Frau mit Handtasche, Kappe und Turnschuhen vor Matrixanimation

Sind wir in der Matrix oder ist die Matrix in uns? © Nicholas Raymond under cc

Die Frage: Wo leben wir eigentlich?, scheint auf den ersten Blick närrisch, weil die Antwort offensichtlich ist. Wagen wir den zweiten Blick.

Die meisten würden, konfrontiert mit der Frage sofort entgegnen: ‚Na hier auf der Erde.‘ Das könnte man im Einzelfall noch präzisieren: Europa, Deutschland, eine bestimmte Stadt oder Schillerstraße 38, Erdgeschoss, linke Wohnung. Immer würden wir eine enger oder weiter abgesteckte physische Adresse meinen. So ist die Frage nach dem ‚Wo‘ ja in der Regel auch gemeint. Aber eben nicht nur. Zumindest nicht in diesem Beitrag.

Leben wir alle in der gleichen Welt?

Aus der Hüfte geschossen würde man auch hier sagen: Klar. Man kann natürlich so tun, als sei es nicht so, aber dann kommt man über kurz oder lang in Konflikt mit der Realität.

Auf eine Art ist das überzeugend. Ich kann mir zwar einbilden aus eigener Kraft fliegen zu können, die Umsetzung könnte jedoch schmerzhaft enden. Also eigentlich alles ganz einfach, könnte man denken und so denken wir häufig auch. Es gibt eine wahre und realistische Welt da draußen, in der wir alle zusammen leben und es gibt mehr oder weniger zutreffende Ideen oder Phantasien über diese Welt da draußen, in mir, innen. Oft noch mit dem Zusatz versehen: Decken sich meine Vorstellungen mit der Realität, komme ich gut mit der Welt zurecht, wenn nicht, habe ich Probleme.

Allein, so einfach ist es nicht. Denn unsere Innenwelt ist nicht einfach eine Aneinanderreihung äußerer Fakten, die zu einem Gesamtbild addiert werden, wie wir alle in den letzten Monaten und Jahren erleben durften oder mussten. Es klingt so einfach, die komplizierte Welt in Richtung ihrer faktischen Grundbausteine aufzulösen und zu denken, dass dann alles ganz klar wird. Es klingt einfach und ist leider viel zu vereinfachend.

Die Psychologie und insbesondere die Tiefenpsychologie zeigt uns, dass es eine Fülle stark von einander abweichender Innenwelten gibt, in der man wahrnimmt und die Wahrnehmungen bewusst und unbewusst ordnet. Aber es reicht auch der Blick in den Alltag. Sind die Meinungen über den Krieg, über Corona oder andere Themen ganz leicht entlang der Fakten aufzulösen? Es gibt ein Überangebot an Fakten, die je nach dem was man annimmt, so oder anders hierarchisiert und zusammengesetzt werden, so dass zwar für nahezu jeden eine konsistente Erzählung – oft genug garniert mit Fakten und passenden Experten – vorhanden ist, aber dass davon am Ende nur eine richtige Meinung übrig bleibt, kann man nun wirklich nicht sagen. Geplatzte Freundschaften und zerstrittene Familien künden davon, dass viele ihre ganz eigene Sicht haben und sie alle bestehen darauf die besseren Fakten und unbestechlicheren Experten auf ihrer Seite zu haben.

Wie entsteht eigentlich die Innenwelt?

Hier soll es nicht um Wahrnehmungspsychologie gehen, also nicht um die äußere Beschreibung unserer Sinnessysteme, sondern um einen Blick in die Entstehung der inneren Welt und ihres Erlebens. Also mehr eine Übung in Empathie, als im Verstehen des Aufbaus von Sinneszellen. Aber auch diesen inneren Blick nachzuvollziehen, ist nicht einfach, da kontraintuitiv.

Oft wird diese Innenwelt zu zerteilt dargestellt, etwa so: Erst lernt man seinen Körper kennen, als Baby, dann seine Gefühle/Affekte/Emotionen und schließlich kommen irgendwann die Gedanken/Kognitionen und die Sprache dazu und man kann ausdrücken, was man fühlt. Aber das Erleben der Körpergrenzen ist natürlich auch schon ein kognitiver Prozess und mit Emotionen verbunden, es ist alles zusammen da, es gibt eher bestimmte Schwerpunkte in denen sich einige Bereiche intensiver ausbilden. Die folgenden Lern- und Entwicklungsprozesse bauen auf den Ergebnissen dieser Innenwelt auf.

