
Multikulturalismus wird oft in Festen gefeiert, muss sich aber vor allem im Alltag bewähren. © Ralf Schlulze under cc
Multikulturalismus und Pluralismus sind Lebensformen, die der Westen sich offensiv auf die Fahnen schreibt.
Doch ähnlich wie in der Einstellung zur bunten Sexualität ist es keineswegs so, dass der Westen eine lange Bekenntnistradition als Einwanderungsgesellschaft hat. Auch hier sterllt er keine homogene Einheit gar, manche Staaten sehen sich als Einwanderungsgesellschaft, andere eher nicht, wieder andere – wie Deutschland – ringen damit.
Der Pluralismus, seine Kritiker und seine Zerrformen
Die Idee des Pluralismus ist eine freundliche. Nach und nach kommen verschiedene Kulturen zusammen, tauschen sich auf allem möglichen Ebenen aus und so geht die Entwicklung weiter, weil wir nun die freie Wahl haben, das Beste aus allen Welten zu behalten und den Rest zurückzuweisen. So weit die Theorie, die Praxis des Multikulturalismus und Pluralismus ist ein bunter Strauß mit schöneren und weniger schönen Blumen.
Für die Kritiker ist der mögliche Verlust der eigenen Kultur ein überragendes Element. Man sieht eigene Traditionen und Werte in Gefahr. Nun ist es auf der einen Seite ein leichtes, aber tendenziell auch unfaires Spiel die Gegner des Pluralismus auflaufen zu lassen. Wenn irgendwo bei uns Faschisten für ‚unsere Werte‘ demonstrieren, wird es erkennbar selbstwidersprüchlich, da diese Menschen geneigt sind, genau diese Werte mit Füßen zu treten: Sie stehen gegen das, wofür sie angeblich demonstrieren.
Man braucht nur zu fragen, was denn eigentlich unsere Werte und kulturellen Wurzeln sind. Da wird dann gleich tief in die Kiste gegriffen, irgendwas mit jüdisch-christlichen Wurzeln, Aufklärung, Beethoven und Goethe. Nun ist ausgerechnet der deutsche Osten die atheistischste Region der Welt, dass also ausgerechnet hier das jüdisch-christliche Abendland verteidigt werden soll, ist mindestens erklärungsbedürftig. Ob die europäische Hochkultur hier überall in voller Blüte tradiert wird, darf man ebenfalls bezweifeln.
Gewiss, es gibt diese Tradition des europäischen und deutschen Bildungsbürgertums, aber deren Konservativismus ist in der Regel gar nicht explizit und immer antipluralistisch. Aber diese Linie steht auch nicht für all jene, die skeptisch auf den Pluralismus schauen. Dass der Pluralismus selbst keine einheitliche Linie verfolgt, liegt in der Natur der Dinge, aber das gilt eben auch für die Kritiker des Pluralismus, auch ihre Einstellung ist nicht homogen. Aber muss man denn die Werte der Aufklärung runter beten und Rilke oder George rezitieren können, um sich unbehaglich zu fühlen und dies artikulieren zu dürfen?
Was heißt es deutsch zu sein?
Bier trinken, Tatort gucken, Auto fahren, der Jahresurlaub, Fußball, Grillen und der Restaurantbesuch? Klar, auch das ist nur eine Karikatur, vielleicht eine, die auf mehr Menschen zutrifft als jene, mit Inbrunst zur Klavierbegleitung Schubert Lieder zu singen, aber es ist zugleich nicht nur eine, die ‚Ausländer‘ ausklammert, sondern immer häufiger auch selbst ernannte Deutsche.
