch wenn das nicht zentrales Thema sein soll, sondern die erstaunliche Breite der Gruppen, die man als überflüssig ansieht. Das Thema wird noch immer sehr kontrovers gesehen und ist viel zu sehr zu einem Politikum in einem schlechten Sinne verkommen, bei dem man zu oft meint, sich pauschal für oder gegen Migration entscheiden zu müssen. Die einen denken, das Boot sei längst zu voll, die anderen halten jede Kritik für Rassismus, auch wenn sich die Stimmung leicht entspannt. Dabei hat man für Intensivtäter, die eine Gesellschaft weder braucht noch aushalten muss, bislang so wenig eine Lösung gefunden, wie eine Positivliste, die jene willkommen heißt, die wir tatsächlich brauchen, denn Rentner werden andere Rentner nicht pflegen.

Aber die Gruppen derer, die man explizit, meistens aber durch die Blume als überflüssig ansieht, ist größer und betrifft keineswegs nur die Randgruppe der Gesellschaft, sondern immer mehr ihre schleichend zerbröselnde Mitte. Die Randgruppen kann man schnell abhandeln. Körperlich und geistig behinderten Menschen gesteht man oft nicht zu ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft sein zu können, was sich in dem häufig überaus ungeschickten Umgang mit ihnen ausdrückt. Die eine Gruppe weiß oft nicht, wie man mit „denen“ umgehen soll, die anderen übertünchen das durch eine übergroße und betonte Rücksichtnahme, der Wunsch vieler Betroffener ist oft nur, einfach als normaler Mensch wahrgenommen zu werden.

Ähnlich ergeht es psychisch Kranken. Sie haben häufig damit zu kämpfen, dass man ihnen ihr Leiden nicht direkt ansieht. Was für andere normal ist oder zu sein scheint, ist für sie eine oft unüberwindliche Hürde, die sich auf alle Lebensbereiche auswirken und in allen zeigen kann. Auf einmal schafft man die scheinbar einfachsten Dinge nicht mehr, kann nicht mehr Arbeiten, ins Kino gehen oder entspannt in den Urlaub fahren. Man hat Sorgen um seine Gesundheit oder Schmerzen, die organisch nicht mehr zu begründen sind, aber dennoch da sind.

Man würde psychisch Kranken nicht direkt sagen, dass sie überflüssig sind, aber nach und nach spüren die in vielen Fällen doch den wachsenden Druck, jetzt doch nun bitte auch mal wieder normal zu werden. Manchmal durch offene, manchmal durch subtile Botschaften, oft genug aber auch darum, weil man die Glaubenssätze unserer Gesellschaft selbst sehr genau kennt und verinnerlicht und in nicht wenigen Fällen sogar selbst vertreten hat. Man kennt die stille Choreographie und die Erwartungen, nun endlich wieder richtig zu ticken und zu funktionieren, aus dem inneren Erleben. Auf einmal ist man selbst einer von denen, über die man sich vielleicht sogar abfällig geäußert hat.

Wenn man die Betrachtungen auf das soziale Milieu ausdehnt, dann findet man schnell die sogenannte Unterschicht, die gerne auch von oberster politischer Stelle als nutzlose Esser angesehen werden. Inzwischen wird immer mehr Menschen bewusst, wie kalt und oft ungerecht Menschen da gegängelt und durch die bürokratische Mühle gedreht werden, in der überwiegenden Mehrzahl unverschuldet und mit dem Willen zu arbeiten.

So weit, so bekannt. Aber es wurden und werden nicht nur Randgruppen als überwiegend überflüssig angesehen, sondern auch viele Menschen, die man heute als Wendeverlierer bezeichnet. Nach der Wende hat der deutsche Osten ein Vielzahl von Einwohnern verloren, vor allem junge Frauen zogen weg, was den demographischen Niedergang noch einmal verstärkte. Zurück blieben oft jene, die nach der Wende kein besseres Leben hatten. Im schlimmsten Fall wurden oder fühlten sie sich drei mal nacheinander betrogen, erst die Nazis, dann die Kommunisten und dann von der Versprechung der blühenden Landschaften. Für viele hat sich vieles verbessert, unnötig und übergriffig war, dem „Ossi“ nun auch noch jede Facette des DDR Lebens madig zu machen, es wurde nicht selten Dankbarkeit in Verbindung mit dem Bekenntnis zur völlig Kapitulation gefordert. Es musste alles im Osten rückständig und schlecht sein und wer noch einen Funken Reststolz hatte, dem sagte man´, er verkläre die Vergangenheit, dass dies zu Trotz und Abwendung führt, ist zu verstehen. Und so wurden auch Teile des Ostens einfach vergessen, marginalisiert und die Menschen dort empfanden in einigen Regionen überflüssig zu sein. Man wollte sie nicht sehen und ihre Geschichten nicht hören.