Wichtiger ist aber zu verstehen, dass wir in gewisser Weise von Beginn an eine Art von ad hoc Theorien über die Welt entwerfen. Die Lernstrategien ändern sich mit der Zeit. Am Daumen zu nuckeln und an der Decke fühlt sich anders an, aber es ist nicht immer nur ein Versuch und Irrtum Vorgang in diesem einfachen Sinne. Freud war einer Pioniere, die versuchten die Innenwelt von Kindern nachzuzeichnen. Aus ihrer Sicht.

Das heißt, Fakten – diese oder jene, mehr oder weniger lange bleibende Daten – sind von Beginn an in verschiedene Weltentwürfe oder Weltbilder eingebunden, zu denen immer auch Selbstbilder und Bilder wichtiger anderer Menschen gehören. Die Welt des Babys ist nicht sein Bett oder Zimmer, sondern immer auch die Mutter. Es kann sich noch gar nicht selbst denken, ohne eine symbiotische Einheit mit der Mutter und erst später wird es dazu in der Lage sein, differenziere Selbstkonzepte und Konzepte von wichtigen anderen zu entwickeln und schrittweise die normativen Regeln zu verstehen, nach denen die Welt funktioniert.

Das Kind sieht, dass die Eltern mit dem Geschwister und mit dem Hund sprechen, aber nicht mit dem Kühlschrank oder der Heizung. Kinder machen in diesen Zeiten in der Errichtung verschiedener Innenwelten viele und gewaltige Schritte. Sie lösen sich schrittweise von der Bindung zur Mutter, mithilfe von Übergangsobjekten und -bezeihungen. Für viele von uns liegen diese Schritte in der Vergangenheit und wir erinnern uns nicht einmal, diesen Weg jemals gegangen zu sein. Über jeden dieser Schritte gibt es etliche dicke Bücher, insofern soll dieser Punkt hier nur erwähnt werden.

Was ist eigentlich innerhalb der Innenwelt?

Wir sind Geworfene. Heißt, wir finden uns an irgendeinem Punkt des Lebens in der Welt vor und versuchen diese ab da bewusst zu erfassen. In aller Regel geschieht dies zunächst implizit und intuitiv. Ein gutes Beispiel ist die Sprache, die wir lernen. Wir lernen zur Sprache die Grammatik implizit dazu, das heißt, dass viele Menschen in der Lage sind korrektes Deutsch zu sprechen, aber erklären, welchen Regeln sie da folgen, können sie nicht.

Aber es sind nicht nur die Regeln der Sprache, die man einfach so lernt, sondern eben auch, dass man mit Menschen und Tieren reden kann (wenn auch verschieden), mit toten Gegenständen nicht (wenngleich wir zuweilen auch unseren Computer, das Auto oder sonst etwas beschimpfen). Wir lernen, was normal und nicht normal in unserer Familie oder Gesellschaft ist. Dass bestimmte Tabuthemen nicht erwähnt werden dürfen, vor wem man Angst hat, wen man verachtet, was Glück bedeutet, wie man sich in einer Warteschlange verhält und jede Menge mehr. Irgendwann stoßen wir die Tür zur Reflexivität auf und fragen uns, warum wir das eigentlich glauben und denken und ob es nicht auch alles ganz anders sein könnte.

Mit einem zu pauschalen Skeptizismus kann man aber nicht alles zerschlagen:

„Der Skeptiker – als Repräsentant philosophischer Aufklärung – kann mit scheinbar guten/oder wirklich guten Gründen jede Form der faktischen Sittlichkeit in Frage stellen und mit großem existentiellen Risiko auch verleugnen; aber, wenn es ihm gelingt, zu Ende zu denken (den „Skeptizismus zu vollbringen“ bzw. – frei nach Kohlberg – die Krisenstufe 4 ½ der „sophistischen“ Aufklärung hinter sich zu bringen), so kann er einsehen, dass er das Prinzip der Moralität im Sinne der Diskursethik nicht rational (d.h. nicht ohne einen performativen Selbstwiderspruch zu begehen) verleugnen kann. Dann hat er jenen Vernunftsmaßstab der Moralität gewonnen, den Habermas selbst in seiner Auseinandersetzung mit Bubner (1984) so überzeugend gegen die substanzialistische Versuchung verteidigt hat.“[1]

Es ist nicht so, dass da draußen eine Außenwelt ist, die wir alle teilen und in uns eine private Innenwelt, die bei allen vollkommen verschieden ist.

