In der neuen ICD-11, dem internationalen Klassifikationssystem für psychiatrische Erkrankungen, existiert die Diagnose Narzisstische Persönlichkeitsstörung nicht mehr. Nach dem hier zu diesem Thema veröffentlichten Artikel zeigten sich einige Menschen fassungslos, zum Beispiel: „Aber ich habe doch in einer Beziehung mit einem Narzissten gelebt. Er hat mich bloßgestellt, belogen, beleidigt und betrogen. Mein Partner ist ein Narzisst! Und das soll jetzt nicht mehr wahr sein?“ Doch. Deine Erfahrungen sind nach wie vor wahr. Niemand spricht dir dein Erleben in einer toxischen Beziehung mit einem narzisstischen Menschen ab. Im Gegenteil, diese Thematik rückt weiter in das öffentliche Bewusstsein vor und das ist auch gut so. Was sich lediglich geändert hat, ist die diagnostische Sichtweise auf einen narzisstisch geprägten Charakter.

Psychiatrie ist im Wandel

Psychiatrie ist wie die Psychologie und Medizin eine Wissenschaft und damit stets im Wandel. Weil beständig ein Abgleich mit den klinischen Studien, den geschilderten Erfahrungen der Menschen in ihrem Lebensumfeld und den Beobachtungen der praktizierenden Psychologen, Psychiater und Therapeuten erfolgt. Wissenschaft ist nichts endgültiges, keine endgültige Wahrheit. In der Wissenschaft bemühen wir uns darum, uns der Wahrheit anzunähern. Wissenschaftler folgen einem ethischen Codex, sie sollten es zumindest tun. Man verpflichtet sich dazu, zum Wohle der Wissenschaft und der bestmöglichen Annäherung an „die Wahrheit“ die eigene Persönlichkeit hintenanzustellen, offen zu sein für andere Meinungen und in Demut seinen Beitrag zu leisten.

Und so ist auch die derzeitige Auffassung in der ICD-11 eine wissenschaftliche Momentaufnahme, die sich an dem derzeitigen Wissenstand orientiert.

Weg vom Täter-Opfer-Status?

Kind mit Zopf und die Hand eines Erwachsenen

Menschen aus dysfunktionalen Familien erkennen oft zunächst nicht, was ihnen in einer toxischen Partnerschaft an Negativem widerfährt. Weil sie es schlichtweg nicht anders gewohnt sind. © Christoph Scholz under cc

Eine Partnerschaft ist eine Dyade, eine intensive soziale Beziehung zweier Beteiligter. Beide Partner bringen ihre Erfahrungen, Ansichten und Prägungen aus der Kindheit mit ein. Beide Partner tragen Verantwortung für ihr Verhalten. Viele Experten im Bereich der Psychologie sind der Meinung, man müsse innerhalb einer Partnerschaft mehr von der Täter-Opfer-Zuweisung weg. (Das gilt sicher nicht bei der Dyade zwischen Eltern und einem schutzbedürftigen Kind! Und es gilt umso weniger, wenn Einschüchterung, Bedrohung und Gewalt in einer Partnerschaft eine Rolle spielen.)

Ansonsten und im Allgemeinen geht das Verständnis von einer ungleichen Partnerschaft bei vielen Therapeuten hin zu mehr Eigenverantwortung. Weg von der einseitigen Schuldzuweisung. Hin zu mehr persönlicher Abgrenzung, sobald das gezeigte Verhalten einem nicht guttut. Da ist etwas Wahres dran. Es ist die Aufgabe eines Therapeuten, das systemische Gebilde zu betrachten. Ein Gefühl der Kontrolle über das eigene Leben, Grenzziehung und Eigenverantwortung sind entscheidend für den Prozess der Aufrichtung und Heilung.

Die Phase des Aufbäumens

Wie bei nahezu jedem gesellschaftlichen Phänomen kommt es zunächst zu einem „Aufschrei“ (der überaus wichtig und positiv gemeint ist). Sobald ein neues Plateau in den Ansichten der Menschen und ihrem Werteverständnis erreicht ist, folgen Ruhe und Ebnung. Das kann jedoch erst geschehen, wenn das Phänomen nicht mehr Gefahr läuft, vergessen zu werden. Wenn es so gefestigt in den Köpfen etabliert ist, dass es zu einer gesellschaftlichen Änderung kommt, zu einem nachhaltigen Wandel im Verständnis von dem, was eine gesunde Beziehung ausmacht. Nur durch das immer wieder Aufzeigen von einer toxischen Beziehung lässt sich die Generationslast durchbrechen und wir alle können es zukünftig im Umgang mit unseren eigenen Kindern besser machen.

