In der Rückschau auf ihre Kindheit berichten Erwachsene, wie das Leben mit narzisstischen Eltern war. An welche Besonderheiten und Ereignisse von damals können sie sich noch erinnern? Wie wirkte sich die hohe Selbstzentrierung und mangelnde Zugewandtheit der Eltern auf ihr heutiges Leben aus?

Nachfolgend sprechen wir von Eltern. Genauso gut kann es sich aber auch nur um ein Elternteil handeln, dessen Charakter von hohen Narzissmus-Werten geprägt ist.

Kinder: Statisten im Leben mit narzisstischen Eltern

In einer Kindheit, die von einem Leben mit narzisstischen Eltern gekennzeichnet ist, sind die Kinder eigentlich nur Statisten. So umschreibt es die sechsunddreißigjährige Irina*, wenn sie heute auf ihre Kindheit blickt.

»Ich wusste schon früh, dass ich mitspielen musste«

»Meine Eltern sind beide Künstler und leben ihre eigene Vision. Wir, Kinder, liefen nur so nebenher. Ich wusste schon früh, dass ich mitspielen musste. Ich glaube, ich war in der Grundschule, als ich es zum ersten Mal bewusst mitbekam, was ich zu tun hatte. Meine Mutter rief mich an, sie war im Fernsehen. Das Telefonat wurde live ausgestrahlt. Sie zeigte sich superlieb und fürsorglich am Telefon. Sie sagte immer wieder, dass sie mich lieben würde und bald nach Hause käme. Schon damals war ich emotional abgestumpft, natürlich habe ich es als Kind nicht so empfunden. Rückblickend weiß ich aber, dass es so war. Also sagte ich: ›Ich liebe dich auch, Mami! Wir vermissen dich.‹ Doch kein einziges Wort davon war wahr.«

Ambivalenz: Übertriebene Liebe vs. abstrafende Kälte

Das Verhältnis von Kindern zu ihren Eltern mit einem narzisstischen Charakter ist oft von Ambivalenz geprägt. Sind die Eltern zugewandt, etwa weil man sich in ihrem Interesse verhält, können sie die Kinder regelrecht mit Liebe überschütten. Ein bereits häufig verletztes Kinderherz wird die vermeintliche Liebe aufsaugen – und sich immer wieder verraten fühlen, wenn der emotional überbordende Elternzuspruch in eine abwertende Kühle wechselt. Manchmal gibt es aus der Sicht der selbstzentrierten Eltern einen »Grund für den Liebesentzug«, zum Beispiel, weil ein Kind versucht, seine eigene Identität zu entwickeln und seinen eigenen Weg zu gehen. Manchmal passiert der Entzug der Liebe aus dem Nichts heraus, zum Beispiel, weil die Eltern einen schlechten Tag hatten. Eine – wenn überhaupt! – Unterstützung durch die Eltern für das Kind ist immer an Bedingungen geknüpft.

»Ich sollte eine kleine Kopie von ihm sein«

Vater mit Sohn auf einem Felsenweg im Wald

Nicht immer sind Eltern eine Stütze für ihre Kinder auf dem felsigen Weg des Lebens. Beim Leben mit narzisstischen Eltern sind die Kinder auf sich allein gestellt. © heymarchetti under cc

Gustav* erzählt:

»Mein Vater ist ein Mathematiker. Er stellte sich als der Tollste und Intelligenteste hin. Es funktionierte. Für mich war er lange Zeit der Größte. Meine Mutter stellte er als dümmlich dar. Sie war für ihn nur eine Frau, die einfältig ist. Meine Schwester hielt er auch für eine typische einfältige, dumme Frau. Ich dagegen sollte in seine Fußstapfen treten. Wenn ich so war wie er, war er immens stolz und schlug mir mit seiner Pranke auf die Schulter und sagte: ›Das ist mein Sohn!‹ Aber wehe, ich genügte nicht seinen Ansprüchen. Weil er Mathematiker ist, sollte ich von Anfang an gut in Mathe sein. Deutsch oder so war nicht so wichtig, aber Mathe, das zählte!
Leider war ich im Rechnen nicht besonders gut. Also drangsalierte er mich oft bis Mitternacht mit Rechenaufgaben. Ich war ein Kind! Sieben oder acht Jahre alt! Am nächsten Morgen hatte ich Schule. Doch er war der Meinung, ich müsste das können. Ich sei einfach ›zu dämlich‹ und würde nichts begreifen. Diese Abende endeten immer damit, dass ich furchtbar weinte und weder ein noch aus wusste. Ich weiß noch, wie ich oft dachte, ich ramme mir unter dem Tisch meinen Bleistift in die Handfläche. Die in mir aufkommende Spannung sollte durch den Schmerz weggehen. Wenn mein Vater heute versucht, meine Kinder mit Matheaufgaben zu plagen, und sie aus dem Kalten abfragen will, gehe ich sofort dazwischen. Ich habe mit Ängsten und Depression zu tun, aber ich habe mich befreit!«