Psychologie und Philosophie

Kommen wir nun zu einer äußerst bedeutenden Stelle, die kontraintuitiv ist, also anders als man es gemeinhin meint. Gewöhnlich stellt man sich die vorsprachliche Psyche so vor, dass sie mehr oder weniger dasselbe erlebt, wie die Psyche, die eine Sprache erlernt hat, mit dem Unterschied, dass die sprachbegabte Psyche nun ausdrücken kann, was sie will, während die andere zwar dieselben Wünsche und Empfindungen hat, darüber aber nicht sprechen kann.

Der Philosoph (der keiner sein wollte) Ludwig Wittgenstein erklärte der Welt, dass es anders ist. Sprache erklärt einem nicht nur die Außenwelt, sondern – das ist der kontraintuitive Teil – vor allem auch die Innenwelt, die Welt der eigenen Gefühle und Empfindungen. Wir meinen, dazu hätten wir doch schon Zugang, da wir auch traurig oder wütend sein können ohne Gebrauchsanweisung. Babys können von Anfang an ihre verschiedenen Stimmungen ausdrücken und wir gehen stark davon aus, dass sie dabei auch etwas empfinden, lange bevor sie auch nur ein Wort nach brabbeln können.

Das stimmt, doch genau darum ist dieser Punkt so schwierig, weil man seine Bedeutung übersieht. Es kommt eigentlich nur die begriffliche Zuschreibung oder Deutung hinzu. Das Kind hat verschiedene Stimmungen und durchlebt diese sehr sicher auch innerlich, ist damit aber zugleich ein Spielball der Affekte. Sie stoßen dem Kind zu, auch wenn es sie lebt und sich ausdrückt, sind sie doch etwas, was kommt und geht, wie die Gezeiten am Meer oder die Atmung, zu der man zunächst auch keinen willentlichen Zugang hat. Atmung, Verdauung und Affekte werden gewissermaßen mit Hilfe des Kindes ausgedrückt, ohne dass dieses sie groß regulieren kann. Das ändert sich später, wie wir wissen.

Die Psychologie weiß heute, dass die Deutung der Mutter und die emotionale Färbung dieser Deutung, für das Kind eine kaum zu überschätzende Rolle spielt. Wenn Mutter dem Kind erklärt, dass es Angst hat, traurig ist oder ihm sagt, dass es heute aber glücklich aussieht bekommt es seine eigene Innenwelt gedeutet und sprachlichen Zugang dazu. Wenn die Mutter zeigt und sagt, dass sie diese Gefühle kennt und sie von ihnen nicht beunruhigt ist, lernt das Kind, seine Stimmung der Trauer und seinen Tränen Begriffe zuzuordnen. Es kann später beim anderen zu erkennen, dass er traurig sein könnte, wenn er weint und vor allem lernt es eine gewisse Distanz zu sich, zur eigenen Innenwelt aufzubauen, man erlebt diese nicht mehr nur, man ist zugleich auch ihr Beobachter.

Man erschließt sich also, das war Wittgensteins Botschaft, die so ursprünglich und privat erscheinende eigene Innenwelt mit der Hilfe der öffentlichen Sprache und die Stimmung der Mutter bei der Deutung gibt dem Kind eine zusätzliche Botschaft, im guten Fall die, dass sie die Gefühle kennt und es schon in Ordnung ist, sie zu haben. „Du hast Angst“, kann sie mit ruhiger Stimme sagen, das Kind kurz in den Arm nehmen und ihm erklären, dass und warum es keine Angst zu haben braucht. Wenn Mutter dann in veränderter ernster Tonlage auf die wenige Dinge hinweist, vor denen das Kind Angst haben sollte, wird das Kind den Kontrast viel eher wahrnehmen, wenn Mutter sonst eher entspannt ist. Das sagt die Psychologie.