Denn eine wachsende Unterschicht in Deutschland, die keinesfalls immer nur ungebildet ist, hat kein Auto, kann sich Urlaub nicht leisten und das Restaurant ist allenfalls die Pommes- oder Dönerbude, aus monetären Gründen selten. Das sind auch mal die berühmt-berüchtigten Hartz IV Empfänger der dritten Generation, aber es trifft auch Akademiker und heute schon viele alte Menschen, dieser Trend wird massiv schlimmer in den nächsten Jahren. Vergessen wir nicht die körperlich, aber auch psychisch Kranken, für die es schlicht ein Horror ist, manche Arbeiten anzunehmen. Sie wollen oft schon, können aber nicht und es werden immer mehr.
Eigentlich sahen sich linke Parteien in ihrem Selbstverständnis immer als Anwälte der arbeitenden und einfachen, ‚kleinen‘ Leute. Dahinter stand aber noch die Idee, dass einem durch Bildung und Fleiß ein gutes Leben gelingt, aber dieses Versprechen kann heute kaum noch aufrecht erhalten werden. Doch durch die politisch ohnehin bei uns inzwischen unbedeutende Linke ist ein Riss gegangen. Die einen sehen Linkssein als ein Form des pluralistischen Lifestyles, der eine bunte Welt fordert und sich darin gefällt, sich in dieser ganz zwanglos zu bewegen, weil doch alle so nett sind, wenn man nur nett zu ihnen ist. Die andere Fraktion ist der linke Urtyp, der die ökonomische Situation der Menschen verbessern will und betont, dass die Konkurrenz um fundamentale Bedürfnisse genau dieser Not geschuldet ist. Wo Menschen Mieten nicht mehr bezahlen können und zur Tafel gehen müssen, obwohl sie Jahrzehnte gearbeitet haben, da stimmt etwas nicht. Die Linke hat diese Menschen nicht länger erreicht.
Die Botschaft der Rechten ist einfacher: Wenn nur die ausländischen Mitkonkurrenten weg sind, haben wir genug für die Einheimischen. Das versteht jeder, der Haken ist, dass es nicht stimmt.
Die Zeitenwende
Wir erleben heute in der Tat eine Zeitenwende, in vielerlei Hinsicht. Zur neuen Auseinandersetzung der Systeme des Westens und des nahen, mittleren und fernen Ostens kommt der Klimawandel, die Seuchengefahr ist uns bewusst geworden, wir erleben, dass unser als völlig normal empfundener Wohlstand gefährdet ist und dass dieser Wohlstand zugleich – wenn er eine bloße Kopie unserer Lebensweise ist – das globale Überleben gefährdet. Die Altersarmut breiterer Schichten steht vor der Tür und auch der Abstieg einer Nation, die mit dem Fußball assoziiert ist, ist eine Kränkung, die wir eben wieder erlebt haben. Zugleich kommt der Profifußball aber auch mehr und mehr in die Kritik der einfachen Fans, denen diese Veranstaltung längst zu abgehoben ist.
Wenn man selbst wenig bis nichts mehr hat, gibt es wenigstens noch eines, was einem niemand nehmen kann, das Deutschsein. Sofern man sich selbst als Urdeutscher fühlt, das unterscheidet einen dann wenigstens noch. Die Argumentationsversuche die aus dieser Position abgeleitet werden, überzeugen nicht, da sie voll von Ressentiments sind. Es gibt die anderen, die irgendwie laut und dreckig, eben anders sind, sie passen nicht zu uns, sind nicht wie wir. Man wird immer Beispiele finden, auf die das zutrifft und andere, auf die es nicht zutrifft. In rechten Kontexten wird das Andere betont, doch es fordert im Prinzip auch wieder originäres Deutschsein zu definieren.
Wenn es keine Anknüpfung an die jüdisch-christliche und aufklärerische Tradition ist, wenn es Menschen mit Migrationsgeschichte längst gelungen ist, gutes Deutsch zu sprechen, Steuern zu zahlen und Karriere zu machen, die Forderungen des Alltags zu erfüllen, in einigen Fällen besser als Urdeutschen, was ist dann noch typisch deutsch?
