Überfordert zu sein, ist in der heutigen Zeit keine Seltenheit. Die täglichen Anforderungen belasten, logistische Herausforderungen beim Familienmanagement und Reizüberflutung in einer schnelllebigen Welt kommen hinzu. Nicht wenige sehnen sich nach mehr Ruhe in der Natur. Jeder Mensch reagiert anders auf die kleineren und größeren To-dos, die uns täglich um die Ohren schwirren. Jeder Mensch hat unterschiedlich viel zu tun. Aber jeder Mensch hat auch ein anderes Stresserleben.

Ständig überfordert: Glaubenssätze und Prägungen

Möglicherweise hast du dich auch schon einmal gefragt, warum andere Menschen nichts aus der Ruhe zu bringen scheint. Sie sind offenbar cool mit allem und bewältigen die täglichen Herausforderungen mit Leichtigkeit.
Vielleicht gehörst auch du dagegen zu den Personen, die weniger gefestigt und locker reagieren, sobald sich etwas im Leben oder Alltag ändert oder ungewiss ist. Die versuchen, nahezu alles unter Kontrolle zu haben, alles zu bewerkstelligen, damit nichts Unvorhergesehenes passiert, und die auf alles vorbereitet sein wollen. Die alles perfekt machen wollen. Weil sie ständig das Gefühl haben, nicht zu genügen und mehr machen zu müssen. Bei denen negatives Feedback den Selbstwert ins Wanken bringt und die sich deshalb vor Fehlern und negativer Rückmeldung fürchten. Die sich oft emotional aufgewühlt fühlen. Die einen Ballen aus Angst, Panik und Katastrophengedanken mit sich herumschleppen, der mal leichter und mal schwerer wiegt, aber eigentlich immer irgendwie da ist. Änderungen im gewohnten Trott werfen dich schneller aus der Bahn. Eventuell schaffst du es noch, äußerlich cool zu bleiben, aber innerlich tobt in dir ein Sturm. Woran könnte das liegen?

Überfordert fühlen: Mehr als nur ein Gefühl

Frau liegt auf Ledersofa

Wer sich häufig und schnell überfordert fühlt, der könnte sich aufgrund ungünstiger Prägungen und Erfahrungen in einem Zustand emotionaler Übererregung befinden. © Sodanie Chea under cc

Verschiedene Studien, exemplarisch von Brown et al. (2018) und Tietjen et al. (2015), zeigen, dass Personen, die in der Kindheit vernachlässigt, misshandelt oder gemobbt wurden, im späteren Leben offenbar häufiger mit einem erhöhten Risiko für chronische Schmerzzustände wie zum Beispiel Rücken- und Kopfschmerzen zu kämpfen haben. Darüber hinaus zeigte sich ein linearer Zusammenhang zwischen Angst, Depressionen und Kopfschmerzen.

Nicht integrierbare negative Erfahrungen überfordern

Aus der klinischen Forschung weiß man, dass sich traumatische Erfahrungen beziehungsweise vergangene emotional einschneidende negative Erlebnisse, welche die Betroffenen emotional überfordern, sie tief verzweifelt und ohne Ausweg fühlen lassen, sodass sie nicht angemessen verarbeitet und integriert werden konnten, zu einem dysregulierten autonomen Nervensystem führen können. Gerade wenn die negativen Erfahrungen über einen längeren Zeitraum geschehen, wie zum Beispiel bei einer problematischen Kindheit, können sie später zu einem Zustand starken Arousals führen. Die Betroffenen befinden sich dann häufiger in einem Zustand erhöhter Wachsamkeit, zum Beispiel weil sie früher als Kinder häufiger Bedrohungslagen ausgesetzt waren durch aufbrausende, schreiende und/oder gewalttätige Eltern oder durch verdeckte Angriffe auf ihren Selbstwert, indem man ihnen ständig suggerierte, nicht gut genug zu sein, alles falsch zu machen und ihnen negative Konsequenzen oder mangelnde Lebensfähigkeit in Aussicht stellte. Körperlicher, sexueller und emotionaler Missbrauch und Vernachlässigung zählen zu diesen Erfahrungen, die emotional überfordern und traumatisieren können. Dadurch sind die Betroffenen heute quasi schneller in Alarmbereitschaft und z. B. überdurchschnittlich schreckhaft.