Derzeit befinden wir uns in einer Phase des Aufbäumens. Sie ist essenziell, um die nötige Aufmerksamkeit auf das Thema des Missbrauchs in Dyaden, die eigentlich vertrauensvoll sein sollten, zu lenken. Um das Phänomen einer krankmachenden und zu Fehlprägungen führenden Konstellation (zwischen Partnern, Eltern und Kindern etc.) aus der dunklen Ecke hervorzuholen und aufzuzeigen.

Die Sicht der Betroffenen

Tatsache ist: In viel zu vielen Beziehungen existiert ein Ungleichgewicht zwischen den Beteiligten. Wir haben es mit sexuellem, körperlichem und emotionalem Missbrauch zu tun. Mit Lügen, Manipulation, Demütigung, Wahrnehmungstäuschung usw.
Nicht immer erkennen die Betroffenen sofort, was ihnen da passiert. Gerade wenn sie ein Leben lang in toxischen Dyaden feststeckten, bis hin zu dysfunktionalen Familienstrukturen in der Kindheit, sind sie oft noch viele Jahre in ihrem Erwachsenenleben ein Opfer von psychischer und physischer Gewalt. Vielleicht haben sie sogar mit einer komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung zu kämpfen.

Austausch in den sozialen Medien ist elementar

Piktogramm von Männchen, das Männchen schlägt

Bei jeglicher Ausübung von Gewalt gibt es einen Täter und ein Opfer. © wanderin‘ wolfgang under cc

Was in den (sozialen) Medien derzeit passiert, ist, dass sich die Betroffenen durch einen Austausch untereinander endlich verstanden fühlen. Sie befinden sich in einem Modus, in dem sie ihre Erfahrungen abgleichen und sich bestärken. In einem Modus, in dem sie lernen, auf ihre Wahrnehmung zu vertrauen. Denn ihre Wahrnehmung und ihr Empfinden wurden ihnen in dysfunktionalen Familien und toxischen Beziehungen abgesprochen. Ihnen wurde suggeriert, sie würden sich die respektlose Behandlung durch den Partner nur einbilden, sie wären zu sensibel, neurotisch und sie kämen in ihrem Leben nicht klar. Durch den Austausch registrieren sie, es sich nicht eingebildet zu haben, auf ihr Bauchgefühl vertrauen zu können und es wert zu sein, respektvoll behandelt zu werden. Es geht um einen Prozess der Befreiung von respektlosem, degradierendem und seelisch schädigendem Verhalten, um einen Prozess der Selbsterkenntnis und Aufrichtung – und, ja, auch um Emanzipation. Es geht darum, die Fassade einzureißen und aufzumachen, was hinter einigen verschlossenen Türen stattfinden kann. Nämlich:

Die Untergrabung des Selbstwertes

In viel zu vielen Beziehungen gibt es die Konstellation, in der ein Partner zu einer starken Selbstzentrierung neigt und der andere sich beständig um ihn bemüht, weil er ihm Liebe und Empathie entgegenbringen möchte. Die Betroffenen nehmen ihr eigenes „Ich“ immer mehr zurück. Sie werden geschwächt und ihr Selbstwert wird untergraben. Sie befinden sich in einer Abwärtsspirale aus Abwertung bei einer gleichzeitig starken Bindung, die durch Abhängigkeit gekennzeichnet ist.

Mein Partner ist ein Narzisst vs. Diagnose Narzissmus gibt es nicht mehr

Ein selbstzentriertes Verhalten, das in einer Dyade mit Selbsterhöhung und Fremdabwertung einhergeht, das der eigenen Vorteilsbeschaffung zu Lasten des anderen dient, entspricht dem Prinzip Narzissmus. Ein solches Verhalten ist unsozial. Ein Zurückgreifen auf Manipulation, Lügen, Bloßstellung, Einschüchterung ist nicht minder der Dissozialität zugeordnet. Wenn Betroffene sagen, der Partner ist ein Narzisst, so ist es ihre persönliche Einschätzung vom Verhalten des anderen, der sich selbstzentriert und narzisstisch verhält.