Eigenschaften des Charakters wie Fleiß, Korrektheit, Gründlichkeit, Sauberkeit oder ‚unsere‘ Bürokratie? Man wird Beispiele für und gegen diese Attribute bei Zugewanderten und Urdeutschen finden. Wenn am Ende als einzige Unterscheidung zwischen ‚denen‘ und ‚uns‘ die Hautfarbe oder das willkürliche Abzählen von Generationen bleibt, wird die Argumentation rassistisch und damit fies. Intelligente rechte Theoretiker sind zudem längst auf den pluralistischen Zug aufgesprungen. Sie reden nicht mehr öffentlich von der Idee der Überlegenheit einer Menschengruppe, sondern sagen, Vielfalt sei super, aber nur oder vor allem dann, wenn jeder in seinem gewohnten Umfeld bleibt. Man kann vielleicht zurecht argwöhnen, dieser Ansatz stünde noch immer unter der Prämisse, dass ‚wir‘ ‚die‘ nicht hier haben wollen, aber auch die linke Lifestyle Argumentation einer bunten Welt hat einen Haken.
Pluralisten übersehen, dass ihre Argumente auch für jene gelten, die den Pluralismus nicht schätzen. Wenn sie sagen, die jeweils anderen wollten doch einfach nur ihr Leben leben, ohne sich diktieren zu lassen, wie sie zu leben haben, dann muss das auch für jene gelten, die ihre Ruhe haben wollen und von einer bunten Welt nicht begeistert sind oder sich vielleicht sogar überfordert oder zurückgesetzt fühlen. Diese Gruppe hat unter den Lifestyle Linken oft so gar keine Lobby, es ist die traditionelle Unterschicht oder untere Mittelschicht des eigenen Landes, aber auch Konservative, die ihre Werte durchaus ausbuchstabieren können. Ein solcher Pluralismus ist ein performativer Widerspruch, ein Fehlschluss oder einfach ein politisches Programm. Legitim, nur steht es als solches eben in Konkurrenz zu anderen politischen Programmen und hat damit keinen automatisierten Anspruch auf privilegierte Umsetzung.
Ehemalige Fehler aufzudecken, zu benennen und zu kritisieren ist der eine Punkt, doch diesen Fehler selbst zu wiederholen, in dem man anders Denkende selbst einfach übergeht oder marginalisiert, macht die Sache nicht besser. Es ging dem Pluralismus ursprünglich ja mal darum, die Stimmen derer, die man nicht hören wollte, dennoch hörbar zu machen. Dass die Minderheiten in den Fokus gerückt werden ist ebenfalls nicht automatisch mit dem Anspruch verbunden, dass die Mehrheitsgesellschaft sich nun ihren Wünschen zu beugen hat. Man muss die Positionen ernst nehmen, ausdiskutieren und die besten Lösungen in eine für alle bessere Lebenspraxis überführen. Da inzwischen sehr viele Gruppen als marginalisiert erkannt wurden, diese aber nicht automatisch die gleichen Ziele verfolgen, muss um den besten Kompromiss gerungen werden.
Primat der Wirtschaft?
Gibt es etwas, was uns alle quält? Die Diskussion über unser Wirtschaftssystem ist alt und lebendig. Es gibt sowohl am Kapitalismus als auch am Kommunismus Fundamentalkritik, auch das ist ein eigenes Thema. Unser Wirtschaftssystem gilt als eines, was sich durch Angebot und Nachfrage selbst steuert, ihm innewohnend gibt es einen Wachstumszwang und einen Trend zu immer mehr Innovationen und Effizienz.
Den Zwang zum Wachstum sehen manche als verheerend in einer endlichen Welt an, andere sagen dass Wachstum nicht nur materiell verstanden werden darf. Doch es gibt Kritiker die sagen, Effizienz alleine reiche in unserer Welt nicht mehr und die Notwendigkeit zur Suffizienz, zur Schrumpfung, zum Weniger betonen.
