Multikulturalismus und Pluralismus sind Lebensformen, die der Westen sich offensiv auf die Fahnen schreibt.
Doch ähnlich wie in der Einstellung zur bunten Sexualität ist es keineswegs so, dass der Westen eine lange Bekenntnistradition als Einwanderungsgesellschaft hat. Auch hier sterllt er keine homogene Einheit gar, manche Staaten sehen sich als Einwanderungsgesellschaft, andere eher nicht, wieder andere – wie Deutschland – ringen damit.
Der Pluralismus, seine Kritiker und seine Zerrformen
Die Idee des Pluralismus ist eine freundliche. Nach und nach kommen verschiedene Kulturen zusammen, tauschen sich auf allem möglichen Ebenen aus und so geht die Entwicklung weiter, weil wir nun die freie Wahl haben, das Beste aus allen Welten zu behalten und den Rest zurückzuweisen. So weit die Theorie, die Praxis des Multikulturalismus und Pluralismus ist ein bunter Strauß mit schöneren und weniger schönen Blumen.
Für die Kritiker ist der mögliche Verlust der eigenen Kultur ein überragendes Element. Man sieht eigene Traditionen und Werte in Gefahr. Nun ist es auf der einen Seite ein leichtes, aber tendenziell auch unfaires Spiel die Gegner des Pluralismus auflaufen zu lassen. Wenn irgendwo bei uns Faschisten für ‚unsere Werte‘ demonstrieren, wird es erkennbar selbstwidersprüchlich, da diese Menschen geneigt sind, genau diese Werte mit Füßen zu treten: Sie stehen gegen das, wofür sie angeblich demonstrieren.
Man braucht nur zu fragen, was denn eigentlich unsere Werte und kulturellen Wurzeln sind. Da wird dann gleich tief in die Kiste gegriffen, irgendwas mit jüdisch-christlichen Wurzeln, Aufklärung, Beethoven und Goethe. Nun ist ausgerechnet der deutsche Osten die atheistischste Region der Welt, dass also ausgerechnet hier das jüdisch-christliche Abendland verteidigt werden soll, ist mindestens erklärungsbedürftig. Ob die europäische Hochkultur hier überall in voller Blüte tradiert wird, darf man ebenfalls bezweifeln.
Gewiss, es gibt diese Tradition des europäischen und deutschen Bildungsbürgertums, aber deren Konservativismus ist in der Regel gar nicht explizit und immer antipluralistisch. Aber diese Linie steht auch nicht für all jene, die skeptisch auf den Pluralismus schauen. Dass der Pluralismus selbst keine einheitliche Linie verfolgt, liegt in der Natur der Dinge, aber das gilt eben auch für die Kritiker des Pluralismus, auch ihre Einstellung ist nicht homogen. Aber muss man denn die Werte der Aufklärung runter beten und Rilke oder George rezitieren können, um sich unbehaglich zu fühlen und dies artikulieren zu dürfen?
Was heißt es deutsch zu sein?
Bier trinken, Tatort gucken, Auto fahren, der Jahresurlaub, Fußball, Grillen und der Restaurantbesuch? Klar, auch das ist nur eine Karikatur, vielleicht eine, die auf mehr Menschen zutrifft als jene, mit Inbrunst zur Klavierbegleitung Schubert Lieder zu singen, aber es ist zugleich nicht nur eine, die ‚Ausländer‘ ausklammert, sondern immer häufiger auch selbst ernannte Deutsche.
Denn eine wachsende Unterschicht in Deutschland, die keinesfalls immer nur ungebildet ist, hat kein Auto, kann sich Urlaub nicht leisten und das Restaurant ist allenfalls die Pommes- oder Dönerbude, aus monetären Gründen selten. Das sind auch mal die berühmt-berüchtigten Hartz IV Empfänger der dritten Generation, aber es trifft auch Akademiker und heute schon viele alte Menschen, dieser Trend wird massiv schlimmer in den nächsten Jahren. Vergessen wir nicht die körperlich, aber auch psychisch Kranken, für die es schlicht ein Horror ist, manche Arbeiten anzunehmen. Sie wollen oft schon, können aber nicht und es werden immer mehr.
