Wenn wir schon alle in einem Boot sitzen … © 曾 成訓 under cc

Vertikal und horizontal sind die Richtungen des integralen Denkens und Handels. Ihre Bausteine sind auch die Archetypen.

Horizontale Ganzheit

Beim letzten Mal ging es um eine horizontale Art des Denkens und der Ganzheit. Diese Form des archetypischen Denkens begegnet uns beispielhaft in der Elementenlehre der alten Griechen, der Traditionellen Chinesischen Medizin, bei Carl Gustav Jung, in der Astrologie und in der Krankheitsbilderdeutung, um nur einigen Beispiele zu nennen. Dabei geht es darum, aufgrund von Ähnlichkeiten der Form, der Erscheinung, der Signatur einen inneren Zusammenhang zu vermuten und spielerisch einen Zugang zu dieser für unser Denken oftmals ungewohnten Sicht zu erlernen. In Analoges Denken wurde das näher ausgeführt.

Die horizontale Sicht hat jedoch ihre Grenzen, sie kann Qualitätssprünge nicht gut darstellen. Implizit ist dort zwar die Behauptung enthalten, dass, wenn man fehlende Prinzipien in sein Leben integriert, dies besser, runder oder wesentlicher wird, aber was heißt das im Einzelfall? Sich besser zu kennen, heißt auch, die dunklen Seiten an sich besser zu kennen. Darum geht es bei der Integration von Schattenbereichen.

Bei der horizontalen Ganzheit geht es im Wesentlichen darum, die fehlende andere Seite ins Leben zu integrieren. Der ungeduldige Mensch lernt sich wenigstens ein wenig in Geduld zu üben und man hofft, dass sein Leben so runder wird. Bei C. G. Jung finden wir, dass sich der Mann in der zweiten Lebenshälfte seiner archetypisch weiblichen Anteile, seiner Anima, bewusst werden sollte, umgekehrt die Frau ihres Animus, ihrer männlichen Anteile. Der Kreis schließt sich, der Weg in gewisser Weise vollendet.

Vertikale Ganzheit

Doch da ist noch die vertikale Sichtweise. Gemäß dieser ist es ungefähr so, dass das Spiel nicht vorbei ist, wenn der Kreis geschlossen ist, sondern, um in der Sprache der Spiele zu bleiben, ein neues Level wird erreicht. Dann geht es von vorne los oder eher, mit den bislang erworbenen Eigenschaften weiter.

Hier wird es schwierig, weil wir oft ein bestimmtes Bild von Fortschritt und Entwicklung haben, wie bereits in Folge 5 ausgeführt: Altes glauben wir überwunden zu haben, damit ist es weg und wertlos, für unsere Zeit und unser Leben. Es war irgendwie die Basis, das Sprungbrett, aber nachdem es diese Funktion erfüllt hat, kommen wir nie wieder dahin zurück.

Das stimmt nur zum Teil. Bestimmte Eigenschaften von früher überwinden wir tatsächlich, auf andere greifen wir immer wieder zurück oder sie werden in veränderter Form ein Teil von anderen Praktiken. Es gibt Qualitätssprünge, bei denen, so sie gelingen, sich der Blick auf die Welt radikal verändert. Auch dies ist eine ambivalente Erfahrung. Wer um Erkenntnis ringt, weiß, wie zerrissen man sich fühlen kann, wenn man annähernd gleich starke Modelle kennt, die die Welt, wie man sie erlebt, fast gleich gut erklären, aber von vollkommen unterschiedlichen Prämissen ausgehen. Manchmal erlebt man den beglückenden Moment, in dem sich all diese Spannungen auflösen. Es wird einem intuitiv klar, wie die Welt funktioniert, alle Widersprüche scheinen aufgelöst, alle prinzipiellen Geheimnisse gelöst, das ist erhebend. Wer nicht gerade genau in dieser Lebensphase ist, weiß auch, wie die Geschichte weiter geht, man ist auf einer neuen Erkenntnisstufe, blickt sich in einer neuen Welt mit all ihren Freiheiten und Möglichkeiten um, staunend und ergriffen, um dann nach und nach zu merken, dass man noch immer nicht im ersehnten Paradies angekommen ist, sondern sich durch die neuen Perspektiven nun auch ein Blick auf neue Probleme auftut, Probleme, die man vorher gar nicht hatte, weil man auch sie nicht erkannt hat.

Manchmal sehnt man sich sogar zurück in die Weltsicht, die man vorher hatte, als – rückblickend und so gut wie immer verklärend betrachtet – alles noch so einfach zu sein schien. Man könnte sagen, früher sei eben nicht alles schlecht gewesen, aber auch nicht alles gut. Das ist sicher richtig, die Preisfrage ist nur, was schlecht war und was gut?

