Was empfinden Menschen, Tiere, Bäume, Gräser?

Kahle Baumreihe vor Sonne in Winterlandschaft

Wo erläuft die Grenze des Bewusstseins? Wir wissen es nicht. © Richard Walker under cc

In dieser Situation muss man nicht kapitulieren, sondern kann den Spieß umdrehen. Gut, wir wissen es nicht, tun wir aber mal so, als ob. Von mir weiß ich, dass ich bewusst bin. In der Philosophie ist wenig sicher, dieser Punkt allerdings schon. Das Argument jemandem zu sagen, dass er sich bezüglich seiner Bewusstheit irrt und eigentlich gar nicht bewusst ist, setzt bereits voraus, dass dieser Mensch, der das ja verstehen soll, bewusst ist. Bewusstsein ist unhintergehbar!

Von mir weiß ich es also, vom anderen nicht. Ich kann aber nun, da ich weiß, dass man aus Theorien über andere nicht herauskommt, diese einfach mal aufstellen. Wenn ich mir den Finger klemme empfinde ich Schmerzen und zeige dabei ein bestimmtes Verhalten. Dieses Verhalten, wir erinnern uns an Wittgenstein, habe ich zwar zum Teil gelernt, ich weiß aber auch, dass ich tatsächlich dabei etwas empfinde. Ich zeige nicht nur Schmerzverhalten, sondern mir tut etwas weh. Ich weine nicht nur, ich bin tatsächlich auch traurig. Genauer müsste man noch sagen: So wie ich empfinde und so, wie Trauer beschrieben wird, das passt zusammen.

Und wenn ich sehe, dass ein anderer sich auf eine gewisse Weise verhält, dann macht es Sinn zu unterstellen, dass auch er traurig ist oder Schmerzen hat. Wir könnten ihn fragen. Wir verfeinern unsere Wahrnehmungen immer mehr, lernen, dass man auch vor Glück oder ohnmächtiger Wut weinen kann. Manches ist uns angeboren, durch Spiegelneuronen. Diese versetzen uns in eine bestimmte Stimmung (nichts anderes ist die Gegenübertragung), aber sie erklären nichts. Näheres dazu in Empathie.

Doch wir sind in der Lage auch Theorien über Wesen aufzustellen, die andere Vorlieben und Einstellungen als wir haben. Wenn man weiß, dass jemand Fisch liebt und in der Mittagspause vor der Tür seiner Anstellung ein gutes Fischrestaurant ist und dieser Mensch gut verdient, dann kann auf die Idee kommen, dass er hier Mittags öfter isst. Das klappt auch dann, wenn man sich selbst vor Fisch ekelt. Wenn jemand entsetzliche Flugangst hat, ist der beste Weg nach Rom für diesen Menschen, der, mit Auto oder Bahn. Das ist auch dann nachvollziehbar, wenn man keine Flugangst hat. Dies und die nächsten 100 Beispiele laufen technisch auf Folgendes hinaus:

Wenn die Prämissen dieses Menschen auch für mich gelten würden, würde ich mich verhalten wie er. Da ich ein rationales und empfindendes Wesen bin, habe ich guten Grund zu der Annahme, dass das für den anderen auch gilt.

Hier geht es um eine kognitive Übereinstimmung. Aber kann der Mensch wie ein Tier empfinden? Die höheren Säugetiere sind in der Lage Emotionen auszudrücken. Bestimmte Ähnlichkeiten in Mimik und Gestik zwischen ihnen und uns sind gewiss kein Zufall. Schreckgeweitete Augen, Fluchtverhalten, Erstarren, sexuelle Erregung, Lauern, Anschleichen, Angst und Wut, das sehen wir bei ihnen, wie bei uns. Auch hier besteht Grund zu der Annahme, dass wir als empfindende Wesen, das Verhalten anderer empfindender Wesen, die vielleicht auf anderes ängstlich oder freudig reagieren, erkennen können, oder eben:

Wenn die Reizreaktion dieses Wesens auch für mich gelten würden, würde ich mich verhalten wie dieses Wesen. Da ich ein empfindendes Wesen bin, habe ich guten Grund zu der Annahme, dass das für das andere Wesen auch gilt.

Bei Bäumen, Gräsern, Schnecken und Insekten wird es schwer, weil ihr Verhalten unserem kaum ähnelt. Wir müssen hier die Puzzleteile genauer zusammenfügen, aber wenn wir das gewissenhaft tun, kommt heraus, dass auch niedere Tiere und Pflanzen eine Art von Bewusstsein haben, von der wir nicht wissen, wie weit sie reicht und wie umfassend es ist. Wir können nur versuchen fair und gründlich zu ermessen, was für und das gegen eine Theorie spricht, denn direkt empfinden wie ein anderer können wir auch bei unserem Zwillingsgeschwister, langjährigen Lebenspartner oder philosophischen Zombie nicht.