Eigentlich sahen sich linke Parteien in ihrem Selbstverständnis immer als Anwälte der arbeitenden und einfachen, ‚kleinen‘ Leute. Dahinter stand aber noch die Idee, dass einem durch Bildung und Fleiß ein gutes Leben gelingt, aber dieses Versprechen kann heute kaum noch aufrecht erhalten werden. Doch durch die politisch ohnehin bei uns inzwischen unbedeutende Linke ist ein Riss gegangen. Die einen sehen Linkssein als ein Form des pluralistischen Lifestyles, der eine bunte Welt fordert und sich darin gefällt, sich in dieser ganz zwanglos zu bewegen, weil doch alle so nett sind, wenn man nur nett zu ihnen ist. Die andere Fraktion ist der linke Urtyp, der die ökonomische Situation der Menschen verbessern will und betont, dass die Konkurrenz um fundamentale Bedürfnisse genau dieser Not geschuldet ist. Wo Menschen Mieten nicht mehr bezahlen können und zur Tafel gehen müssen, obwohl sie Jahrzehnte gearbeitet haben, da stimmt etwas nicht. Die Linke hat diese Menschen nicht länger erreicht.
Die Botschaft der Rechten ist einfacher: Wenn nur die ausländischen Mitkonkurrenten weg sind, haben wir genug für die Einheimischen. Das versteht jeder, der Haken ist, dass es nicht stimmt.
Die Zeitenwende
Wir erleben heute in der Tat eine Zeitenwende, in vielerlei Hinsicht. Zur neuen Auseinandersetzung der Systeme des Westens und des nahen, mittleren und fernen Ostens kommt der Klimawandel, die Seuchengefahr ist uns bewusst geworden, wir erleben, dass unser als völlig normal empfundener Wohlstand gefährdet ist und dass dieser Wohlstand zugleich – wenn er eine bloße Kopie unserer Lebensweise ist – das globale Überleben gefährdet. Die Altersarmut breiterer Schichten steht vor der Tür und auch der Abstieg einer Nation, die mit dem Fußball assoziiert ist, ist eine Kränkung, die wir eben wieder erlebt haben. Zugleich kommt der Profifußball aber auch mehr und mehr in die Kritik der einfachen Fans, denen diese Veranstaltung längst zu abgehoben ist.
Wenn man selbst wenig bis nichts mehr hat, gibt es wenigstens noch eines, was einem niemand nehmen kann, das Deutschsein. Sofern man sich selbst als Urdeutscher fühlt, das unterscheidet einen dann wenigstens noch. Die Argumentationsversuche die aus dieser Position abgeleitet werden, überzeugen nicht, da sie voll von Ressentiments sind. Es gibt die anderen, die irgendwie laut und dreckig, eben anders sind, sie passen nicht zu uns, sind nicht wie wir. Man wird immer Beispiele finden, auf die das zutrifft und andere, auf die es nicht zutrifft. In rechten Kontexten wird das Andere betont, doch es fordert im Prinzip auch wieder originäres Deutschsein zu definieren.
Wenn es keine Anknüpfung an die jüdisch-christliche und aufklärerische Tradition ist, wenn es Menschen mit Migrationsgeschichte längst gelungen ist, gutes Deutsch zu sprechen, Steuern zu zahlen und Karriere zu machen, die Forderungen des Alltags zu erfüllen, in einigen Fällen besser als Urdeutschen, was ist dann noch typisch deutsch?
Eigenschaften des Charakters wie Fleiß, Korrektheit, Gründlichkeit, Sauberkeit oder ‚unsere‘ Bürokratie? Man wird Beispiele für und gegen diese Attribute bei Zugewanderten und Urdeutschen finden. Wenn am Ende als einzige Unterscheidung zwischen ‚denen‘ und ‚uns‘ die Hautfarbe oder das willkürliche Abzählen von Generationen bleibt, wird die Argumentation rassistisch und damit fies. Intelligente rechte Theoretiker sind zudem längst auf den pluralistischen Zug aufgesprungen. Sie reden nicht mehr öffentlich von der Idee der Überlegenheit einer Menschengruppe, sondern sagen, Vielfalt sei super, aber nur oder vor allem dann, wenn jeder in seinem gewohnten Umfeld bleibt. Man kann vielleicht zurecht argwöhnen, dieser Ansatz stünde noch immer unter der Prämisse, dass ‚wir‘ ‚die‘ nicht hier haben wollen, aber auch die linke Lifestyle Argumentation einer bunten Welt hat einen Haken.