Wir können archetypische Themen nicht aus der Welt drängen II

Im Grunde erleben wir in der Gegenwart und jüngsten Vergangenheit eine Zeit, die in hohem Maße davon geprägt ist, dass sie alten Kram, die Weltbilder und Sichtweisen früherer Zeiten über Bord geworfen hat. Das magische und mythische Denken früherer Zeiten gilt als antiquiert und etwas, was manche vielleicht noch nicht überwunden haben, das Ziel ist jedoch, dass dies demnächst gelingt und alle Menschen so frei aufgeklärt leben, wie wir.

Aber stimmt das Bild überhaupt noch? Ist nicht dauernd von Impfskeptikern, Coronaleugnern und anderen Menschen die Rede, die sich den Erkenntnissen der Wissenschaft verweigern? Sind das eben die paar verwirrten Verschwörungstheoretiker, politischen Extremisten oder etwas Denkschwachen? Die scheint es zu geben, aber abseits der Wertungen ist es interessant zu betrachten, womit wir es bei der großen Skepsis von der psychologischen Struktur her zu tun haben.

Das Bemühen war, seit der Zeit der Aufklärung das vorrationale Denken aus der Welt zu schaffen, zu überwinden. Das Angebot war, dass man die alte Rede von Geistern und Göttern nicht mehr brauchte, weil diese im Grunde nur als Platzhalter für Erklärungen dienten, die die Menschen noch nicht hatten, nun aber haben. Das war der Optimismus der Aufklärung. Wenigen wurde die Ungeheuerlichkeit dieses Ansatzes klar. Nietzsche war einer von ihnen, andere, die auf die Gefahren hinwiesen waren Horkheimer und Adorno.

Es ist in Teilen genau so gekommen, Wissenschaft und Technik rückten in den Rang von Ersatzreligionen und die Rolle konnten sie nicht ausfüllen. Die Breite der Vernunft, den das Projekt der Aufklärung im Sinn hatte, ist eingekürzt auf einen schnöden Funktionalismus, auf Zweckrationalität und den Glauben darin, dass es mit mehr Fortschritt einfach immer so weiter geht. Doch diese reine Zweckrationalität ist, wenn sie zielloser Selbstzweck wird eine Übertreibung, eine pathologische Entwicklung, die längst an Überzeugungskraft verloren hat.

In der Folge schießen die längst überwunden geglaubten Denkformen wieder wie Pilze aus dem Boden. Wir sind heute so geprägt, dass wir glauben, die einzig vernünftige Art zu denken, sei wissenschaftlich. Daneben gibt es zwar noch Religion, aber wer daran glaubt, ist eben noch nicht so weit. Doch in Europa sind auch die Religionen in der Krise, die Folge sind diverse Subsysteme, in denen man alle möglichen mythischen und magischen Glaubensformen findet. Eine spirituelle Sehnsucht bleibt und Menschen beginnen unsystematisch alle möglichen Formen auszuprobieren.

Magisches Denken ist längst wieder da

Die einen meditieren, anderen machen Yoga oder wenden sich der Esoterik zu. Hier ahnt man das magische Denken, das, ich komme drauf zurück, hier nicht diskreditiert werden soll. Es geht um einen anderen Punkt: Auch in dem modernen Wunsch nach (über)korrekter Sprache stecken Reste wortmagischer Überzeugungen, die mitunter etwas naiv sind. Dass nämlich, wer keine schlimmen Wörter sagt, auch keine bösen Gedanken haben kann.

Aber auch seltsame Theorien wie von Rainer Mausfeld, einem Kognitionspsychologen, der davon redet, dass es Begriffe gibt, die, wenn man sie gebraucht ganze Ideologien gleich eines trojanischen Pferdes ins Bewusstsein bringen, kursieren. Zwar ist Sprache wesentlich holistisch – man kann die Bedeutung von Begriffen und Sätzen nur im Kontext erschließen – aber gerade weil das so ist, liegt die Bedeutung eines Begriffs in seinem Gebrauch und da meint eben jeder etwas anderes. Nicht zu abweichend, sonst würde Sprache nicht funktionieren, aber eben auch nicht identisch. Jede Paartherapeutin kann Bände darüber verfassen.

Ohne Sinn und Unsinn mancher Sprachneuregelungen inhaltlich bewerten zu wollen, ist der Ansatz über das Weglassen oder Hinzufügen bestimmter Wörter direkten Einfluss auf das Bewusstsein von Menschen nehmen zu können ein wortmagischer Gedanke, nur selbst im Kontext echter Wortmagie noch naiv. Dass die Reflexion von Begriffen sinnvoll ist, sei unbestritten, aber Reflexion und Neusprech sind nicht identisch.

