Die langfristigen Big Points
Wenn man Zentren von Kraft und Ruhe in sich selbst finden und anlegen will dann kristallisieren sich immer mehr drei bis vier große Punkte heraus:
- Tiefe Beziehungen: Die Bedeutung von Beziehungen kann man nicht überschätzen und damit sind Beziehungen im weitesten Sinne gemeint. Zu Menschen, die uns sehr unterschiedlich nah und fern sein können, Tieren, der Natur, aber auch der Menschheit oder dem Sein in Gänze.
- Sinn: Mehr und mehr, wohl auch durch den erlebten Verlust, zeichnet sich ab, wie wichtig es ist, einen Sinn im Leben zu sehen, zu haben. Etwas, wofür man morgens aufsteht, etwas, wie einen Stern am Himmel, der einem Orientierung gibt. Das kann ganz bieder aber auch völlig exzentrisch sein.
- Werte und Moral: Ein inneres Wertesystem hilft einem Wichtiges und weniger Wichtiges im Leben zu unterscheiden, auch das ist eine Form der Orientierung und Hierarchisierung.
- Spiritualität: Spiritualität kann ein enormer Faktor für Kraft und Ruhe im Leben sein, aber er ist selten und viele Menschen können ein glückliches und erfülltes Leben führen, ohne irgendwelche spirituellen Ambitionen.
Zentren von Kraft und Ruhe im Alltag aufbauen
Die Pflege der Innenwelt ist vielleicht einer der aktuell wichtigsten, weil gesellschaftlich stark vernachlässigten Punkte der letzten Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte. So gut wie alles, auch vieles von dem was mit Innerlichkeit zu tun hat, muss heute über äußere Wege erklärt werden.
Ein Slogan wie Biedermeier und Buddhismus hat daher den tieferen Hintergrund, sich wieder mehr der Pflege der Privatheit, der Persönlichkeit und auch der Innerlichkeit zuzuwenden, in einer Zeit in der ständig dazu aufgerufen wird, dass alles öffentlich und politisch zu sein habe. Erstens, finde ich die Politik mit dem Blick auf Problemlösungen insgesamt unüberzeugend, zweitens, ist Politik häufig eine riesige Projektionsorgie und in meinen Augen ist es nach wie vor richtig, Projektionen zurück zu nehmen, wo immer man sie erkennt, das ist anspruchsvoll genug.
Wer sich liebevoll der eigenen Familie, seiner Persönlichkeitsentwicklung, nicht im Hinblick auf Karriereoptionen, sondern um ein glücklicher und angenehmer Mensch zu werden, zuwendet, der zeigt ja nicht automatisch der Gesellschaft die rote Karte. Im Gegenteil, er zieht nur eine Grenze und pocht außerdem noch auf Privatheit. Beides wichtige Kraftquellen.
Damit dies kein Egotrip wird, sind buddhistische Ansätze der Überwindung des Egozentrismus eine schöne Ergänzung, die jedoch den Nachteil haben können, dass man diesen Weg zu Anfang ebenfalls aus eher unbewussten egozentrischen Gründen geht, etwas, was sich später aber in der Regel klärt.
Beziehungen kann man üben, wenn es zu Menschen nicht klappt, kann es mit Tieren klappen, aber auch zur Natur und zu Pflanzen kann man emotionale Beziehungen aufbauen. Man fängt einfach dort an, wo es möglich ist und stabilisiert sich auf dieser Ebene, ohne große Hast oder Ambitionen.
In dem wunderschönen Buch Vom Wachsen und Werden von Sue Stuart-Smith, beschreibt die Autorin, wie man durch die Arbeit mit Pflanzen und Erde auch erleben kann, wie man zum ersten Mal in seinem Leben Erfolge haben kann. Ich habe die Samen in die Erde gesteckt und es ist etwas draus geworden. Manchen Menschen ist das noch nicht passiert, dass sie irgendwas hervorgebracht haben oder dazu beigetragen haben, dass etwas erscheint, was von Wert ist. Und wenn es nur Radieschen sind.
