Die Integrationskraft der Wirtschaft

Kapitalismuskritische Begriffe an Hausfassade

Vermutlich ist an der Kritik etwas dran und vermutlich liegen die Wurzeln des Problems noch tiefer. © Julia Seeliger under cc

Die Wirtschaft hat dann eine hohe Integrationskraft, wenn sie menschliche Arbeitskräfte braucht. Da ist man in aller Regel liberal, es geht nicht um Fragen von Mann und Frau, Herkunft, religiöser oder sexueller Orientierung, es sei denn, etwas ist für den Berufsbereich relevant, es wird oft jeder genommen, der die Tätigkeit gut genug ausführen kann.

In kleineren Betrieben sucht man sich durchaus Menschen, die zum Team passen, je größer der Konzern, umso eher nimmt man jeden, solange er gut genug funktioniert. Auf der einen Seite kann das wirklich zu Annäherungen, Freundschaften und der Integration unterschiedlicher Menschen führen, aber eben auch dazu, dass es zu einer Konkurrenzsituation im Niedriglohnsektor kommt, die Löhne immer mehr gedrückt und die Arbeitsbedingungen unzumutbarer werden und wo das nicht gelingt, weil sich Gewerkschaften organisieren oder die Rahmenbedingungen zumindest offiziell dagegen sprechen, verlagert man die Produktion ins Ausland, wenn es sich für die Firmen oder Konzerne rechnet.

Ein normaler Vorgang, mit Chancen auf Arbeit für viele oder organisierte Ausbeutung? Ein flexibles, sich selbst steuerndes System, dessen Anpassungsfähigkeit man bewundern muss. In dem System muss sich allerdings auch der Mensch anpassen. Man hat zu funktionieren, der nächste wartet schon. So wurde es bis eben noch suggeriert, notfalls war man wieder mit der Drohung zur Hand, im Ausland zu produzieren.

Hocheffizient und eine logistische Meisterleistung, wenn man sieht, wo die Bauteile für eine just in time Produktion, die kaum noch Lager braucht, weil eben alles auf den Punkt dort ankommt, wo es gebraucht wird, pünktlich zusammen kommen. Inklusive mancher Ausweichwege, sollten sich Probleme ergeben. Das funktioniert so lange, bis es nicht mehr funktioniert und die Lieferketten mit einem Mal zusammenbrechen. Egal, ob es für ein Auto dann mit einem Mal keine Reifen oder Chips für die Steuerung gibt, man muss genau auf diese Teile warten und dann steht alles still.

Oder die Produktion vom Medikamenten bricht für einige Zeit ganz zusammen. Hat man noch Lagerbestände, etwa für Apotheken, kann man auf sie zurückgreifen, aber irgendwann sind diese auch leer. Mal eben schnell die Produktion ins eigene Land zu holen klappt nicht, da man weder über die Arbeitskräfte, noch Produktionsbedingungen verfügt. Es existieren Sicherheitssysteme, indem man sich nicht auf eine Quelle verlässt, aber wir haben erlebt, dass das, womit keiner rechnete, dann doch eintreten kann.

Seuchen, Kriege oder dramatisch veränderte Rohstoffpreise oder -knappheiten und alles sieht mit einem Mal anders aus, wir erleben gerade, dass das, was sich niemand vorstellen konnte oder wollte unser neuer Begleiter im Alltag ist. Der Mensch ist evolutionär so erfolgreich, weil er extrem anpassungsfähig und in der Lage ist zu kooperieren – erstaunlicherweise in Krisen besser, als wenn es gut läuft – aber dabei fällt oft die Frage flach, ob man sich bestimmten Bedingungen überhaupt anpassen sollte.

Die Werte der Aufklärung und was von ihnen geblieben ist

Wenn wir im Westen mit den Werten des Christentums, das selbst ein Amalgam verschiedener Quellen ist, immer weniger anzufangen wissen, so ist dies eines, auf der anderen Seite können wir aber auch mit den Werten der Aufklärung, der anderen zentralen Traditionslinie des Westens immer weniger anfangen.

Viele Pluralisten wollen die Diskussion über ein Miteinander wieder aus den Niederungen eines schnöden Funktionalismus‘, bei dem es um Anpassung geht, auf die Ebene der Werte der Aufklärung heben und das völlig zurecht. Es kann nicht nur darum gehen durchzukommen und brav zu funktionieren, sondern um die Aspekte, die unser Leben eigentlich lebenswert machen: Fragen nach Würde, Freiheit, Gerechtigkeit und Selbstbestimmung.

