Auf den ersten Blick passt das Erleben der eigenen Grandiosität mit der größtmöglichen Selbstgefährdung nicht zusammen. Dennoch zeigen die klinischen Statistiken, dass nicht selten Patienten mit einer Narzisstischen Persönlichkeitsstörung aufgenommen werden, die sich einer suizidalen Krise gegenübersehen. Wie ist der Zusammenhang zwischen Narzissmus und Suizidalität zu erklären? Warum sind manche Narzissten suizidgefährdet?
Sind Narzissten nicht eigentlich glücklicher?
Menschen, die moderate narzisstische Charakterzüge aufweisen, gelten für gewöhnlich als glücklicher und erfolgreicher. Im Allgemeinen wirkt ein gewisses Maß an Selbstbewusstsein seelisch stabilisierend und anziehend auf andere. Viele moderate narzisstische Charaktere scheinen überaus charismatisch zu sein. Sie gelten als gesellige Typen, die aber auch, wenn es darauf ankommt, eine gute Durchsetzungsfähigkeit besitzen. Personen mit einem mäßigen Narzissmus kommen gemeinhin gut durchs Leben.
Wenn das Glück labil ist …
Anders verhält es sich für Menschen, die eine starke narzisstische Charakterausprägung besitzen, die möglicherweise bereits im klinischen Bereich einzuordnen ist und als Narzisstische Persönlichkeitsstörung definiert wird. Diese Menschen weisen einen großen Drang nach Bewunderung und Anerkennung auf. Sie empfinden sich selbst als über die Maßen wichtig, als grandios, und erwarten eine starke Unterordnung ihres Umfeldes. Neid, Arroganz, Fantasien von Attraktivität, Erfolg und Macht genauso wie die Erwartung einer Sonderbehandlung führen bei stark narzisstischen Personen sehr häufig zu Problemen mit den anderen Menschen.
Ein labiler Selbstwert
Personen mit einem auffälligen Narzissmus haben einen labilen Selbstwert, der sehr von ihrem Umfeld und den externen Gegebenheiten abhängig ist. So sensibel sie beispielsweise auf Lob und positiven Zuspruch reagieren, so sehr kann sie eine negative Meinung über ihre Person in den seelischen Abgrund stürzen. Eine Kritik oder Kränkung von anderen kann den Selbstwert von narzisstischen Charakteren gehörig ins Wanken bringen und ihr Autonomieerleben erschüttern.
Bei einem Jobverlust zum Beispiel können sich narzisstische Charaktere in ihrer eigenen Grandiosität verkannt fühlen. Nach ihrer Meinung wurden ihre Kenntnisse und Fähigkeiten sowie ihre sozialen Fertigkeiten im Umgang mit ihren Mitmenschen nicht gesehen. Häufig vermuten sie, dass eine andere Person ihnen Schlechtes wollte und deshalb Steine in den Weg legte. Narzisstische Menschen empfinden sich oft als Opfer der gemeinen Bestrebungen ihrer Mitmenschen beziehungsweise der für sie ungünstigen Umstände.
Bei einer partnerschaftlichen Trennung fühlen sie sich zurückgesetzt und ungerecht behandelt. Die mangelnde Einsicht sowie die kaum bis gar nicht vorhandene Selbstreflexion erschweren einen sachlichen Blick auf die kritischen Lebensereignisse. Stattdessen ist das emotionale Erleben eines Narzissten vollständig in Alarmbereitschaft.
Von den Emotionen übermannt
Mögliche Konsequenzen als Reaktion auf die kritischen Lebensereignisse oder die negativen sozialen Interaktionen sind sehr häufig seitens des Narzissten emotionale Ausbrüche, die mit Wut, Aggression, verbalen Beleidigungen und körperlichen Angriffen einhergehen können. Außerdem kann die starke seelische Verzweiflung zu beispielsweise missbräuchlichem Alkoholkonsum oder allgemein Drogenkonsum führen, um den Schmerz sozusagen auszublenden beziehungsweise zu betäuben. Ist ein narzisstischer Charakter derart emotional außer sich, spricht man in diesem Zusammenhang oft von einer narzisstischen Krise.
Erhöhter Alkoholkonsum bei Narzissten?
