Narzissmus und Alkohol gehen nicht selten miteinander einher. Die Tendenz zu einem impulsgeleiteten Handeln, das Ausblenden realer Umstände zur Erhöhung des eigenen Selbst und die Suche nach dem nächsten Kick, weil den Betreffenden schnell langweilig wird, kann einen gesteigerten Alkoholkonsum mit sich bringen. Dieser kann zu einem missbräuchlichen Umgang und gegebenenfalls zur Sucht führen.

Narzissmus und Alkohol: Mögliche Zusammenhänge

Bei einer narzisstischen Charakterstruktur finden sich viele Anknüpfungspunkte, die in Suchtverhalten münden können. Ebenso wie die narzisstischen Verhaltensweisen als Teil einer in die Persönlichkeit übergegangenen Bewältigungsstrategie zur Abwehr potenzieller Selbstwertschädigungen betrachtet werden können, dient auch ein missbräuchlicher Umgang mit Alkohol als Flucht vor unangenehmen Gefühlen.

Mit dem Versuch, den labilen Selbstwert stabil zu halten, werden mögliche Selbstwertbedrohungen ausgeblendet und abgewehrt. Ein solches Vorgehen trifft nicht ausschließlich auf Personen mit narzisstischen Persönlichkeitstendenzen zu. Allgemein können viele Personen, die emotionale Hürden zu bewältigen haben, stärker zur Sucht tendieren. Aber es trifft eben auch auf Personen mit narzisstischen Persönlichkeitstendenzen zu.

Wie die Psychologen Emanuel Jauk und Raoul Dieterich (heute: Wüllhorst) in einem Forschungsreview aus dem Jahr 2019 aufzeigen, ist neben Psychopathie auch Narzissmus mit Suchtverhaltensweisen assoziiert, sowohl in klinischen als auch nicht-klinischen Gruppen.

Auf welche Aspekte könnte der Zusammenhang zwischen Narzissmus und Alkoholsucht beziehungsweise anderen Süchten zurückzuführen sein?

Narzisstische Scham: Kompensation durch Sucht

Eine Männerhand greift nach einem Glas auf dem Tresen

Die Grenzen zwischen häufigerem Trinken von Alkohol und einem Substanzmissbrauch sind fließend. © Chandler Collins under cc

Hinter einem Suchtverhalten steht im Grunde eine Kompensation. Es wird versucht, eine Aufhebung von einem bestimmten inneren Zustand vorzunehmen beziehungsweise ihm entgegenzuwirken und ihn abzumildern. Zweitrangig ist dabei, ob es sich um eine substanzbezogene Sucht oder eine substanzunabhängige Sucht handelt. Es gibt Hinweise darauf, dass narzisstische Personen auch eine Tendenz zur Pornosucht aufweisen können. Spielsucht oder Kaufsucht sind weitere Beispiele. Bei allen Süchten geht es immer darum, etwas zu kompensieren. Das können, wie bereits angedeutet, unangenehme Gefühle oder Anspannungen sein. Es kann eine innere Leere oder ein Schamgefühl sein, welches man ausblenden möchte.

So zeigt die Studie des Forschungsteams um Dr. Kathrin Ritter von der Charité Universitätsmedizin Berlin, dass Narzissmus mit einem labilen und schambehafteten Selbst einherzugehen scheint. Personen mit einer klinisch diagnostizierten Narzisstischen Persönlichkeitsstörung besaßen im Vergleich zu psychisch unauffälligen Personen eine stärkere Schamneigung. Werden narzisstische Personen mit einer schambehafteten Situation konfrontiert, scheinen viele sich im Ganzen als Person abgewertet zu fühlen. Alkohol kann dazu dienen, das Schamgefühl sowie auch andere negative Gefühle „wegzumachen“.

Alkohol als Suchtmittel zur Selbstregulation

Narzisstische Menschen haben Schwierigkeiten, mit emotionalen Herausforderungen umzugehen und ihre Gefühle sowie ihr Verhalten zu regulieren. Ihr Verhalten ist oftmals von einer gewissen Impulsivität gezeichnet. Alkohol und andere Suchtmittel dienen zur Regulierung, zum „Runterkommen“.

Durch die Flucht in den Alkohol wird allerdings nicht gelernt, dass man Stress und unangenehme Gefühle aushalten und adäquat regulieren kann. Stattdessen existiert die allgemeine – oft auch gesellschaftlich suggerierte – Verknüpfung, bei emotional überfordernden Situationen zum Alkohol zu greifen. Dies geschieht, anstatt die Gefühle zu fühlen, sich mit ihnen auseinanderzusetzen, sie vorbeiziehen zu lassen und ihnen eine angemessene, nicht impulsgeleitete Handlung folgen zu lassen. Narzisstische Menschen haben sowieso schon Probleme damit, ihren Impulsen und Motiven angemessen zu begegnen. Und Alkohol dient in dem Fall als Vehicle, sich nicht mit einer adäquaten emotionalen Selbstregulation auseinandersetzen zu müssen.

Sensation Seeking: Narzisstische Suche nach Kicks

Frau trinkt einen Shot

Menschen trinken aus verschiedenen Gründen Alkohol, nicht wenige zur Kompensation von unguten Gefühlen. © Slava under cc

Auch der innewohnende Drang nach Aufmerksamkeit und die Suche nach dem nächsten Kick können mit einem stärkeren Suchtverhalten in Zusammenhang stehen. Auf Partys geht es „immer höher, besser, weiter“. Es gibt keine Grenzen, nur Steigerungen, denn die Risikobereitschaft bei vielen narzisstischen Personen ist eine höhere. Mögliche Konsequenzen werden nicht bedacht.