Kleine Auslöser, starkes Stresserleben

Es genügen kleine Auslöser, die ein starkes Stresserleben mit sich bringen können. Insgesamt dauern die individuellen Stressantworten länger an. Die Dysregulation des autonomen Nervensystems kann also ein Grund dafür sein, warum man sich schneller überfordert fühlt und einen bereits kleinere Kursänderungen aus der Bahn werfen können. Ferner sind viele dann oft auch grundsätzlich und nachhaltig erschöpfter. Wie sollte es auch anders sein? Schließlich schleppen sie einen Angstballen aus der Vergangenheit mit sich herum. Man hat Selbstzweifel, Katastrophengedanken, Ängste, Grübelneigung, Überfordert sein, Panikneigungen und einen veränderten Affekt im Gepäck.

Auswirkungen eines dysregulierten Nervensystems

CT-Aufnahme vom Gehirn

Negative Prägungen, Traumatisierungen sowie eine insgesamt problematische Kindheit können zu einer Dysregulation des autonomen Nervensystems führen. © Jeffrey Hatcher under cc

Zusammengefasst können sich folgende Auswirkungen eines dysregulierten autonomen Nervensystems ergeben. Wichtig: Die aufgeführten Punkte müssen nicht zutreffen, wenn man sich häufig überfordert fühlt. Negative prägende Erfahrungen bis hin zu Traumatisierungen KÖNNEN ein möglicher Grund für ein ständiges Gefühl von Überforderung und unterschwelliger Anspannung sein. Sie müssen es nicht zwingend. Die Liste ist außerdem nicht erschöpfend.
Beispielsweise können mit einer Dysregulation des Nervensystems einhergehen:

  • stärkere emotionale Reaktionen wie zum Beispiel stärkere Wutgefühle, größere Trauer und Verzweiflung
  • andererseits aber auch emotionale Taubheit, depressive Neigungen, ein negativer, missmutiger Blick auf die Welt
  • Dissoziationen: Dazu zählen abgespaltete Erinnerungen und emotionale Eindrücke, Verdrängtes, das sich als „Erinnerungslücke“ zeigt
  • Konzentrationsprobleme und Aufmerksamkeitsdefizit, weil die Gedanken häufiger abdriften
  • allgemein höhere Ängstlichkeit im Leben, eine Lebensangst
  • eine höhere seelische und vermutlich auch körperliche Grundanspannung und Nervosität, Nackenverspannungen etc.
  • verstärktes Grübeln und eine Tendenz zu katastrophisierendem Denken
  • Herzrasen und Panikanfälle etc.

Überforderung: Der emotionale „Überlebensmodus“

Sicherlich hast du schon einmal vom Kampf- oder Fluchtmodus (Fight or Flight) gehört. Genauso wie vom Totstellen beziehungsweise Freeze-Zustand.
Bei Menschen mit einer Übererregung des autonomen Nervensystems könnte es durchaus häufiger zu diesen archaischen Reaktionsmustern kommen. Bewertet man eine Situation als bedrohlich, kommen diese früheren in uns verankerten Überlebensmodi zum Vorschein. Beispielsweise werden wir aggressiv, wenn wir uns bedroht fühlen (Kampf), oder wir laufen schneller, wenn wir uns verfolgt fühlen (Flucht), oder wir fühlen uns wie erstarrt, wenn uns jemand zu nahe kommt. Wir können instinktiv in solche Überlebensautomatismen verfallen, sobald wir uns in einer bedrohlichen Situation befinden, aber auch dann, wenn wir eine Situation aufgrund vergangener traumatischer Erfahrungen nur als solche emotional bewerten, zum Beispiel, weil wir uns getriggert und erinnert fühlen.
Wer in der Kindheit einer chronischen Traumatisierung ausgesetzt war, der wird sich vermutlich auch häufiger und schneller getriggert fühlen von bestimmten Situationen. Sein Nervensystem reagiert öfter in Form der Überlebensmodi. Eine Folge davon kann mehr Erschöpfung sein und dass man sich schneller überfordert fühlt, zum Beispiel bei Leistungssituationen, in Menschenansammlungen, gegenüber Autoritätspersonen etc.