In wissenschaftlichen Studien findet sich ein Zusammenhang zwischen einem starken Alkoholmissbrauch beziehungsweise Abhängigkeit und dem Auftreten von Persönlichkeitsstörungen, darunter auch der Narzisstischen Persönlichkeitsstörung.
Obwohl nicht wenige Narzissten bei Befragungen angeben, ein höheres Wohlbefinden, weniger Einsamkeit und einen höheren Selbstwert zu besitzen sowie geringere Angst- oder Depressionswerte zu haben, wurden bei Männern mit einem narzisstischen Charakter höhere Cortisolwerte im Speichel gemessen. Cortisol gilt als ein Stresshormon, das als objektives Maß für Stress und Anspannung herangezogen werden kann. Möglicherweise versuchen narzisstische Charaktere der emotionalen Anspannung im Inneren Herr zu werden, indem sie zu Suchtmitteln wie Kokain, Alkohol etc. greifen. Der Psychiater Reinhard Haller, Chefarzt an der Suchtklinik Maria Ebene, berichtet in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeine davon, dass Narzissten häufiger zu Rauschmitteln greifen, um sich noch besser zu fühlen. Sie möchten das Gefühl haben, mit der Welt in Einklang zu sein. Eventuell scheinen sie sich zudem mit den Drogen gegen Kritik und Kränkung abschirmen zu wollen.
Narzissmus und Suizidalität: Mögliche Zusammenhänge
Die klinischen Zahlen zeigen, dass Patienten mit einer Persönlichkeitsstörung in ähnlicher Häufigkeit suzidgefährdet sind wie an Depression Erkrankte. Emotionale Instabilität und Impulsivität gelten als Risikofaktoren für Suizidalität, wie der Schweizer Psychiater Gerhard Dammann und die Psychologin Benigna Gerisch in ihrer Arbeit Narzisstische Persönlichkeitsstörungen und Suizidalität: Behandlungsschwierigkeiten aus psychodynamischer Perspektive schreiben:
… weiterhin war die Häufigkeit psychopathologischer Kriterien im DSM-IV-Klassifikationssystem für die histrionische, die antisoziale, die Borderline- und die narzisstische Persönlichkeitsstörung generell mit der Häufigkeit und Schwere der Suizidversuche assoziiert [15]. Während in den letzten Jahren mehrere Arbeiten zur Entstehung und Behandlung der chronischen Suizidalität bei Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung erschienen sind [16-19], gibt es kaum entsprechende Literatur zur narzisstischen Persönlichkeitsstörung.
Risiko für Depression erhöht
Tatsächlich tragen Menschen mit einer Narzisstischen Persönlichkeitsstörung ein höheres Risiko zur Entwicklung einer Depression in sich. Nicht wenige Betroffene, die sich in eine psychiatrische Behandlung begeben, leiden unter Suizidgedanken. So kann beispielsweise die Beendigung einer Partnerschaft oder die Kündigung des Jobs einen Narzissten in eine schwere narzisstische Krise stürzen und ihn suizidgefährdet werden lassen. Die Angst vor Kontrollverlust, Leere und Nichtigkeitserleben sowie Schamgefühle können dann auf sie einstürzen und eine Bedrohung für ihre Person darstellen. Hier ist ein einfühlsamer und erprobter Therapeut gefragt, welcher an die verletzliche Seite eines narzisstischen Menschen herankommen muss, wie der Psychiater Claas-Hinrich Lammers erklärt.
Grandiosität kann in Wuterleben umschwenken
Dammann und Gerisch (2005) schreiben:
Die Grandiosität kann dabei die Form einer durch Ansprüchlichkeit geformten, chronifiziert wütenden Grundstimmung annehmen, die sich dann als Ärger, Zorn oder rachsüchtiges Ressentiment anderen Menschen gegenüber zeigen kann. … Lässt sich die Grandiosität nicht mehr aufrechterhalten, treten massive Minderwertigkeitsideen an ihre Stelle, die selbst wieder übertriebene «negative Grössenphantasien» darstellen [26] und dann ebenfalls auch zur Quelle für einen Suizid werden können. Zentrale Affekte sind dabei auch hier die Wut als Ausdruck der erhöhten Kränkbarkeit und vor allem der (zumeist auch unbewusst ausgeprägte) Neid auf andere.
