Sterben ist als ein Prozess zu sehen, der sich dem Zeitpunkt des Todes nähert. Wie wird es wohl sein, wenn man kurz vor dem Tode steht? Ist Sterben schlimm?

Angst vor dem Tod = Naturgesetz

Angst vor dem Tod zu haben, ist natürlich. Hätten wir diese nicht, beziehungsweise wenigstens den Respekt vor dem Tod nicht, würden wir unseren Organismus nicht als schützenswert erachten. Durch die dem Menschen innewohnende Angst vor dem Tod erhalten wir unser Leben. Ein evolutionärer Schutzmechanismus – wie so oft.

Bei der Geburt eines Menschen, zum Beispiel. Wenn die Natur derart in sich abgestimmt ist, dass bei der Geburt eines Kindes im Körper der Mutter schmerzstillende und beruhigende Stoffe ausgeschüttet werden, Mechanismen in Gang kommen, sodass die Geburt einem naturgewaltigen Strom gleich vonstatten gehen kann, müsste es sich mit dem Sterben dann nicht in ähnlicher Form verhalten?

Ist Sterben schlimm?

Babygesicht große dunkle Augen

Ähnlich wie die Geburt ist auch das Sterben ein natürlicher Prozess. Vertrauen wir unserem Organismus. Vielleicht ist Sterben gar nicht so schlimm? © Lírica Aragão under cc

ist Sterben so schlimm, wie wir antizipieren? Oder kann man sich dem Unvorstellbaren stellen, sich womöglich sogar an das eigene Schicksal gewöhnen?
Nach bisherigem Kenntnisstand könnten die mit dem unmittelbaren Tod verbundenen Gefühle tatsächlich mehr positiver als negativer Natur sein. Menschen sind unglaublich anpassungsfähig, sowohl körperlich als auch emotional, erklärt Kurt Gray vom Department of Psychology & Neuroscience der University of North Carolina.

Blogposts Todkranker

In ihren Studien verglichen Gray und seine Kollegen die Emotionen der Menschen in Bezug auf das Sterben mit den Ansichten und Blogposts von todkranken Patienten (Krebs und ALS). Ein solcher adaptierender Prozess, wie wir ihn im vorangegangenen Artikel in den fünf Phasen des Sterbens beschrieben haben, scheint sich tatsächlich zu bestätigen. Nicht nur, dass die Blogposts der Todkranken in Bezug auf den nahen Tod positiver formuliert waren im Vergleich zu den simulierten Blogposts Gesunder (in der Annahme, man würde sterben). Zudem wirkten die Blogposts der real Todgeweihten umso positiver, je näher sie dem Todeszeitpunkt kamen. Sie waren erfüllt von Liebe, sozialer Verbundenheit, Hoffnung sowie bedeutungsvoll.

Reue bei zum Tode Verurteilten

In der zweiten Studie der Forschergruppe um Goranson und Gray (2017) wurden die letzten Worte von zum Tode verurteilten Insassen in Texas analysiert und mit den vorgestellten letzten Worten von Nichtinsassen verglichen. Auch hier zeigte sich, dass das Gesprochene der tatsächlich Todgeweihten deutlich positiver – voller Optimismus, Glauben und Mut – und weniger negativ war. Offenbar scheint man seinen Frieden zu machen, gedenkt der Familie oder/und wendet sich der Religion zu, unabhängig davon, ob man nun nach schwerer Erkrankung oder aufgrund von Straftaten dem Tod ins Angesicht blickt.

Analysiert man die häufigsten Wörter von Todestraktinsassen kurz vor ihrer Exekution findet sich Folgendes zuvorderst: Love.
Andere durch qualitative und quantitative Analysen herausgefundene Wörter waren: Sorry, Family, want, God, Thank, Hope, forgive.

Wie es scheint, bereitet sich unser Gehirn instinktiv auf das Sterben vor. Es passt sich an, sodass Sterben eher als Lebensabschluss und nicht als schlimm oder angstvoll bewertet wird.

Eindrücke an der Schwelle des Todes

Nahtoderfahrene, die nach einem Herzstillstand zurück ins Leben geholt worden sind, berichten manchmal von Eindrücken, die sie rückblickend hatten. Auffallend ist, dass sich diese Erlebnisse bei den Menschen weitestgehend ähnlich gestalten und überwiegend positiver Natur sind. Die meisten Patienten berichten von einer großen Leichtigkeit und Schmerzfreiheit. Manche haben regelrechte Glücksgefühle empfunden. Auch vom besagten Tunnel oder einer Out-of-Body-Erfahrung erzählen viele. Die medizinischen Erklärungen dafür gehen von einem Schutzmechanismus des Organismus aus bis hin zu einer Überaktivität des Gehirns, welche diese intensiven Erlebnisse hervorrufen könnte.

