Fliegende Möwe

Der Blick von oben ist manchmal erhellend. © J. Triepke under cc

Über den Propagandadschungel zu schreiben hat zweierlei Bedeutung: Einmal darüber zu berichten, zum anderen nach Möglichkeit darüber hinaus zu gelangen.

Darüber hinaus gelangt man durch Reflexion. Reflexion heißt nicht Empfindungslosigkeit, sondern die Empfindungen die man hat zu registrieren und nicht gleich wieder mit der nächsten, größeren emotionalen Welle zu vergessen, sondern sich die Muster anzuschauen. Das sind im besten Fall gewaltige Schritte, aber man muss diese Schritte die einen von einer bestimmten Geworfenheit, hier jener ins Meer der Emotionen, unterscheiden, bei denen man immer nur von der nächsten Woge getrieben wird, bis man im Meer ersoffen ist und keinerlei Halt mehr findet.

Freund/Feind-Schema

Ein erster und beliebter Fehler ist, es für einen Erkenntnisschritt zu halten, wenn man den Spieß, in dem Fall die Sichtweise einfach umdreht. Das erscheint zunächst ungeheuer radikal und ist durchaus ein mutiger Akt. Man traut sich die Dinge anders zu sehen als die Mehrheit es tut, weil die Mehrheit bekanntlich nicht immer richtig liegen muss. Allerdings muss sie sich auch nicht irren und wenn man aus Schwarz Weiß macht und einfach alle Wahrheiten umdreht ist man weiter von den konventionellen Vorgaben abhängig, da man auf diese wartet um sie umzudrehen. Die so gesetzten Themen wird man nicht los.

Es wird aller Orten kritisiert, dass es Teil der russischen Propaganda sei, dass man den Krieg nicht Krieg nennen darf. Es wird als brutale Zensur wahrgenommen, die tatsächlich mit drakonischen Strafen belegt ist und vielleicht erinnert das manche an Chinas Meinungslenkung über die Geschehnisses am Platz des Himmlischen Friedens.

Das Muster ist immer ähnlich. Die Deutung über Geschehnisse wird an sich gerissen und jede abweichende Interpretation wird brutal unterdrückt, bis man irgendwann vergessen hat, dass es überhaupt andere Meinungen gab. Das kann man sich so lange mit einer Mischung aus Kopfschütteln und innerer Genugtuung anschauen, wie es zeitlich, örtlich oder politisch weit weg ist, denn wir leben oft in der Überzeugung, das gäbe es nur anderswo und ‚bei uns‘ habe es das höchstens in der Nazizeit gegeben.

Wir brauchen jedoch nur ins Jahr 2009 zurück zu gehen, um eine Situation zu finden, in der man den Krieg nicht Krieg nennen durfte. Der damals noch beliebte, weil junge, smarte und aufstrebende Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg brach ein Tabu, weil er den Kriegseinsatz deutscher Soldaten in Afghanistan, nein, nicht etwa als Krieg, sondern zunächst als „kriegsähnliche Zustände“ bezeichnete. Mitten in Deutschland, als die Welt noch in Ordnung war.

Um dem Einwand gleich zu begegnen: ich glaube nicht, dass es keinerlei Unterschiede auf der Welt und zwischen den Systemen gibt. Es ist nicht schön, wenn man sich mal an einem Blatt Papier geschnitten hat, aber eine Enthauptung ist doch noch mal ein andere Qualität, obwohl man beides auch als Schnittwunde bezeichnen könnte.

Einheitsbrei und Hierarchieangst

Es ist trotzdem nicht so, dass alle Deutung oder Interpretation nur Gerede ist, belanglos oder ein Verwirrspiel. Trump hat im Westen die Fake News als reale Größe politisch etabliert in einer ungehemmten Dreistigkeit, die neu war. Vielen gefällt das, weil sie weder Zeit, Lust, medientechnische, intellektuelle oder emotionale Kapazitäten haben um die Spreu vom Weizen zu trennen.

Emotionalität, Wiederholung und Rigidität schleifen sich ein und verfangen, der neue Stil der Politik, dem die neue Emotionalisierung durch Social Media in die Hände spielt. Emotionalisierung erweckt den Anschein, alles sei eins. Unsere schröckliche Demokratur mit ihrem fiesen Meinungsdiktat ist noch immer sehr weit von Systemen entfernt, wo man nicht mal im Traum daran denken würde, die Führung zu kritisieren, weil man einfach für Jahre in den Knast gesteckt oder getötet wird.

Wer hier schon strauchelt verliert den Überblick, wenn das nicht bereits geschehen ist. Die Emotionalisierung ist für das verunsicherte Ich keinesfalls nur schlecht, im Gegenteil. Sie macht aus Verunsicherung das Gefühl von Überlegenheit, Durchblick, auf der richtigen Seite zu stehen und Vitalität. Man ist nicht mehr ohnmächtig, sondern kann etwas tun, kennt sich zumindest aus.