Bei einer Narzisstischen Persönlichkeitsstörung scheint die Suizidalität unter anderem zur Wiederherstellung der Selbstwert-Balance zu dienen.
Erlebte Kränkung bei suizidgefährdeten Narzissten
Heinz Henseler, Professor für Psychoanalyse an der Universität Tübingen, charakterisiert in seinem Buch Narzisstische Krisen: Zur Psychodynamik des Selbstmords den suizidalen Patienten als eine zutiefst verunsicherte Persönlichkeit, welche befürchtet in einen Zustand von totalem Kontrollverlust, Einsamkeit, Verlassenheitserleben und Hilflosigkeit zu geraten, einem Zustand, dem die betroffene Person ohnmächtig gegenübersteht. Ferner jemand, der hinsichtlich seines Selbstwerterlebens zutiefst gekränkt und negativ beeinflusst ist. Zur Aufrechterhaltung des labilen Gleichgewichts benötigen diese stark verletzlichen Personen, gemäß Henseler, Andere in ihrem Umfeld, die unbedingt und zuverlässig stabilisierend wirken sollen. Sobald jedoch die anderen Personen in der Umgebung, etwa durch Kränkungen oder Enttäuschungen, dem destabilisierten Menschen diesen Zuspruch versagen, kann es zu einer narzisstischen Krise kommen, welche intern abgewehrt werden muss. Gelingt dem Betroffenen diese Abwehr nicht, »erfolgt eine Regression auf den sogenannten Primärzustand mit den Phantasien von Ruhe, Wärme und Geborgenheit …«
Auf der Suche nach Geborgenheit
Des weiteren, schreibt Henseler, verzichtet der Suizidgefährdete zwar mit dem Freitod auf seine lebendige Individualität, scheint aber der Vorstellung zu erliegen, an Sicherheit, Geborgenheit und Seligkeit zu gewinnen.
Indem die narzisstisch gestörte Persönlichkeit diese latente Phantasie in Handlung umsetzt (Suizid, Suizidversuch, offene Suiziddrohung), kommt sie paradoxerweise der intrapsychischen, drohenden narzisstischen Katastrophe aktiv zuvor und stabilisiert so, ein letztes Mal, die labile narzisstische Ökonomie.
Dammann & Gerisch (2005)
Erfahrene, einfühlsame Therapeuten zur Stabilisierung
Auch starke Aggressionen, Vergeltung, Rache, omnipotente Kontrolle, destruktiver Hass gegen andere und sich selbst können mögliche narzisstisch motivierte Gründe für einen Selbstmord sein. Nach Maltsberger (2004) können Ich-Zerfall, Scheitern der Affektregulierung, narzisstische Kapitulation, Zusammenbruch der Repräsentanzenwelt und Verlust der Realitätsprüfung zum suizidalen Ich-Zusammenbruch führen.
Eine suizidale Krise ist immer eine Phase, welche mit hoher psychischer und emotionaler Verletzlichkeit des Betroffenen einhergeht. Stabilität, Sicherheit, Akzeptanz und Verständnis sind nur einige Bausteine, die ein Therapeut in der Krisenintervention einem suizidalen Patienten angedeihen lassen muss. Es bedarf erfahrener, innerlich gut abgegrenzter Therapeuten, um mit suizidgefährdeten narzisstisch motivierten Personen therapeutisch umgehen zu können. Welchen weiteren Ansatzpunkten man in einer therapeutischen (Krisen-)Intervention bei Narzisstischen Persönlichkeitsstörungen nachgeht, darüber berichten wir an dieser Stelle: Psychologischer Umgang mit narzisstischen Krisen – Narzisstische Krisen (2).
Probleme und Krisen können jeden treffen. Solche außergewöhnlichen Zustände können einen an den Rand der eigenen Belastbarkeit bringen. Wenn du dich in einer krisenähnlichen Situation befindest und vielleicht sogar über Selbstmord nachdenkst, hol dir Hilfe, zum Beispiel in einer Akutsituation bei der Telefonseelsorge. Auch in den Notaufnahmen der Kliniken stehen dir erfahrene Ärzte und Therapeuten zur Seite. Von Herzen alles Gute!