Das Argument des anzustrebenden wachsenden Wohlstands für alle darf dabei nicht ausgeklammert werden, aber ich glaube, dass es Aspekte unseres Lebens gibt, in denen sich wachsender Wohlstand und Suffizienz nicht widersprechen, sondern gegenseitig bedingen. Wenn wir sehen, dass viele Menschen bei uns unter Übergewicht, Bewegungsmangel, Depressionen und Ängsten und deren Folgen wirklich mitunter schwer leiden, aber gleichzeitig sich organisch anbietende Förderungen der Bewegung als einen Anschlag auf ihre Freiheit bewerten, dann wäre eine bessere Lösung im Bereich des Denkbaren. Mal zu Fuß gehen oder das Fahrrad benutzen.
Aber das markiert auch eine andere Seite des Problems. Inmitten eines Überflusses an materiellem Wohlstand geht es vielen Menschen dennoch schlecht. Wir haben vieles an Orientierung, Sinn und Werten verloren und an diese Stelle ist die Idee getreten, immer mehr von dem haben zu wollen, was wir bereits haben. Für manche passt diese Idee noch, gerade für jene, die sich als aufstrebend erleben. Sie wollen mehr Quadratmeter, mehr PS und mehr Gehalt, aber es gibt Menschen, die davon ausreichend haben oder hatten, für die das aber dennoch nicht das Zentrums ihres Lebens bedeutet.
Das sind reale Probleme, auch wenn sie nicht so existenziell sind wie Hunger oder Kälte. Doch genau darum geht es ja auch denen, die auf Rechte, Anerkennung und dergleichen pochen. Auch wenn das Überleben gesichert ist, gehen die menschlichen Bedürfnisse weiter und sie nicht erfüllt zu bekommen ist keinesfalls als reines Luxusproblem zu betrachten.
Die Integrationskraft der Wirtschaft

Vermutlich ist an der Kritik etwas dran und vermutlich liegen die Wurzeln des Problems noch tiefer. © Julia Seeliger under cc
Die Wirtschaft hat dann eine hohe Integrationskraft, wenn sie menschliche Arbeitskräfte braucht. Da ist man in aller Regel liberal, es geht nicht um Fragen von Mann und Frau, Herkunft, religiöser oder sexueller Orientierung, es sei denn, etwas ist für den Berufsbereich relevant, es wird oft jeder genommen, der die Tätigkeit gut genug ausführen kann.
In kleineren Betrieben sucht man sich durchaus Menschen, die zum Team passen, je größer der Konzern, umso eher nimmt man jeden, solange er gut genug funktioniert. Auf der einen Seite kann das wirklich zu Annäherungen, Freundschaften und der Integration unterschiedlicher Menschen führen, aber eben auch dazu, dass es zu einer Konkurrenzsituation im Niedriglohnsektor kommt, die Löhne immer mehr gedrückt und die Arbeitsbedingungen unzumutbarer werden und wo das nicht gelingt, weil sich Gewerkschaften organisieren oder die Rahmenbedingungen zumindest offiziell dagegen sprechen, verlagert man die Produktion ins Ausland, wenn es sich für die Firmen oder Konzerne rechnet.
Ein normaler Vorgang, mit Chancen auf Arbeit für viele oder organisierte Ausbeutung? Ein flexibles, sich selbst steuerndes System, dessen Anpassungsfähigkeit man bewundern muss. In dem System muss sich allerdings auch der Mensch anpassen. Man hat zu funktionieren, der nächste wartet schon. So wurde es bis eben noch suggeriert, notfalls war man wieder mit der Drohung zur Hand, im Ausland zu produzieren.
Hocheffizient und eine logistische Meisterleistung, wenn man sieht, wo die Bauteile für eine just in time Produktion, die kaum noch Lager braucht, weil eben alles auf den Punkt dort ankommt, wo es gebraucht wird, pünktlich zusammen kommen. Inklusive mancher Ausweichwege, sollten sich Probleme ergeben. Das funktioniert so lange, bis es nicht mehr funktioniert und die Lieferketten mit einem Mal zusammenbrechen. Egal, ob es für ein Auto dann mit einem Mal keine Reifen oder Chips für die Steuerung gibt, man muss genau auf diese Teile warten und dann steht alles still.