Die letzten Minuten: Was passiert im Körper?

elektrischer Stuhl aus Holz

Was geht Menschen kurz vor Vollstreckung ihres Todesurteils durch den Kopf? © A Yee under cc

Jakob Simmank, Redakteur bei der ZEIT, spricht in seinem Artikel über das Sterben von einem Feuerwerk, welches im Gehirn zu einem letzten Aufbäumen führt:

»Die Nervenzellen schütten enorme Mengen Noradrenalin aus, das im Stirnlappen die Aufmerksamkeit hochreguliert. Auch Serotonin entfährt den Zellen; es könnte hinter Trugbildern und dem Gefühl mystischer Wahrnehmung stecken. Und letztlich wird das Gehirn vom Dopamin des Mittelhirns geflutet. Das ist der Belohnungsbotenstoff, der die Stimmung hebt und ein Gefühl der Wärme auslöst. Und vielleicht einen letzten Moment des Glücks.«

Darüber hinaus werden körpereigene Opiate ausgeschüttet, die zur Beruhigung im Organismus führen und die, ebenso wie der nachlassende Hunger und Durst sowie die zunehmende Mattheit, zu einem natürlichen Sterbeprozess gehören. Palliativmediziner versuchen in dieser Phase so wenig wie möglich einzugreifen:

»Gerade die leichte Austrocknung ist für den Sterbenden gut! Denn nur dann schüttet das Gehirn weitere Botenstoffe aus: Sie beruhigen und lindern Schmerzen, es sind körpereigene Opium-Stoffe, sogenannte endogene Opiate«, so Josef Hell.

Sterben als Teil des Lebens: Das sagt sich so leicht.

Sterben ist ein Teil des Lebens. Das hört man in vielen Dokumentationen über das Sterben oder man liest es in vielen Artikeln, welche sich mit dem Sterbeprozess und der Angst vor dem Sterben befassen. Es ist so leicht dahingesagt. Wenn man darüber nachdenkt, hat dieser Satz natürlich auch seine Richtigkeit. Dennoch fällt es vielen von uns schwer, diesen Satz so richtig »fühlen« zu können. So sehr wir uns auch bemühen, die meisten von uns betrachten den Tod nach wie vor als Bedrohung. Wir sehen ihn als Gegenspieler zum Leben und nicht als etwas, das zum Leben dazugehört. Die wenigsten wollen sterben. Wie eingangs erwähnt, geht das Anfreunden mit dem Tod in gewisser Hinsicht konträr zum Leben. Würde man sich im Leben mit dem Sterben anfreunden, stünde dies im Gegensatz zum Grundsatz, dass jedweder Organismus aus den Gründen des Selbstschutzes versucht zu überleben. Wenn der überwiegende Teil der Menschen in den vergangenen Jahrtausenden gleich einem Amoklauf oder wie fremdgesteuert freiwillig in den Tod gegangen wäre, so hätte die Population der Menschen sehr wahrscheinlich nicht überlebt. Wie also soll man sich gedanklich mit etwas anfreunden, was genetisch in uns so nicht vorgesehen ist?

Sexueller Kannibalismus: Sterben als Aufopferung

Bei manchen Tierarten gleicht die Paarung dem Akt des Todes. Einerseits gibt es diverse Spinnenweibchen, die die Männchen nach der Paarung gern in die ewigen Jagdgründe schicken. Hin und wieder werden die Männchen sogar während der Paarung verspeist. Die schwarze Witwe ist für ihre naturgegebene »Kaltschnäuzigkeit« nach der Paarung bekannt. Der Name beruht sogar auf diesen ihr innewohnenden Hang zum sexuellen Kannibalismus.

Weniger bekannt ist das seltsam »selbstschädigende« Verhalten der männlichen Breitfuß-Beutelmaus. Auch sie gibt alles, sogar ihr Leben, um sich paaren zu können. Die Breitfuß-Beutelmaus ist ein relativ kleines australisches Säugetier. Diese Maus geht auf einen regelrechten Amoklauf bei der Paarung, der bis zu vierzehn Stunden andauern kann und bricht dann völlig erschöpft tödlich zusammen. Hauptsache ist für sie, dass die Weitergabe der Gene ermöglicht wurde.

Und nein, es betrifft nicht nur die Männchen, welche zur Erhaltung der Art ihr Leben opfern. Auch einige Weibchen machen dies. Es gibt beispielsweise Spinnenweibchen, welche die Jungtiere schlüpfen lassen und sich anschließend von diesen verspeisen lassen. Das mag grausam klingen. Vielleicht auch ein bisschen ekelig. Doch es hat einen Sinn.