Die Verschwörungstheorien, die derzeit populär sind, sind ebenfalls im Kern magisch, weil ihre Anhänger an eine geheime Macht glauben machen wollen, die im Hintergrund die Strippen zieht und sich gegen den braven, einfachen Bürger verschworen hat und ihn auf allen nur erdenklichen Wegen manipuliert. Auch hier geht es mir nicht um den Inhalt, sondern die Struktur.

Zieht man einen Strich drunter, kann man sagen, dass inmitten der Aufklärung und einer hochtechnologisierten Gesellschaft sehr altes Denken wieder durchbricht. Also noch mehr Aufklärung, neue Versuche alles was überkommen scheint zu beseitigen, um endlich alle Reste des alten Aberglaubens weg zu bekommen? Das ist der Weg den man seit langer Zeit geht und der, wie immer mehr dämmert, keinen Erfolg haben wird.

Die Idee dahinter ist, dass manche Theoretiker meinen, man müsse sich entscheiden. Entweder, man hat ein magisches Weltbild oder ein rationales, beides geht nicht. Aber neben der Tatsache, dass es Regressionen gibt, Spaltungen zwischen Emotionen und Kognition, dass jedes neue Kind immer wieder alle Entwicklungsstufen von vorne durchlaufen muss, ist es auch so, dass wir ja auch gutartige Regressionen kennen, die kein Fehler sind, sondern das Leben angenehmer machen. Beim Sex, beim Essen, bei manchen Kunstgenüssen, in Fußballstadion ist es fundamental wichtig, sich fallen lassen, regredieren zu können.

Es gibt die gar nicht so dumme These, dass es von allen Stufen der Entwicklung der kollektiven Bevölkerung und des Individuums eben gesunde oder angemessene und pathologische oder unangemessene Formen gibt.

Das Ruderboot, in dem nur einer rudert

Wenn das so ist, würde es wenig Sinn machen, die Reste vorangegangener Stufen aus der Welt heraus zu drängen. Ganz praktisch, weil es nicht klappt, aber vor unserem Hintergrund auch deshalb nicht, weil das wie Rudern in einem Boot mit mehreren Leute wäre, in dem nur einer rudert. Man verschenkt Möglichkeiten. Die volle Kraft würde dann entfaltet, wenn alle mitmachten und das auch noch koordiniert. Die Aufgabe wäre dann nur noch, diese Koordination herzustellen, also die gesunden von den übertriebenen Formen zu trennen.

Ist das erreicht, kann man die gelungenen Formen vergangener Stufen wieder in den Alltag integrieren und das kann durchaus dazu führen, dass es uns allen besser geht. Es reicht nicht, einfach nur irgendwas als Synergie oder Ganzheit zu deklarieren. Im schlimmen Fall wird das ein ungenießbarer Eintopf, im guten Fall bekommen wir das beste aus allen Welten. Wir brauchen also zunächst Differenzierung, dann Koordination.

Wir müssen uns nicht zwischen vertikal und horizontal entscheiden, sondern können beides kombinieren. Dabei eine horizontale Ganzheit anstreben, in dem wir schauen, welche Urprinzipien wir bereits leben und welche wir gerne auslassen. Auf der vertikalen Ebene können wir die besten Aspekte der Vergangenheit, deren Fehler wir heute oft bemerken, reintegrieren. Eine Verbindung zur Natur fehlt uns oft genauso, wie die zu unseren nächsten Mitmenschen und auch Kulturtechniken der Vergangenheit drohen unter zu gehen. Das ist nicht gut für unsere Verwurzelung.

Gelingt es uns diese Verbindung wieder herzustellen, ist das zum einen ein Rückgriff auf Teile der Vergangenheit, zum anderen ist es ein Schritt nach vorne, weil es genau diese Integration vergangener Kulturtechniken zu wenig gab. Wir wollte das Alte los werden, es erschien uns verdächtig, wenigstens im westlichen Denken. Die Archetypenlehre und ihr analoges Denken kann ein Baustein sein, den wir durchaus noch mal näher betrachten sollten.

Das Ziel ist ein Leben aus der Kraft voller Möglichkeiten zu leben, statt ängstlich irgendwelche Reste, von denen wir glauben, sie beschrieben die ganze Welt, zu verteidigen. Unsere Lebenswirklichkeit kann ein vitaler, dreidimensionalen Kosmos sein, mit zig Möglichkeiten, der Erkenntnis, des praktischen Lebensvollzugs und des Glücks.