Oder die Produktion vom Medikamenten bricht für einige Zeit ganz zusammen. Hat man noch Lagerbestände, etwa für Apotheken, kann man auf sie zurückgreifen, aber irgendwann sind diese auch leer. Mal eben schnell die Produktion ins eigene Land zu holen klappt nicht, da man weder über die Arbeitskräfte, noch Produktionsbedingungen verfügt. Es existieren Sicherheitssysteme, indem man sich nicht auf eine Quelle verlässt, aber wir haben erlebt, dass das, womit keiner rechnete, dann doch eintreten kann.
Seuchen, Kriege oder dramatisch veränderte Rohstoffpreise oder -knappheiten und alles sieht mit einem Mal anders aus, wir erleben gerade, dass das, was sich niemand vorstellen konnte oder wollte unser neuer Begleiter im Alltag ist. Der Mensch ist evolutionär so erfolgreich, weil er extrem anpassungsfähig und in der Lage ist zu kooperieren – erstaunlicherweise in Krisen besser, als wenn es gut läuft – aber dabei fällt oft die Frage flach, ob man sich bestimmten Bedingungen überhaupt anpassen sollte.
Die Werte der Aufklärung und was von ihnen geblieben ist
Wenn wir im Westen mit den Werten des Christentums, das selbst ein Amalgam verschiedener Quellen ist, immer weniger anzufangen wissen, so ist dies eines, auf der anderen Seite können wir aber auch mit den Werten der Aufklärung, der anderen zentralen Traditionslinie des Westens immer weniger anfangen.
Viele Pluralisten wollen die Diskussion über ein Miteinander wieder aus den Niederungen eines schnöden Funktionalismus‘, bei dem es um Anpassung geht, auf die Ebene der Werte der Aufklärung heben und das völlig zurecht. Es kann nicht nur darum gehen durchzukommen und brav zu funktionieren, sondern um die Aspekte, die unser Leben eigentlich lebenswert machen: Fragen nach Würde, Freiheit, Gerechtigkeit und Selbstbestimmung.
Manche Pluralisten vergessen dabei allerdings, dass diese höheren, komplexeren Fragen, Werte und Bedürfnisse auf den Schulter basaler Werte und Bedürfnisse stehen, die erst einmal erfüllt sein müssen. Wenn man friert und hungert, auch bei uns wieder ein Thema, oder demnächst auch hier das Wasser knapper wird, stellen sich Fragen nach optimaler Selbstentfaltung erst gar nicht. Welche Bedürfnisse wirklich basal sind, darüber kann man streiten, aber die narzisstische Angst davor, dass die eigene Komfortzone Kratzer bekommen könnte, ist dann nicht mehr die angemessene Verhaltensweise, sie ist tatsächlich dysfunktional.
Mit anderen Worten, die Lebensweise des Westens ist nur dann möglich, wenn die basalen und höheren Bedürfnisse, Entwicklungsstufen[link] oder wie immer man es nennen möchte ineinander greifen. Das dies nicht immer der Fall ist, sieht man bei der Linken an dem Diskussionen zwischen der Lifestyle- und ihrer Basisversion.
Es geht aber weniger darum, sich auf eine Seite zu schlagen, die wichtige Erkenntnis ist, dass die ganze Spirale der Entwicklung wichtig ist, jede einzelne Stufe. Sie alle müssen kontinuierlich gepflegt werden. Die Schwäche des Pluralismus ist oft, sich auf die höheren Stufen zu fokussieren und zugleich aber die Existenz von höheren und niederen Stufen (und allgemein Hierarchien) ideologisch abzulehnen, was eine besonders ironische Note ist und zu mitunter seltsamen Diskussionen führt.