Wohlhabend, aber überflüssig

Aber es sind nicht nur die Armen, Ausgegrenzten, die, die irgendwie als fremd gelten, wie im deutschen Osten, oder manche Deutschtürken, die, wie auch immer man sie aktuell bezeichnen soll, hier geboren wurden und nun aufwachsen. Eine andere große und durchaus zahlungsstarke Gruppe rutscht in die Rubrik der Überflüssigen, es sind unsere Rentner. Viele Menschen definieren sich bei uns in einem hohen Maße über die Arbeit, die sie verrichten und sie ziehen auch ihr soziales Ansehen daraus.

Nun ist man von einem Tag auf den anderen Rentner und nicht mehr der, der man noch am Tag davor war. Zwar sind Rentner gerne gesehen, weil sie die zum Teil zahlungsstärkste Gruppe darstellen, aber eine Funktion und Bedeutung haben sie oft auch nur dann. Wehe, wenn das Geld zur Neige geht, dann ist man auf einmal gar nicht mehr so beliebt, auch wenn man noch mit Herr Doktor angesprochen wird, denn Rentner haben bei uns im Grunde keine Funktion, außer zu konsumieren, was sie oft genug nicht mal tun. Vorbei die Zeiten, als Opa für die Enkel da war oder man die Erfahrung und Lebensweisheit der älteren Generation schätzte.

Die ärmeren Rentner haben nicht selten niederschmetternde Ideale. Was für sich noch zählt, ist den oftmals überforderter Kindern keine Last zu sein. Manche sagen das mit Stolz, weil sie immer selbstständig waren, aber andere geknickt bis deprimiert. Nur niemandem zur Last fallen, wer nicht arbeitet oder nichts leistet, der ist auch nichts wert. Da ist der Schritt in den Alkoholmissbrauch, Tablettensucht oder Suizid oft nicht weit.

Eigeninitiative

Rentnerin in rotem Mantel

Ihr Tag ist nicht grau. So sollte es sein. © Boris Thaser under cc

Am Ende sind es doch recht breite Schichten der Gesellschaft, sich überflüssig vorkommen müssern Schade, wenn Arbeit zu haben und Wohlstand zu den letzten Werten geworden sind, obwohl sie gar keine sind und neben diesen alles andere verblasst. Allenfalls ein „nice to have“ oder „soft skills“ sind dann die Bezeichnungen für die wahren Werte, die wir doch so sehr schätzen und verteidigen wollen. Welche noch mal?

Vielleicht ist es gut, wenn die Not größer wird und man mehr und mehr gezwungen wird, aus der Not heraus auf andere Ansätze und Lebensformen zurück zu greifen, bei denen man sich wieder wechselseitig hilft und näher kommt. Vermutlich wird das zuerst in Dörfern oder Stadtrandteilen funktionieren, aber ob es Alt/Jung-WGs sind, ob eine Straße ein Blockheizkraftwerk nutzt, den Verkehr, das Kochen, die Hilfe im Haushalt, oder das Aufpassen auf Kinder selbst organisiert, eine Kooperation mit einem lokalen Bauern eingeht, im regionalen Rahmen die Politik aktiv unterstützt oder einfach nur zusammen musiziert, meditiert oder sich um Tiere, Pflanzen oder eine schönere Umgebung kümmert, all das kann einer Gemeinschaft neue Impulse geben und für andere Regionen als Vorbild dienen.

Eine neue Währung

Es ist wichtig, dass wir wieder andere Währungen finden, nicht zwingend im Sinne einer monetären Regiowährung, sondern in dem Sinne, dass man wieder lernt, dass es anderes gibt, was dem Leben Sinn, Inhalt und Freude gibt und eine Wert darstellt. Etwas, dass man für andere tun kann und was über Arbeit zu haben und Geld zu besitzen hinaus geht. Einander Zeit und Aufmerksamkeit zu schenken, ist etwas, das man immer tun kann und wundersamer Weise sowohl dem Beschenkten als vor allem auch dem Schenkenden gut tut. Es sind oft Kleinigkeiten und die Summe vieler Kleinigkeiten bewirkt so schnell, so viel und kann ein ganzes Leben umkrempeln.

Eine neue Kultur des Teilens kann entstehen, vielleicht erst zaghaft weil jeder anderes hat, was er nicht hergeben würde oder geben kann, aber wir werden in Zukunft vernetzter sein und jeder kann seine Fähigkeiten gezielter einbringen, ob man bei der Steuer hilft, den Computer fit macht, Rasen mäht, Geigenunterricht gibt, kocht oder Geschichten vorliest.