Doch wenn wir die Puzzleteile zusammen fügen, sehen wir Erstaunliches:

Soziale Tiere sind komplexe Tiere

Je sozialer die Tiere, um so intelligenter und komplexer sind sie, vermutlich weil es in der sozialen Gemeinschaft ganz einfach notwendig ist, das Verhalten anderer zu verstehen. Die soziale Gemeinschaft bietet Schutz, man muss allerdings Opfer bringen. Was Freud zurecht als das Unbehagen in der Kultur beschrieb, Schutz durch Triebverzicht, ist in abgeschwächter Form schon im Tierreich der Fall.

Viele haben da falsche Vorstellungen. Spencers Satz vom „Survival of the fittest“ meint den Bestangepassten, nicht den Stärksten. Es wird immer wieder berichtet, dass das stärkste Tier der Rudelführer ist, doch das ist keinesfalls immer der Fall. In Rudeln von Wolfshybriden oder Wildhunden kommt es durchaus vor, dass ein junges und kräftiges Tier den bisherigen Leithund im Kampf besiegt und das Rudel dem Sieger nicht folgt.[1]

Auch kann es vorkommen, dass zu aggressive Tiere auf ein geheimes Kommando vom ganzen Rudel auf einmal angefallen und getötet werden. Soziale Beziehungen sind komplex und gerade diese hochkomplexen Tiere sind eher über ihre individuellen Besonderheiten zu erfassen, als über ihre art- oder rassetypischen Gemeinsamkeiten, sie sind, wenn man so will, kleine Persönlichkeiten.

Dazu kommt, dass ein Tier in der Regel umso freier ist, je sozialer es ist, also, je komplexer der soziale Verbund ist, in dem es lebt. Doch sozial und frei, darf man nicht zwingend als gut verträglich verstehen. Freiere Tiere können durchaus gewalttätigere Tiere sein. Manche Tiere scheinen einander über die normale Rivalität hinaus regelrecht zu hassen, Löwen und Hyänen führen in einigen Regionen nahezu Krieg. Junge Elefantenbullen „mobben“ zuweilen Nashörner, weil sie es können. Katzen müssen keineswegs Hunger verspüren um Mäuse zu jagen und mit ihnen ein für die Maus grausames und tödliches Spiel zu spielen und Affen sind untereinander keinesfalls zimperlich. Schimpansen führen mitunter regelrechte Mordfeldzüge gegen andere Affen.

Tiere kooperieren über Artgrenzen hinweg

Doch es kann auch anders laufen. In harten Winterzeiten kooperieren Fresskonkurrenten teilweise über die Artgrenzen hinaus, wie der große Kynologe Eberhard Trumler in „Meine wilden Freunde“ berichtete. Wie auch Haustierbesitzer wissen, sind Tiere durchaus in der Lage „Fremdsprachen“ zu erlernen, also das Verhalten von Tieren anderer Arten zu deuten. Das zeigt bereits, dass auch tierisches Verstehen keinem festgelegten genetischer Muster folgt, sondern in Teilen variabel ist. Auch Tiere der eigenen Rasse mit „merkwürdigem“ Verhalten werden verstanden. Ich hatte vor etlichen Jahren das große Glück über Monate auf der von Eberhard und Erika Trumler gegründeten Gesellschaft für Haustierforschung ein Praktikum machen zu dürfen und Wildhunde in Freigehegen zu beobachten. Bei einem Wildhunderudel war ein Tier, bei dem die Ohren so am Kopf saßen, dass der Hund die ganze Zeit „falsche“ Signale über den emotionalen Zustand aussendete. Verstanden wurde es trotzdem und war sogar der Rudelführer.

Und das ist längst nicht alles. Inzwischen hat es sich herumgesprochen, dass einige Tiere tatsächlich ein Bewusstsein von sich selbst haben. Das ist schon was und zwar ordentlich. Zunächst dachte man nur Affen und Delphine besäßen Ichbewusstsein, inzwischen sagt man Elefanten, Kraken, Krähenvögel, Schweine und Hunde besäßen auch ein Vorstellung und ein Bild von sich selbst. Das „dumme Schwein“ ist also in Wahrheit hoch intelligent.

Die Grenze zwischen Mensch und Tier ist fließend, vielleicht manchmal geringer als zwischen Mensch und Mensch. Wir leben in Theorien, eigentlich immer. Alles was wir machen, ist ein Urteil über die Welt zu bilden und zu schauen, ob dieses Urteil, in dem was wir als Realität erleben, funktioniert. Es sollte uns daher nichts ausmachen, dass unsere Annahmen über das Empfindungsvermögen der Tiere bloß Theorie, also Urteil, ist. Das ist die Annahme vom Bewusstsein des anderen Menschen in letzter Konsequenz auch, wie wir sahen. Man muss lediglich schauen, wie plausibel die Theorien sind und man müsste schon zynisch argumentieren, wenn man Tieren ein ausgeprägtes Empfindungsvermögen und Gefühlsleben absprechen will. Oft kommt noch ein hohes Maß an Intelligenz dazu und wir kommen langsam dazu die Folgen zu reflektieren und die Konsequenzen daraus zu ziehen.

Quelle:

[1] Persönliche Mitteilung von Erika Trumler.