Eine solche Art der Fortpflanzung, bei welcher der Beteiligte stirbt, nennt man Semelparität. Und diese Verhaltensweise der Selbstaufopferung ist genetisch bei diesen Tierarten verankert. Diese Tierarten zeugen dafür auch mehr Nachkommen und die Aufzucht der Nachkommen ist auch nicht annähernd so aufwendig wie beim Menschen. Es ist also eine andere Strategie, welche sich bei semelparen Arten bewährt hat. Was für die Breitfuß-Beutelmaus passt, passt eben nicht für den Menschen und andersherum. Hätten diese semelparen Tiermännchen ein menschenähnliches Bewusstsein, würden sie vermutlich vor dem Akt der Paarung mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Beinchen davonlaufen. Doch welche Schlüsse können wir aus der Semelparität für unsere Population der Menschen ziehen?

Den Sinn des Sterbens begreifen

Feuerwerk blau grün gelb

Kurz vor dem Tod passiert im Gehirn ein Feuerwerk, so Forscher. © Epic Fireworks under cc

Von der Semelparität mancher Tierarten können wir lernen. Diese speziellen Tierarten paaren sich nur ein einziges Mal in ihrem Leben und sterben im Anschluss an die Fortpflanzung beziehungsweise an die Brutpflege. Ihre kurzen Lebenszyklen im Schnelldurchlauf machen uns, die im Durchschnitt um die siebzig bis achtzig Jahre auf dieser Erde zur Verfügung haben, folgendes klar: Nach Beendigung ihrer kurzen Lebenszeit machen diese Tiere Platz für Neues.

Nur weil unsere Leben länger laufen und wir mit einem tieferen Bewusstsein auf dieser Erde weilen, bleibt der zugrundeliegende Sinn des Sterbens bestehen. Auch wir machen Platz für Neues. Wären die Menschen vor uns nicht gestorben – unsere Vorfahren –, wären wir nicht geboren worden. Evolution ist ein Prozess, welcher durch immer wieder neue Mutationen neue Anpassungen an die Lebensbedingungen mit sich bringt. Diese Veränderungen und Optimierungen können nur entstehen, wenn das »Alte« geht. Es gäbe kein Fortschreiten, keine Innovationen, keine neue schöpferische Kreativität, kein Zugewinn, wenn die immer gleichen Menschen mit dem immer gleichen Gedankengut auf dieser Erde blieben. Es ist ein Wechselspiel der Arten auf dieser Erde, welches den natürlichen Kreislauf auf der Erde im Gleichgewicht halten soll. Jede Population kann diese Balance nur mitgestalten, so lange sie sich selbst erneuert und optimiert. Bliebe alles Alte in einer Population vorhanden, würde diese Population anfälliger werden für Erkrankungen, Bedrohungslagen etc.

Sich selbst als Mensch neu einordnen

Sobald wir uns auf dieses Gedankenspiel einlassen, werden wir in mindestens zweierlei Hinsicht davon profitieren. Indem wir auf natürliche Weise sterben, fördern wir die Erhaltung unserer Population, den Fortbestand unserer Art. Darüber hinaus sollte dieser gedankliche Ansatz uns auch in anderer Hinsicht demütig machen. Das Sterben ist nicht nur ein Teil des Lebens auf dieser Erde, sondern wir sind auch ein Teil der Natur. Dem Kahlschlag, welchen die Population der Menschheit in den vergangenen Jahrzehnten auf der Erde vorgenommen hat, muss nun ein Umdenken folgen. Anstatt an alten Gewohnheiten festzuhalten und der Schwierigkeit umzudenken, brauchen wir neue junge Generationen von Menschen, die neue Wege finden, mit unserem Fortschritt und unserer Innovationsfreude nachhaltiger und im Einklang mit der Natur umzugehen. Unser Sterben macht Platz für Neues. Und wir sind ein Teil davon. Machen wir das Beste aus unserer Zeit auf der Erde und gehen wir in Demut und Dankbarkeit, wenn unsere Zeit gekommen ist.

Als Resümee bleibt nicht zuletzt eines bestehen: Folgt man diesen Schlussfolgerungen und Eindrücken, scheint sich Sterben nicht schlimm anzufühlen – im Gegenteil: Ähnlich wie die Geburt eines Menschen handelt es sich dabei um einen natürlichen Prozess, der uns Menschen auf dem Fluss des Lebens davonträgt. Im letzten Artikel unserer Serie wollen wir einige psychologisch hilfreiche Hinweise für Sterbende zusammentragen.