Familie als gigantische Verdrängungsmaschine

Menschen, die als Kinder von einem Leben mit narzisstischen Eltern betroffen sind, begreifen oft lange Zeit nicht, was ihnen passiert ist. Wie auch? Sie kennen es ja nicht anders. Viele haben als Erwachsene Probleme mit ihrem Leben. Sie verspüren große Ängste oder Phasen tiefer Melancholie, haben möglicherweise Suchtprobleme, geraten in co-abhängige Beziehungen oder haben gegebenenfalls selbst mit narzisstischen Tendenzen in ihrem Charakter umzugehen. Es ist schwer, das Rollenverhalten der Eltern als Erwachsener abzustreifen.

Wenn Kinder mit narzisstischen Eltern ihre Kindheit hinterfragen und die dysfunktionalen Konstellationen in der Familie begreifen, ist es, als würde ein Schleier von ihnen abfallen. Alles, von dem sie glaubten, wie das Leben sei, wird plötzlich in Frage gestellt. Das birgt eine große Ungewissheit, da die in der Kindheit erlernten Glaubenssätze sich als falsch erweisen. Es birgt aber genau dadurch auch immense Chancen, den Blick auf das Leben neu auszurichten und bestimmte Einstellungen zu ändern.

»Alles drehte sich um ihn«

Familienfoto einer Großfamilie, im Hintergrund sind Bäume

Nicht in jeder Familie ist ein Umgang auf Augenhöhe selbstverständlich. © otfrom under cc

Ilona* berichtet:

»Nach zwei Jahrzehnten Ehe mit einem toxischen Partner schaffte ich es endlich mit Ende Vierzig, mich zu befreien. Der Kinder waren auf dem Gymnasium, ich konnte Vollzeit arbeiten gehen und wagte den Schritt. Ich hatte höllische Angst. Nach einer wirklich schrecklichen Scheidung, denn mein Ex ist völlig eskaliert, kam ich bestimmt erst ein Jahr später wirklich zur Ruhe.
Ich begann zu überlegen, wie mir ein solcher Mann passieren konnte. Ich las viel im Netz und begriff, dass nicht nur mein Ehemann, sondern auch mein Vater und mein Großvater schreckliche Narzissten waren. In unserer Familie tanzten die Frauen regelrecht um die Männer herum. Diese waren die tollsten Alleinunterhalter auf jeder Party, alle liebten sie. Aber sie waren auch die Despoten, die am Tisch saßen und sich bedienen ließen. Sie schimpften vor versammelter Familie ihre Frauen an, sagten ihnen, sie sollen die Klappe halten, es käme sowieso nichts Gutes heraus. Im Rückblick begriff ich, wie sehr meine Oma und meine Mutter die ganze Zeit von ihren Männern bloßgestellt wurden, teilweise geschubst und geschlagen wurden. Mein Vater hetzte mich und meine Schwester sogar gegen meine Mutter auf. Wir wuchsen in dem Glauben auf, dass unsere Mutter verrückt ist und nichts zu sagen hätte.
Am Ende wählte ich mir einen Ehemann, der dasselbe mit mir machte. Ich begriff es lange Zeit nicht, weil mein Vater mich und meine Schwester natürlich auch ständig abwertete. Ich hielt eine solche Behandlung für normal und hinterfragte sie nicht. Sowohl meine Großmutter als auch meine Mutter flüchteten sich in den Alkohol und ich war auf dem besten Weg dahin. Ich danke Gott für das Internet und den Austausch, der in den Medien darüber stattfindet. Nur so habe ich verstanden, dass die Frauen in unserer Familie, eingeschlossen von mir selbst, jahrelang missbraucht wurden.«

Leben mit narzisstischen Eltern prägt lebenslang

Das Leben mit narzisstischen Eltern prägt einen lebenslang. Nicht nur, dass die Kinder keine liebevolle Basis für ihren Lebensweg erhalten, die ihnen aus dem Urvertrauen Selbstvertrauen angedeihen lässt, sondern viele Kinder befinden sich außerdem lebenslang in einer Habachtstellung. Sie sind stark auf das »Außen« orientiert. Bereits als Kinder mussten sie darauf achten, welche Stimmung die narzisstischen Eltern hatten. Sie mussten antizipieren, welches Verhalten von ihnen erwartet wird, damit sie so wenig wie möglich negative Konsequenzen davontragen. Sie mussten überlegen, was die Eltern hören wollen. Ihre eigene Identitätsentwicklung mussten sie zurücknehmen. Es war ihnen nicht gestattet, auf ihre Bedürfnisse zu achten und sich selbst zu entfalten. Als Erwachsene haben sie nach der Erkenntnis, dass ihr Leben mit narzisstischen Eltern ihnen Steine in den Weg gelegt hat, eine zweite Chance auf ein neues Leben.

*Name von der Redaktion geändert