Wird der Drang nach Aufmerksamkeit auf der anderen Seite nicht erfüllt und bietet das Leben gerade wenige emotionale Inputs, kommt es zu einem Nichtigkeitserleben, was wiederum mit Alkohol oder einem anderen substanzgebundenen oder ungebundenen Suchtmittel kompensiert wird.

Narzisstische Überlegenheitsgefühle und Alkohol

Viele Suchterkrankte behaupten von sich, alles unter Kontrolle zu haben und jederzeit aufhören zu können. Narzisstische Menschen könnten diesem Irrglauben umso mehr anheimfallen. Schließlich tragen sie eine große Überlegenheit in sich. Sie glauben, alles unter Kontrolle zu haben. Sie fühlen sich so, als könnte ihnen nichts und niemand etwas anhaben.

Mangelnde Verantwortungsübernahme

Personen, die eine narzisstische Charakterstruktur aufweisen, übernehmen in der Regel nur so viel Verantwortung wie nötig. Forderungen von anderen Personen, beispielsweise Menschen, mit denen sie in einer Partnerschaft leben, empfinden sie schnell als störend, eingrenzend und lästig. Die Flucht in den Alkohol kann dadurch auch zu einer Gewohnheit werden, der Verantwortung zu entkommen.

Sucht begrenzt das Leben

Narzisstische Menschen haben Schwierigkeiten, mit unvorhersehbaren Situationen umzugehen – ein Stück weit wie jeder andere Mensch auch. Doch Personen mit dieser Charakterstruktur versuchen stets, die Fäden in der Hand zu behalten, indem sie beispielsweise andere Menschen manipulieren, sich zusätzliche Optionen offenhalten, lügen, Druck ausüben etc. Das alles tun sie, um die Kontrolle zu behalten.

Alkohol oder beispielsweise das übermäßige Anschauen von Pornos lässt die Unkontrollierbarkeit des Lebens auf einen kleinen überschaubaren Raum schrumpfen. Anhand der Pornosucht wird es besonders deutlich. Die Konfrontation mit dem realen Leben bleibt aus und es werden sich immer stärkere sexuelle Kicks geholt, ohne dabei selbst in eine potenzielle Situation zu geraten, die Erwartungsdruck oder ein Gefühl von Ablehnung mit sich bringen könnte. In einer begrenzten Situation mit sich selbst bleibt gefühlt das Gefühl von Kontrolle erhalten (was nichts darüber aussagt, inwieweit es tatsächlich so ist).

Auch Alkohol steht im Gegensatz zu weitläufigen, potenziell unüberschaubaren Situationen. Es begrenzt das Chaos im Alltag auf eine Flasche Bier.

Auch deshalb bergen die charakterlichen Besonderheiten bei Narzissmus eine Tendenz zur Sucht in sich.

Narzissmus: Kein Zugang zu sich

Ein alkoholischer Drink in einem Glas mit Eiswürfeln in der Draufsicht

Narzissmus und Alkohol sind eine häufig vorkommende Kombination. © Kjersti Magnussen under cc

Der psychologische Ansatz der doppelten Selbstwertregulation fußt darauf, dass Narzissmus einerseits mit einem grandiosen, sich überhebenden Selbstanteil, andererseits aber auch mit einem besonders verletzlichen Selbstanteil einhergeht. Anstatt ungute Gefühle und potenzielle Selbstwertschädigungen emotional für sich zu verarbeiten, wird ihnen mit der Abwertung anderer Menschen und dem Negieren von Situationen begegnet. Ein Stück weit findet sich dieser Selbstwertschutz in jedem Menschen. Doch die Tendenz dazu ist bei narzisstischen Personen noch einmal stärker.

Beispiel: Viele narzisstische Menschen haben Angst vor Nähe, weil diese potenzielle seelische Verletzungen wie Kritik und Ablehnung mit sich bringen kann. Also halten sie andere Menschen lieber auf Abstand und öffnen sich ihnen gegenüber nicht. Das Bedürfnis nach Nähe wird negiert, ausgeblendet oder eingegrenzt. Die empfundene Einsamkeit wird beispielsweise mit Alkohol übertüncht.

Durch die „Fehlregulation“ werden also die wahren Bedürfnisse nach Zugehörigkeit und Nähe ausgeblendet. Sie sind für die Betreffenden nicht deutlich fühlbar und bleiben vor ihnen selbst unsichtbar. Im Grunde genommen fehlt ihnen sozusagen der Draht nach innen. Er ist überdeckt durch die „Überlebensmechanismen“ und offensiven Verteidigungsmaßnahmen zum Schutz des Selbstwertes. Bleiben die wahren Bedürfnisse unerfüllt, kann es also ebenfalls zu einer Flucht in den Alkohol oder einer anderen Sucht führen.

Narzissmus und Sucht: Alkohol als Ausweg?

Die zuvor genannten Punkte machen deutlich, dass eine narzisstische Charakterstruktur und Suchtverhaltensweisen in vielerlei Hinsicht miteinander einhergehen können. Wie eingangs bereits erwähnt, treffen all diese Punkte in gewisser Weise auch auf jeden Menschen zu. Doch auch hier gibt es, wie so oft in der Psychologie, ein Kontinuum. Manche betrifft es stärker, andere nur marginal. Manche bemerken es und halten dagegen. Andere blenden es aus und laufen Gefahr, sich darin zu verlieren. Da mangelnde Selbstreflexion und keine Schuldeinsicht insbesondere für einen narzisstischen Charakter stehen, sind Narzissmus und Alkohol zwei Strategien zum Schutz des Selbstwertes, die in beiden Fällen sich zunehmend gegen die Betreffenden selbst richten können.