Manche Pluralisten vergessen dabei allerdings, dass diese höheren, komplexeren Fragen, Werte und Bedürfnisse auf den Schulter basaler Werte und Bedürfnisse stehen, die erst einmal erfüllt sein müssen. Wenn man friert und hungert, auch bei uns wieder ein Thema, oder demnächst auch hier das Wasser knapper wird, stellen sich Fragen nach optimaler Selbstentfaltung erst gar nicht. Welche Bedürfnisse wirklich basal sind, darüber kann man streiten, aber die narzisstische Angst davor, dass die eigene Komfortzone Kratzer bekommen könnte, ist dann nicht mehr die angemessene Verhaltensweise, sie ist tatsächlich dysfunktional.

Mit anderen Worten, die Lebensweise des Westens ist nur dann möglich, wenn die basalen und höheren Bedürfnisse, Entwicklungsstufen[link] oder wie immer man es nennen möchte ineinander greifen. Das dies nicht immer der Fall ist, sieht man bei der Linken an dem Diskussionen zwischen der Lifestyle- und ihrer Basisversion.

Es geht aber weniger darum, sich auf eine Seite zu schlagen, die wichtige Erkenntnis ist, dass die ganze Spirale der Entwicklung wichtig ist, jede einzelne Stufe. Sie alle müssen kontinuierlich gepflegt werden. Die Schwäche des Pluralismus ist oft, sich auf die höheren Stufen zu fokussieren und zugleich aber die Existenz von höheren und niederen Stufen (und allgemein Hierarchien) ideologisch abzulehnen, was eine besonders ironische Note ist und zu mitunter seltsamen Diskussionen führt.

Genau dieser eine Schritt, die Fähigkeit und Bereitschaft die Existenz von Hierarchien anzuerkennen, zusammen mit der Fähigkeit und Bereitschaft alle Stufen dieser Treppe als prinzipiell notwendig und in diesem Sinne gleichberechtigt anzusehen – der den meisten Pluralisten misslingt –, zugleich die unteren oder basalen Stufen ebenfalls nicht als die eigentlich wahren verabsolutieren, ist der hin zum integralen Denken, das diese Elemente zusammen bekommt.

Die Erfindung des Individuums

In gewisser Weise ist die Ausdifferenzierung des Individuums einzigartig für den Westen. Der Individualismus hat heute einen schlechten Klang, weil er sogleich mit Hyperindividualismus, Egoismus und Narzissmus verwechselt wird. Doch auch hier wird nicht zwischen den höheren und niederen Stufen unterschieden, wir haben dies in Stufen der Moralentwicklung dargestellt.

In der postkonventionellen Version ist das Individuum nicht zwanghaft gegen die Gesellschaft eingestellt und empfindet auch nicht jede Regel als persönliche Kränkung. Dies wären eher Anzeichen für eine narzisstische Regression, die wir sicher in den letzten Jahrzehnten in größerem Ausmaß erlebt haben.

Doch in der reifen Variante bedeutet die schrittweise Stärkung des Individuums, das, anders als man es glauben sollte in wesentlichen Aspekten vom Christentum in einem zähen Ringen durchgesetzt wurde, eben jene Werte, die dann in der Aufklärung ausformuliert wurde, in Leben zu verwandeln. Dazu zählt die Bedeutung und der Respekt von jedem Individuum, das neben Pflichten auch Rechte und Freiheiten genießt.

Dazu zählt, dass wir jedes Leben als lebenswert ansehen und eben nicht abgezählt wird und der vermeintlich geringere Schaden oder größere Nutzen rein über die Zahl ermittelt wird. Ein wesentlicher Grund dafür ist, dass es kein Kriterium für den Grad an Leid oder Freude gibt, eben weil die Menschen verschieden sind, verschiedene Bedürfnisse haben und das worunter die eine leidet, dem anderen Freude bereiten kann.

In anderen Systemen, die die westliche Sichtweise ablehnen wird der Wert des Individuums anders gesehen. In vielen dieser Systeme hat es vor allem zu funktionieren und dem Ganzen zu dienen, eine Form der Unterwerfung unter ein Kollektiv, die wir ablehnen, die uns aber durch die Hintertür einholt, wenn diese Unterwerfung über den Weg des Kapitalismus in unsere eigene Lebensweise Einzug hält. Da findet man dann Fragen wie die, ob es sich denn lohnt Opa noch eine neue Hüfte einzubauen oder für Oma die Herz Operation mit 82 oder ob die Erforschung seltener Krankheiten wirtschaftlich Sinn macht auf einmal ganz vernünftig.

Man hat sich in dem Moment dem Primat der Wirtschaftlichkeit unterworfen und von den Werten der Aufklärung und des Christentums weit entfernt. Wofür stehen wir noch mal? Wir, der Westen?

