Aktive und passive Nutzung des Vergessens

Viele Teile unseres Gehirns werden immer wieder überschrieben und dafür muss Altes gelöscht oder vergessen sein. © Howard Duncan under cc
Ein großer Teil unseres Vergessens, etwa der Sockenfarbe von vor einer Woche, die Namen der Mitschüler der Oberstufe von vor 20 Jahren geschieht unbewusst, doch Prof. Monyer bringt Thomas Mann als ein alternatives Beispiel. Für Die Roman-Trilogie Joseph und seine Brüder muss der ohnehin akribische Autor Unmengen recherchiert haben.
Nach einer Arbeit von insgesamt 16 Jahren hatte Mann, nach eigenen Angaben, wenige Wochen nach deren Abschluss fast alles vergessen. Wie ist so etwas möglich? Er brauchte es nicht mehr. Die Arbeit am Werk war beendet, es war nicht mehr nötig sich etwas darüber zu merken. Etwas, was man bei kreativ arbeitenden Menschen häufiger findet, so Monyer. Für kreative und offene oder neugierige Menschen ist es nicht wichtig, sich immer wieder zu erinnern und sich bestimmte Muster wieder und wieder zu bestätigen. Für sie ist es wichtig Neues zu suchen und zu finden, während es für andere Menschen oft bedeutender, zu wissen, dass die wesentlichen Punkte in ihrem Leben nach wie vor wesentlich sind.
Ist das Neue Routine, ist es für neugierige Menschen unwichtig geworden, ebenso für Künstler, die sich bereits auf ein anderes Werk konzentrieren und denen es nichts bringt den Roman oder den Song von vor drei Jahren noch genau zu erinnern. Dadurch dass man aber immer in dem Metier aktiv bleibt, ob man Geige spielt, Straßen baut, kranke Menschen pflegt oder philosophiert, vervollkommnen sich diese Fähigkeiten natürlich immer mehr, die 1000fach benutzten inneren Wege werden immer einfacher zu beschreiten, man wird bei ihrer Benutzung immer geschickter und kompetenter.
Manchmal gelangt man auch im Erwachsenenalter auf eine Ebene, in der die Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Bereichen, denen man sich im Leben zugewendet hat immer klarer erscheinen. Alles passt auf wunderbare Weise ineinander, die roten Fäden des Lebens schimmern durch, nichts, was passierte schien umsonst zu sein, ein magischer Moment. Doch auch hierzu gibt es eine alternative Erzählung: ‚Das Gehirn‘ stellt sich im Laufe des Lebens eine kohärente, also in sich stimmige Erzählung zusammen, die uns suggeriert, in Übereinstimmung mit unseren eigenen Ansichten und Werten zu leben.
Welche Sicht stimmt? Wir wissen es nicht. Man kann feststellen, dass das Gehirn sich radikal an Situationen anpassen kann, das verstärkt und vertieft, was gebraucht wird und das radikal vergisst, was nicht gebraucht wird und doch gibt es einen lebensbiografischen Kern, der erhalten bleibt, die paar wirklich wichtigen Ereignisse unseres Lebens. Evolutionsbiologisch ergibt das keinen großen Sinn und auch man sich das irgendwie zurecht biegen kann, findet man zugleich ein Dutzend anderer Geschichten oder Deutungen, die ebenso plausibel sind, wie die biologischen.
Normales und pathologisches Vergessen
Was wir heute erinnern, haben wir in vielen Fällen morgen bereits vergessen. Selbst wenn wir etwas auswendig lernen, ist es so, dass wir das Erlernte öfter wiederholen müssen, damit die Eindrücke haften bleiben. Wo wir das nicht tun und kein Sinngehalt vorhanden ist sind bis zu 80% dessen, was wir auswendig gelernt haben nach 6 Tagen weg. Ausnahmen sind Eindrücke unter der Beteiligung extrem starker Emotionen oder bewusst öfter Wiederholtes wie Vokabeln, bestimmte Fingersätze auf einem Musikinstrument, Gedichte, Gedanken oder Bewegungsabläufe. Wir erinnern uns in jungen Jahren besser, als im Alter, aber bereits zwischen Menschen die 20 und jenen die 30 sind, sieht man deutliche Unterschiede, doch dieser Erinnerungsverlust ist physiologisch oder normal.