Adaptationsprozesse als Folge dessen

In der Fachwelt geht man heute davon aus, dass die mit den Kindheitstraumata verbundenen neurobiologischen Auffälligkeiten eine Anpassung des Organismus auf die frühere Umwelt sind. Sozusagen könnten frühere Lernerfahrungen in der Familie (bspw. mit Bezugspersonen, die ein impulsives und unvorhersehbares Verhalten an den Tag legten) zu einer höheren Wachsamkeit führen. Zitat:

… nimmt man heute an, dass es sich hierbei um erfahrungsabhängige Adaptationsprozesse an die jeweilige soziale Umwelt handelt (Danese und McEwen 2012; Teicher und Samson 2016). Das stärkere Ansprechen auf Bedrohungs- als auf Belohnungsreize lässt z. B. Gefahren schneller erkennen und stellt in einer potenziell gefährlichen Umwelt eine sinnvolle Reaktion dar. Andererseits fördert die verstärkte Wahrnehmung von Gefahren und negativen Reizen die Entwicklung von Depressionen, Ängstlichkeit und Substanzstörungen (Teicher und Samson 2016).

zitiert nach Brückl, T. M. & Binder, E. B. (2017), Springer Link

Emotionale Übererregung oft unbemerkt

bunter Papierhalbkreis mit Blume vor blauer Mauer

Wie kommt man emotional wieder ins Gleichgewicht? © Rookuzz.. under cc

Viele Betroffene sind sich gar nicht darüber bewusst, dass sie sich in dem Zustand eines erhöhten Arousals bzw. eines dysregulierten Nervensystems befinden. Sie kennen ihre Gefühlslage schlichtweg nicht anders und halten sie für normal. Betroffene, die sich oft überfordert fühlen und die den Ursachen auf den Grund gehen wollen, können im Rahmen einer psychotherapeutischen Intervention den seelischen Ursachen auf den Grund gehen und zu einer neuen und ruhigeren emotionalen Baseline finden. Psychologische Inhalte im Internet zeigen lediglich mögliche allgemeine Zusammenhänge auf. Deshalb stellen die vorgenannten Ausführungen keine Ferndiagnose dar und sie sind auch nicht auf den Einzelfall beziehbar. Solltest du dich also häufiger überfordert fühlen, kannst du eine individuelle psychologische Beratung oder Therapieangebote für dich in Anspruch nehmen.

Allgemeine Tipps zur „Beruhigung des Nervensystems“

Natürlich gilt es zuvorderst, zu schauen, wie viel man im Alltag summa summarum zu tun hat. Wer alltäglich rotiert, der wird für die nachfolgenden Vorschläge möglicherweise nur ein müdes Lächeln übrig haben. Dennoch kann man schauen, ob und an welchen Punkten man sich mehr Erleichterung im Alltag verschaffen könnte. Denn eine beständige Überforderung ist ja auch keine Lösung. Wichtig ist, sich wirklich zu verinnerlichen, dass wir nicht in allem perfekt sein müssen. Menschen, die sich oft überfordert fühlen, haben häufig aus ihrer Kindheit heraus das Gefühl, besonders gut sein zu müssen, um anerkannt zu werden. Aber das müssen wir nicht. Also: Was können wir verändern, was weglassen, was eventuell anders strukturieren, damit wir es uns leichter machen?

Nachfolgend noch ein paar allgemeine Hinweise, die zu einer Beruhigung des Nervensystems beitragen können. Neben der seelischen Aufarbeitung, bei der gemeinsam mit TherapeutInnen die Gegenwart von dem Erlebten aus der Vergangenheit abgegrenzt wird und eine Bewusstwerdung der Unterscheidung zwischen der einstigen kindlichen Hilflosigkeit und emotionalen Abhängigkeit von den Eltern und dem heutigen selbstbestimmten und unabhängigen Erwachsenendasein nebst einem Loslösen von ungünstigen Glaubenssätzen erfolgt, können körperbezogene Ansätze hilfreich sein, um das „Nervensystem zu beruhigen“.

Überfordert: Was für die Ausgeglichenheit tun

Erfahrungen aus der klinischen Praxis zeigen, dass meditative Sportübungen wie zum Beispiel Yoga, aber auch andere Sportarten zu mehr Gelassenheit und einem besseren Wohlgefühl beitragen können. Man fühlt sich selbstbewusster und selbstbestimmter. Gib deinem Körper das Gefühl, dass er in Sicherheit ist. Auch Meditationen sind ein guter Ansatzpunkt für mehr Entspannung im Kopf, und zwar nicht erst, wenn man eine Phase der Angst hat, sondern regelmäßig praktiziert, präventiv sozusagen. Genauso können eine gesunde Ernährung und eine gute soziale Einbettung mit gesunden, nicht destruktiven sozialen Interaktionen zu einem zufriedenen Leben mit weniger emotionalen Aufs und Abs beitragen.

Setzt man bei den Tipps zur Beruhigung des Nervensystems an, wenn man sich häufig mit allem überfordert fühlt, obwohl die Umstände bei objektiver Betrachtung eigentlich zwar herausfordernd, dennoch bewältigbar wären, kann der zukünftige Weg von mehr Leichtigkeit und Gelassenheit gekennzeichnet sein.