Wie ernst nehmen wir unsere eigenen Werten?

Die zynische Kritik am Westen lautet, dass eben überall gelogen und zudem überall das Individuum unterworfen wird. Dass diejenigen, die das sogar offen formulieren im Grunde die ehrlicheren sind, während der Westen so tut, als ob, aber durch eine Doppelmoral immer wieder seine eigenen Werte unterläuft, zugleich aber bei anderen anprangert, was er selbst nicht leistet.

Menschen, denen die Werte des Westens nicht länger ein Vor- sondern eher ein Feindbild sind und vermutlich mehr noch jene Menschen, denen diese Werte einfach egal geworden sind oder die sich nie mit ihnen auseinandergesetzt haben, finden sich nicht nur außerhalb der westlichen Wertehemisphäre, dort ist es ja noch zu verstehen, sondern auch innerhalb des Westens selbst.

Auch hier ist es zu verstehen, weil wir mit diesen Werten im Grunde nicht mehr viel verbinden, außer einer geschönten und oberflächlichen Version, vor allem von dem, was man nicht tun sollte. Eine Form der stillen Anpassung, kompensiert dadurch, dass das Leben einfach war, der Fortschritt auf allen Ebenen schien ein endloses Programm zu sein. Dem Mittelstand ging es soweit bestens, was an Problemen am Horizont sichtbar war, würde durch den Fortschritt an Wissenschaft und Technik eingeholt und ausgebessert, eine sorglos verspielte Zeit.

Die Fähigkeit zum Aufbau tiefer Beziehungen wird im Kapitalismus erheblich erschwert, einfach dadurch, dass Eltern ihre Kinder immer seltener sehen und ihre privilegierte Stellung einbüßen. Doch mir scheint der Kapitalismus selbst nur eine Spielart eines zu einem reinen Funktionalismus eingekürzten Naturalismus zu sein, das ist die Philosophie hinter der Wissenschaft, insbesondere der Naturwissenschaft. War die Aufklärung noch breit angelegt, so ging seine Einkürzung in eine Form der Anpassung über, in der der Fortschritt selbst zum Programm wurde, es musste weiter gehen, denn der Fortschritt hatte uns dahin gebracht, wo wir waren.

Moral oder ein inneres Wertesystem, inklusive einer Hierarchie der Werte, Sinn im Leben, sowie tiefe Beziehungen sind die Eckpfeiler des Glücks, für manche ist es darüber hinaus noch einer Form der Religion oder Spiritualität.

Es ist nicht immer so, dass das eigene Leben zwingend zu einer Erfolgsgeschichte wird, wenn man viel vor die Füße gelegt bekommt und früh begann der Westen die Suche danach, die Verantwortung für das eigene Leben wieder los zu werden und auf andere zu projizieren. Auf die herzlosen Eltern. Die Bücher von Alice Miller waren ein Renner, denn nun gab es nichts mehr, was Eltern richtig machen konnten, die Schuldigen waren gefunden.

Das allgemeine Interesse an Psychologie, aber auch an ostasiatischer Spiritualität, die zusammen mit den Ausläufern des Hippietums und der Welle einer sexuellen Befreiung langsam in eine westliche Esoterik überging, wuchs, aber aus all den Angeboten, die durchwachsen waren, wurden vor allem jene herausgesucht, die den eigenen Narzissmus befriedigten, paradoxerweise auch oft im Namen des Versuchs der Ich-Überwindung oder Selbsttranszendenz. Die Eltern, Krankheiten, der Kapitalismus, die Werbung, das Gehirn oder die moderne Überwachungstechnik, die Gründe gingen mit der Zeit.

Dabei macht man es sich zu leicht, wenn man der Generation einfach Versagen vorwirft. Die Kämpfe waren großenteils von der Elterngeneration gekämpft, der Ball lag auf dem Elfmeterpunkt, der Torwart war nicht im Tor, dann lebt mal schön, werdet erfolgreich und glücklich. Die Kinder dieser Generation hatten die Projektion der Eltern im Nacken, die sich noch krumm legen mussten, aber sie hatten keine Vorbilder in Sachen Selbstverwirklichung oder gar Selbsttranszendenz. Heute wissen wir, dass Traumatisierungen der Elterngeneration an Kinder und Enkel weiter gegeben werden, damals lag da einfach nur der Ball und alle warteten auf den Treffer.

Die freundlichen Kinder haben sich immerhin auf die Suche gemacht und diverse Praktiken ausprobiert, inmitten des Multikulturalismus und Pluralismus sind sie immer sensibler oder narzisstischer geworden, ihr Glück haben sie nicht oft gefunden und die Werte des Westens häufig verloren.