Genau dieser eine Schritt, die Fähigkeit und Bereitschaft die Existenz von Hierarchien anzuerkennen, zusammen mit der Fähigkeit und Bereitschaft alle Stufen dieser Treppe als prinzipiell notwendig und in diesem Sinne gleichberechtigt anzusehen – der den meisten Pluralisten misslingt –, zugleich die unteren oder basalen Stufen ebenfalls nicht als die eigentlich wahren verabsolutieren, ist der hin zum integralen Denken, das diese Elemente zusammen bekommt.
Die Erfindung des Individuums
In gewisser Weise ist die Ausdifferenzierung des Individuums einzigartig für den Westen. Der Individualismus hat heute einen schlechten Klang, weil er sogleich mit Hyperindividualismus, Egoismus und Narzissmus verwechselt wird. Doch auch hier wird nicht zwischen den höheren und niederen Stufen unterschieden, wir haben dies in Stufen der Moralentwicklung dargestellt.
In der postkonventionellen Version ist das Individuum nicht zwanghaft gegen die Gesellschaft eingestellt und empfindet auch nicht jede Regel als persönliche Kränkung. Dies wären eher Anzeichen für eine narzisstische Regression, die wir sicher in den letzten Jahrzehnten in größerem Ausmaß erlebt haben.
Doch in der reifen Variante bedeutet die schrittweise Stärkung des Individuums, das, anders als man es glauben sollte in wesentlichen Aspekten vom Christentum in einem zähen Ringen durchgesetzt wurde, eben jene Werte, die dann in der Aufklärung ausformuliert wurde, in Leben zu verwandeln. Dazu zählt die Bedeutung und der Respekt von jedem Individuum, das neben Pflichten auch Rechte und Freiheiten genießt.
Dazu zählt, dass wir jedes Leben als lebenswert ansehen und eben nicht abgezählt wird und der vermeintlich geringere Schaden oder größere Nutzen rein über die Zahl ermittelt wird. Ein wesentlicher Grund dafür ist, dass es kein Kriterium für den Grad an Leid oder Freude gibt, eben weil die Menschen verschieden sind, verschiedene Bedürfnisse haben und das worunter die eine leidet, dem anderen Freude bereiten kann.
In anderen Systemen, die die westliche Sichtweise ablehnen wird der Wert des Individuums anders gesehen. In vielen dieser Systeme hat es vor allem zu funktionieren und dem Ganzen zu dienen, eine Form der Unterwerfung unter ein Kollektiv, die wir ablehnen, die uns aber durch die Hintertür einholt, wenn diese Unterwerfung über den Weg des Kapitalismus in unsere eigene Lebensweise Einzug hält. Da findet man dann Fragen wie die, ob es sich denn lohnt Opa noch eine neue Hüfte einzubauen oder für Oma die Herz Operation mit 82 oder ob die Erforschung seltener Krankheiten wirtschaftlich Sinn macht auf einmal ganz vernünftig.
Man hat sich in dem Moment dem Primat der Wirtschaftlichkeit unterworfen und von den Werten der Aufklärung und des Christentums weit entfernt. Wofür stehen wir noch mal? Wir, der Westen?
Wie ernst nehmen wir unsere eigenen Werten?
Die zynische Kritik am Westen lautet, dass eben überall gelogen und zudem überall das Individuum unterworfen wird. Dass diejenigen, die das sogar offen formulieren im Grunde die ehrlicheren sind, während der Westen so tut, als ob, aber durch eine Doppelmoral immer wieder seine eigenen Werte unterläuft, zugleich aber bei anderen anprangert, was er selbst nicht leistet.
Menschen, denen die Werte des Westens nicht länger ein Vor- sondern eher ein Feindbild sind und vermutlich mehr noch jene Menschen, denen diese Werte einfach egal geworden sind oder die sich nie mit ihnen auseinandergesetzt haben, finden sich nicht nur außerhalb der westlichen Wertehemisphäre, dort ist es ja noch zu verstehen, sondern auch innerhalb des Westens selbst.