Für die Betroffenen in einer toxischen Partnerschaft ist es weniger entscheidend, welche Probleme in der Vergangenheit etc. jemand hatte, um sich im Heute abwertend zu verhalten. Für die Betroffenen ist und sollte hauptsächlich von Belang sein, wie sehr die negative Prägung des narzisstischen Partners auf sie ausgelagert wird und sie darunter leiden. Es geht immer um Respekt.

Die Psychiatrie nähert sich dem Phänomen „Narzissmus“ aus einem anderen Blickwinkel, weil es schlichtweg ihre Aufgabe ist, jedem Menschen wertfrei zu begegnen und Hilfe angedeihen zu lassen.

Die Aufgabe der Psychiatrie

Viele narzisstische Charaktere bringen ihrerseits ihre eigenen Fehlprägungen aus der Vergangenheit mit und haben bestimmte Verhaltensweisen aus Selbstschutz als Reaktion darauf erlernt. Manche narzisstisch orientierte Menschen finden sich durchaus in den therapeutischen Praxen oder psychosomatischen und psychiatrischen Kliniken ein. Nicht wenige klagen über Probleme im Job, weil sie mit den Kollegen anecken. Andere beklagen den Verlust von Partnerschaften, weil die Partner sich mit der Zeit aufgrund des mangelnden Respekts abgrenzen und trennen. Das ist der Punkt, an dem die Therapeuten und Kliniker ansetzen.

Blatt im Sonnenlicht

Jedes Blatt hat zwei Seiten: „Mein Partner ist ein Narzisst“ vs. Diagnose Narzissmus gibt es nicht mehr. © Ken Sutton under cc

In den aktuellen Codierungen der ICD-11 sowie im DSM-5 sind im Rahmen des dimensionalen Konzeptes der Persönlichkeitsstörung die Neigung zu Dissozialität beziehungsweise Manipulation, Gefühlskälte, Grandiosität und Aufmerksamkeitssuche durchaus näherungsweise beschreibend zu finden. In der Verantwortung der Psychiatrie liegt es, das menschliche Erleben und Verhalten, welches einen persönlichen Leidensdruck oder einen Leidensdruck im Umfeld erzeugt, welches zu Beeinträchtigungen in verschiedenen Lebensbereichen führt, bestmöglich klinisch zu erfassen, um maßgeschneiderte therapeutische Interventionen zu erstellen.

Konsensbildung

Es sollte nicht um Erhebung gehen oder darum, jemanden, der für sich den Schluss zieht, der Vater, die Mutter oder der Partner ist ein Narzisst, als hysterisch oder neurotisch hinzustellen beziehungsweise ihm die Erfahrungen abzusprechen. Wir dürfen nicht unterschätzen, wie sehr die langjährigen Partner und Partnerinnen in gewisser Weise Experten im Umgang mit narzisstischen Charakteren sind. Denn nur sie erleben die Menschen im Alltag, oftmals ohne die Fassade der Zurschaustellung. Die Erkenntnis, eine Beziehung täte nicht gut, ist der erste Schritt zur Abgrenzung.

Die Wortmeldung der Betroffenen und die Klassifikation in den psychiatrischen Diagnosehandbüchern, genauso wie die vorsichtigen Mahnungen einiger Therapeuten zu mehr Gemach bei der Schuldzuweisung sind keine gegensätzlichen Pole. Es sind lediglich unterschiedliche Seiten, die alle ihre Berechtigung haben. Nur so kann man sich dem Phänomen des „Narzissmus in zwischenmenschlichen Beziehungen“ in einem gebührenden Maße nähern.
Der Erfahrungsaustausch und die Anerkennung des Leids sowie die Öffentlichmachung schadhaften Verhaltens tragen genauso wie die gegenseitige Wertschätzung zur Konsensbildung bei, damit wir gesellschaftlich heilen können.

Im zweiten Teil der Artikelreihe lassen wir die Betroffenen von einer Partnerschaft mit einem narzisstischen Charakter zu Wort kommen, da ihre Erfahrungen von Wert sind. Hier geht es zum nächsten Teil der Reihe: Mein Partner ist ein Narzisst, aber Narzissmus als Persönlichkeitsstörung gibt es nicht mehr.