Es gibt aber auch Arten des Vergessens, die wir pathologisch nennen. Am prominentesten die Formen der Demenz, hier die Alzheimer Demenz, bei der wir schleichend vergessen, wer wir und andere sind, ebenfalls sehr bekannt der Schlaganfall, bei dem wir, je nach Art, Grad und Lokalisation im Gehirn von einem Tag auf den anderen basale Fähigkeiten der Bewegung, der Sprache und/oder Erinnerung verlieren können.
Dann gibt es Formen des Vergessens, die wir einerseits eher psychopathologisch nennen würden, auf der anderen Seite sind es geniale Mechanismen. Gemeint sind die Abspaltungen von unerträglichen traumatischen Ereignissen, manchmal noch während sie passieren, das würden wir Dissoziation nennen oder ein nachträgliches Vergessen von einmaligen oder chronisch traumatischen Erfahrungen, die dann für den Betroffenen ganz einfach weg sind. Sich an ein sehr gravierendes Ereignis nicht mehr erinnern zu können ist natürlich einerseits unnormal, insofern vielleicht pathologisch zu nennen, doch auf der anderen Seite ein genialer Mechanismus, damit das Leben nach einem solchen zerstörerischen Erlebnis überhaupt weitergehen kann. Das wiederum ist schwer pathologisch zu nennen.
Es gibt weltweit wenige Fälle von Menschen, die nicht vergessen können. Ihre Erinnerungsvermögen ist mitunter hoch erstaunlich, doch in allen Fällen mit schweren Pathologien, in der Regel Zwängen verbunden.
Warum das Vergessen so wichtig ist und Pforten zu anderen Welten
Wir müssen vergessen um Platz für das zu haben, was hier und heute wichtig für uns ist. Das ist abhängig von unserem biologischen, kulturellen und familiären Erbe, sowie aktuellen Anforderungen, etwa durch Partnerschaft, Beruf, gesellschaftliche oder schicksalhafte Veränderungen, wie ein Trauma oder Lottogewinn, Alter und unsere Reflexion über all das Genannte.
Es ist einerseits erstaunlich, in welchem Maße unsere Psyche und das Gehirn anpassungsfähig sind. Auf der anderen Seite wird uns durch die Wiederholung von Praktiken, Prinzipien und Gedankengängen in den verschiedensten Lebensbereichen die Möglichkeit dargeboten in immer tiefere Tiefen und letztlich eigene Welten abzutauchen. Ob nun die Psyche ein Teil des Gehirns oder das Gehirn ein Teil des Ich oder der Psyche ist oder ob beide zusammen aufeinander einwirken ist eine komplizierte Frage, die nicht beantwortet ist.
Gehirn und Psyche scheinen einerseits radikal subjektiv zu sein. Doch die Möglichkeit des immer tieferen Eintauchens in bestimmte Lebensbereiche ist faszinierend. Man betritt eine eigene Welt, innerhalb der subjektiven Psyche. Zugleich stößt man im Inneren auf allgemeine Prinzipien, etwa der Logik, die dann auch für andere Menschen verbindlich zu sein scheint. Eine Frage vom Verhältnis von persönlicher Innenwelt und kollektiveren Umwelten, die wir längst nicht durchdrungen haben.
Das Vergessen räumt den Weg frei, damit wir uns auf das konzentrieren können, was uns gerade wichtig ist. Wenn wir uns langsam mit dem Vergessen anfreunden können und es nicht mehr als Fehlleistung oder Bedrohung sehen, können wir mit den Formen des alltäglichen und pathologischen Vergessens allmählich anders umgehen.
Quellen:
- [1] Unser Gedächtnis als Zukunftsorgan – Hannah Monyer, WDR 5 Neugier genügt – Redezeit. 27.09.2022, https://www1.wdr.de/radio/wdr5/sendungen/neugier-genuegt/redezeit-Hannah-Monyer-100.html
- [2] Erinnern & Vergessen: Wie funktioniert das Gedächtnis, Hannah Monyer? | Erzähl mir was neues, 11.5.2022, 11:51 Uhr, https://www.swr.de/swr1/swr1leute/erinnern-vergessen-wie-funktioniert-das-gedaechtnis-hannah-monyer-erzaehl-mir-was-neues-100.html