Auch hier ist es zu verstehen, weil wir mit diesen Werten im Grunde nicht mehr viel verbinden, außer einer geschönten und oberflächlichen Version, vor allem von dem, was man nicht tun sollte. Eine Form der stillen Anpassung, kompensiert dadurch, dass das Leben einfach war, der Fortschritt auf allen Ebenen schien ein endloses Programm zu sein. Dem Mittelstand ging es soweit bestens, was an Problemen am Horizont sichtbar war, würde durch den Fortschritt an Wissenschaft und Technik eingeholt und ausgebessert, eine sorglos verspielte Zeit.
Die Fähigkeit zum Aufbau tiefer Beziehungen wird im Kapitalismus erheblich erschwert, einfach dadurch, dass Eltern ihre Kinder immer seltener sehen und ihre privilegierte Stellung einbüßen. Doch mir scheint der Kapitalismus selbst nur eine Spielart eines zu einem reinen Funktionalismus eingekürzten Naturalismus zu sein, das ist die Philosophie hinter der Wissenschaft, insbesondere der Naturwissenschaft. War die Aufklärung noch breit angelegt, so ging seine Einkürzung in eine Form der Anpassung über, in der der Fortschritt selbst zum Programm wurde, es musste weiter gehen, denn der Fortschritt hatte uns dahin gebracht, wo wir waren.
Moral oder ein inneres Wertesystem, inklusive einer Hierarchie der Werte, Sinn im Leben, sowie tiefe Beziehungen sind die Eckpfeiler des Glücks, für manche ist es darüber hinaus noch einer Form der Religion oder Spiritualität.
Es ist nicht immer so, dass das eigene Leben zwingend zu einer Erfolgsgeschichte wird, wenn man viel vor die Füße gelegt bekommt und früh begann der Westen die Suche danach, die Verantwortung für das eigene Leben wieder los zu werden und auf andere zu projizieren. Auf die herzlosen Eltern. Die Bücher von Alice Miller waren ein Renner, denn nun gab es nichts mehr, was Eltern richtig machen konnten, die Schuldigen waren gefunden.
Das allgemeine Interesse an Psychologie, aber auch an ostasiatischer Spiritualität, die zusammen mit den Ausläufern des Hippietums und der Welle einer sexuellen Befreiung langsam in eine westliche Esoterik überging, wuchs, aber aus all den Angeboten, die durchwachsen waren, wurden vor allem jene herausgesucht, die den eigenen Narzissmus befriedigten, paradoxerweise auch oft im Namen des Versuchs der Ich-Überwindung oder Selbsttranszendenz. Die Eltern, Krankheiten, der Kapitalismus, die Werbung, das Gehirn oder die moderne Überwachungstechnik, die Gründe gingen mit der Zeit.
Dabei macht man es sich zu leicht, wenn man der Generation einfach Versagen vorwirft. Die Kämpfe waren großenteils von der Elterngeneration gekämpft, der Ball lag auf dem Elfmeterpunkt, der Torwart war nicht im Tor, dann lebt mal schön, werdet erfolgreich und glücklich. Die Kinder dieser Generation hatten die Projektion der Eltern im Nacken, die sich noch krumm legen mussten, aber sie hatten keine Vorbilder in Sachen Selbstverwirklichung oder gar Selbsttranszendenz. Heute wissen wir, dass Traumatisierungen der Elterngeneration an Kinder und Enkel weiter gegeben werden, damals lag da einfach nur der Ball und alle warteten auf den Treffer.
Die freundlichen Kinder haben sich immerhin auf die Suche gemacht und diverse Praktiken ausprobiert, inmitten des Multikulturalismus und Pluralismus sind sie immer sensibler oder narzisstischer geworden, ihr Glück haben sie nicht oft gefunden und die Werte des Westens häufig verloren.