Kameradschaften, Schicksalsgemeinschaft, Wertegemeinschaft

Viele gefürchtete Mitglieder eine Gesellschaft zieht es in Gemeinschaft, in denen sie an aller erster Stelle das erhalten, was ihnen die Gesellschaft bisher verwehrt hat, nämlich schlicht und einfach das Gefühl Willkommen zu sein und gebraucht zu werden. Das grausame Gefühl, nicht gebraucht zu werden ist genau das, was Kameradschaften und Schicksalsgemeinschaften aufgreifen und ins Positive verwandeln. Du bist einer von uns, auf dich haben wir gewartet, auch dich mögen sie nicht, darum bist Du einer von uns. Oft ist es genau das Kriterium wegen dem man von der Gesellschaft ausgegrenzt wurde, was in, nicht selten extremistischen Gruppierungen ins Gegenteil verwandelt wird. Das kitzelt und pusht jedes Ego, vor allem solche, die eben keine 20 etablierten Rollen im Leben spielen, sondern denen man keine einzige zugeschrieben und zugetraut hat, oder für die es einfach keine gibt. Fast alle eint das Gefühl als überflüssig empfunden zu werden, viele entwickeln keinerlei Gefühle außer einer nun verstärkten Abneigung bis zum Hass, gegen jene, die einen bislang selten beachtet und noch nie gewertschätzt haben. Dabei genügt oft eine einzige Begegnung, um eine ganze Biographie zu drehen, Geiz ist selten geil, in der Verweigerung jeder Art von Anerkennung am aller wenigsten. Einer, der sich kümmert.

Aus vielen Rollen kann eine stabile Identität werden

Soziale Zugehörigkeit und Anerkennung sind sehr fundamentale Werte. Das Bedürfnis danach kommt in klassischen Modellen, gleich nach denen nach Nahrung und Schutz, wobei schon vor Jahrzehnten Tierexperimente gezeigt haben, dass die Fellimitation einer Mutter einer reinen Futterquelle sogar vorgezogen wird. Ist ein Minimum davon gesichert, so dass man nicht in Lebensgefahr und existenzbedrohendem Hunger und Durst lebt, erscheint bereits das Bedürfnis nach Zugehörigkeit.

Neuere psychologische Richtungen, wie die Objektbeziehungstheorie sieht Menschen ohnehin als Wesen in Beziehung von Beginn ihres Lebens an und psychische Entwicklungsstörungen sind immer auch Beziehungsstörungen, bei denen das was man früh gelernt hat oder eben nicht lernen konnte, auf die Gesellschaft übertragen wird. Was die Eltern einem nicht gegeben haben, weil sie es nicht konnten, kann man sich später nur schwer und vielleicht nicht immer vollständig aneignen. Ein generelles Misstrauen bleibt vielleicht ein Leben lang zurück.

Gerade darum sind ernst gemeinte Angebote so wichtig, die auch das gesellschaftliche Klima wieder verändern können. Angebote die prinzipiell jedem offenstehen, ein wichtiges, vollwertiges und erwünschtes Mitglied unserer Gesellschaft zu sein, solange er oder sie sich nur bemüht, die Regeln, die hier gelten anzuerkennen. Dabei sind Gesetze und Verfassung nur der Anfang, mit unseren Werten, die sich im Laufe der Zeit verändern, besitzen wir ein sehr viel feineres Instrument, das wir auch nutzen sollten. Jeder kann selbst anfangen und das Vorleben, was er gerne hätte, andere so behandeln, wie man selbst gerne behandelt werden möchte.

Wenn man Menschen lediglich eine Rolle pro Person für den Anfang zuspricht, in der man sie ernst nimmt, annimmt und deren Funktion man selbst für wichtig hält und anerkennen kann, ist viel gewonnen und man gräbt Extremisten automatisch das Wasser ab. Überflüssig zu sein, ist ein grausames Gefühl, wir alle haben es schon mal in Ansätzen erlebt und sollten nachvollziehen können, dass auch anderen das keinen Spaß macht. Neue Rollen zu kreieren, abseits der gewohnten, die häufig über Besitz und Einfluss funktionieren, heißt vielen die sich frustriert abwenden, wieder eine Heimat, mindestens aber eine Orientierung zu geben. Aus einer Rolle können andere erwachsen, die Fähigkeit zwischen vielen Rollen switchen zu können, vergrößert die Möglichkeit eine stabile Identität zu entwickeln, Menschen mit einer stabilen Identität sind für eine Gesellschaft ein Gewinn. Es kostet nicht viel und alle gewinnen dabei.