Wenn Menschen das erstmalig erleben, haben sie nicht nur Erfolge und können nicht nur lernen, sich diese immer wieder zu gönnen, mit der Schaffung von etwas Wertvollem tritt auch Sinn und Wert in ihr Leben. Nicht als abstraktes Konstrukt, vielleicht zu Anfang nicht mal bewusst, aber der Keim ist da. Es ist ja doch nicht alles nutzlos.
Der Buddhismus hat obendrein noch den Vorteil mit der Meditation noch eine Quelle von Kraft und Ruhe als Praxis im Angebot zu haben. Nicht beim ersten Mal, aber mit jedem mal ein wenig mehr. Wie bei Erfolgen, die man sich gönnt, wie bei Freundschaften, die weiter laufen, wie mit Verschmelzungserfahrungen dieser und jener Art.
Selbstlosigkeit – Die entscheidende Wende
Zentren von Kraft und Ruhe in sich selbst finden und anlegen, das ist ein Wunsch, den man hat, wenn es einem nicht gut geht. Wenn man leidet, sucht man Ruhe, Flucht, die Auszeit, meidet man das, was einen stresst. Man sucht eine Kraftquelle, die einen das alles durchstehen lässt. Auch beim emotionalen Konto sollte man breit streuen, mehrere Wurzeln haben, auch kurzfristige, mittlere und lange kombinieren, aber in vielen Fällen ist eine Paradoxie unvermeidlich.
Was immer man tut, um Kraft und Ruhe zu gewinnen und zu vergrößern, tut man aus egoistischen Motiven. Mir geht es ja schlecht. Ich halte das alles nicht mehr aus und suche nach einer Kraftquelle, um durchzuhalten. Völlig okay, Rat und Hilfe zu suchen. Nur, in den meisten Fällen wird man dann Dinge tun und Neues versuchen, damit es einem besser geht, was durchaus klappt, aber nur bis zu einem gewissen Punkt.
Denn ironischer Weise ist es so, dass, wenn man nun versucht, alles was super ist zu kombinieren und zu optimieren, die Sache erneut schief geht. Weil das Ego meint die Strippen ziehen zu können und echte Entspannung, Ruhe und Kraft gibt es erst, wenn man emotionale Energie in etwas investiert, was den Kontrollwillen des Ego überragt. Etwas, in das man sich bereitwillig einfügt, ohne den Einruck zu haben, dass man sich etwas verkneift. Man gibt viel, manchmal alles von sich und verliert doch nichts, weil man in diesen Momenten ganz präsent, begeistert und wach ist.
Man hat seinen Platz im Leben gefunden, ist bei sich angekommen und das ist eine Quelle, die nie versiegt. Ob man meint durch Probieren, Überlegen, Erfahrung und Reflexion zu sich gefunden oder einem göttlichen oder kosmischen Plan gefolgt zu sein, ist dabei schon eher nebensächlich. Der narzisstische Masterplan funktioniert nicht. Bei der Selbstlosigkeit verfolgt man kein eigennütziges Ziel mehr, das ist der Moment, auf den es ankommt und der wirklich befreiend ist.
Das heißt nicht, dass es einem nicht gut gehen darf, auch Genuss gehört zum Leben dazu, nur verlaufen Optimierungsprojekte des Lebens in der Regel nicht so, dass man von einem Höhepunkt zum nächsten Erfolg springt, sondern so, dass die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit immer größer wird und man braucht oft lange, um sich da einzugestehen. Das heißt nicht, dass man keine Probleme hat, Krisen erlebt oder verärgert ist, aber wenn man diese Wende vollzogen hat, hat man die Zentren von Kraft und Ruhe in sich selbst gefunden, in dem man sich in den Dienst stellt, los lässt und sich auf eine nicht naive Art treiben lässt. Es kann gelingen, sich mit dem Wandel oder der Veränderung zu identifizieren.