Pluralisten übersehen, dass ihre Argumente auch für jene gelten, die den Pluralismus nicht schätzen. Wenn sie sagen, die jeweils anderen wollten doch einfach nur ihr Leben leben, ohne sich diktieren zu lassen, wie sie zu leben haben, dann muss das auch für jene gelten, die ihre Ruhe haben wollen und von einer bunten Welt nicht begeistert sind oder sich vielleicht sogar überfordert oder zurückgesetzt fühlen. Diese Gruppe hat unter den Lifestyle Linken oft so gar keine Lobby, es ist die traditionelle Unterschicht oder untere Mittelschicht des eigenen Landes, aber auch Konservative, die ihre Werte durchaus ausbuchstabieren können. Ein solcher Pluralismus ist ein performativer Widerspruch, ein Fehlschluss oder einfach ein politisches Programm. Legitim, nur steht es als solches eben in Konkurrenz zu anderen politischen Programmen und hat damit keinen automatisierten Anspruch auf privilegierte Umsetzung.
Ehemalige Fehler aufzudecken, zu benennen und zu kritisieren ist der eine Punkt, doch diesen Fehler selbst zu wiederholen, in dem man anders Denkende selbst einfach übergeht oder marginalisiert, macht die Sache nicht besser. Es ging dem Pluralismus ursprünglich ja mal darum, die Stimmen derer, die man nicht hören wollte, dennoch hörbar zu machen. Dass die Minderheiten in den Fokus gerückt werden ist ebenfalls nicht automatisch mit dem Anspruch verbunden, dass die Mehrheitsgesellschaft sich nun ihren Wünschen zu beugen hat. Man muss die Positionen ernst nehmen, ausdiskutieren und die besten Lösungen in eine für alle bessere Lebenspraxis überführen. Da inzwischen sehr viele Gruppen als marginalisiert erkannt wurden, diese aber nicht automatisch die gleichen Ziele verfolgen, muss um den besten Kompromiss gerungen werden.
Primat der Wirtschaft?
Gibt es etwas, was uns alle quält? Die Diskussion über unser Wirtschaftssystem ist alt und lebendig. Es gibt sowohl am Kapitalismus als auch am Kommunismus Fundamentalkritik, auch das ist ein eigenes Thema. Unser Wirtschaftssystem gilt als eines, was sich durch Angebot und Nachfrage selbst steuert, ihm innewohnend gibt es einen Wachstumszwang und einen Trend zu immer mehr Innovationen und Effizienz.
Den Zwang zum Wachstum sehen manche als verheerend in einer endlichen Welt an, andere sagen dass Wachstum nicht nur materiell verstanden werden darf. Doch es gibt Kritiker die sagen, Effizienz alleine reiche in unserer Welt nicht mehr und die Notwendigkeit zur Suffizienz, zur Schrumpfung, zum Weniger betonen.
Das Argument des anzustrebenden wachsenden Wohlstands für alle darf dabei nicht ausgeklammert werden, aber ich glaube, dass es Aspekte unseres Lebens gibt, in denen sich wachsender Wohlstand und Suffizienz nicht widersprechen, sondern gegenseitig bedingen. Wenn wir sehen, dass viele Menschen bei uns unter Übergewicht, Bewegungsmangel, Depressionen und Ängsten und deren Folgen wirklich mitunter schwer leiden, aber gleichzeitig sich organisch anbietende Förderungen der Bewegung als einen Anschlag auf ihre Freiheit bewerten, dann wäre eine bessere Lösung im Bereich des Denkbaren. Mal zu Fuß gehen oder das Fahrrad benutzen.
Aber das markiert auch eine andere Seite des Problems. Inmitten eines Überflusses an materiellem Wohlstand geht es vielen Menschen dennoch schlecht. Wir haben vieles an Orientierung, Sinn und Werten verloren und an diese Stelle ist die Idee getreten, immer mehr von dem haben zu wollen, was wir bereits haben. Für manche passt diese Idee noch, gerade für jene, die sich als aufstrebend erleben. Sie wollen mehr Quadratmeter, mehr PS und mehr Gehalt, aber es gibt Menschen, die davon ausreichend haben oder hatten, für die das aber dennoch nicht das Zentrums ihres Lebens bedeutet.
Das sind reale Probleme, auch wenn sie nicht so existenziell sind wie Hunger oder Kälte. Doch genau darum geht es ja auch denen, die auf Rechte, Anerkennung und dergleichen pochen. Auch wenn das Überleben gesichert ist, gehen die menschlichen Bedürfnisse weiter und sie nicht erfüllt zu bekommen ist keinesfalls als reines Luxusproblem zu betrachten.