Inmitten von Verunsicherung und Kriegsangst raten Psychotherapeuten dazu, sich die Informationen nur sehr dosiert zuzumuten und irgendwie in die Aktion zu kommen und die erstaunliche Macht der Normalität zu nutzen. Das ist sehr gut, aber durchaus nicht alles.

Hierarchie heißt nicht stramm zu stehen, sondern Argumente zu gewichten. Besseres von schlechterem zu unterscheiden und die Unterscheidung zu begründen. Dann ist die Schnittwunde durch Papier und die Enthauptung nicht mehr irgendwie dasselbe.

Verweichlichungen und Verhärtungen

Emotionalisierungen zu überwinden heißt nicht, sich unberührbar und kalt zu machen. Es heißt nur, das kleine Boot, was immer wieder durchgeschaukelt wird zu verlassen und wie eine Möwe den Blick von oben zu wagen und die Emotionen nicht wegzudrücken, sondern bewusst zu erleben. Natürlich sind die verwirrend, wie sollte es auch sonst sein?

Wenn man nicht nur das konsumiert, was einem bestätigt, was man ohnehin denkt, versucht man sich in der Regel einen möglichst breiten Überblick zu verschaffen, natürlich auch mit dem Blick darauf, was das alles für meine Zukunft, Freunde, Familie und dergleichen bedeutet. Mit Blick auf den aktuellen Krieg, fühlt man sich nach kurzer Zeit zurückversetzt in die Zeit, als Corona noch das alldominierende Thema war.

Eben waren wir noch Virologen, jetzt Militärexperten oder hören auf dieselben, samt Historikern, Osteuropakennern und Menschen, die wissen wollen, was Putin denkt und will. Ein Bazar der Meinungen, jeder wird bedient. Von Russland als böser Aggressor, bis NATO als eigentlicher Aggressor; von Putin irre bis höchst rational; von läuft militärisch gar nicht für Russland bis zur Sicht; dass Russland militärisch alles erreicht hat; dass die Wirtschaftssanktionen überraschend wirksam sind und die Oligarchen erregt, bis zur Sicht, dass diese längst eingepreist sind und die Oligarchen ihre Schäfchen längst im Trocknen haben. Dass Selenskyj ein Held ist, bis zur Sicht, dass die Ukraine durch und durch aus Nazis besteht.

Dazu kommt noch das eigene Gefühlschaos: Angst, Wut, Trauer, Enttäuschung, Verbitterung, Hoffnung, Beschwichtigung, dann wieder Drama. Verwirrung und Verunsicherung. Man müsste mal und warum hat man nicht längst? Das alles ist das normale Spektrum, weil die Zeiten verrückt oder für uns zumindest ungewohnt sind, nachdem Corona, die Folgen und Verwerfungen quer durch die Gesellschaft, Freundschaften und Verwandtschaften schon die Seele wund geschmirgelt haben. Manche Menschen sind vor lauter Kriegsangst paralysiert, andere verhärten, werden zynisch, kalt und versuchen sich so emotional abzuschotten.

Man muss aufpassen, dass man Selenskyj nicht zu hassen beginnt, weil er uns an die Phrasen erinnert, an deren Hohlheit wir uns in Sonntagsreden längst gewöhnt haben. Man kann nicht guten Gewissens zuschauen, wenn auch Zivilisten nicht verschont werden, dass Selenskyj alle medialen und moralischen Register zieht und das virtuos macht, ist sein gutes Recht. Auf der anderen Seite steht eine Eskalation mit drohendem Weltkrieg, es könnte der letzte sein. Ein echtes moralisches Dilemma und das heißt, wie man es auch macht, es ist nie richtig.

Flüchtlinge, die im Meer ertrinken konnte man noch zu gut ertragen, doch jetzt steht das eigene Leben auf dem Spiel, so hatte man sich das eigentlich nicht vorgestellt. Es steht aber nicht Wert gehen Gerede, sondern Wert gegen Wert. Eigentlich müsste man helfen, aber unser waffentechnologischer Fortschritt bringt es mit sich, dass bei einer Eskalation die ganze Erde atomar verstrtahlt wird. Wechselseitig versicherte Zerstörung, wer als erster schießt, ist als zweiter tot und das sicher. Mit unseren Waffen können wir die Erde 20x vollständig zerstören. Wer nicht sofort stirbt, tut es kurze Zeit später, qualvoller. Fallout und Wetter treiben die radioaktive Wolke in jeden Winkel der Erde. Das ist der Einsatz.

Ein anderes Szenario sieht nicht besser aus. Unser waffentechnologischer Fortschritt hat nämlich eine neue Generation Atomwaffen ins Spiel gebracht. Nicht strategische, wie Interkontinentalraketen, sondern taktische. Sie verstrahlen nicht ganze Regionen, sonder kaum etwas, das sollen sie auch. Damit man sie nicht erkennt, dringen sie tief in die Erde ein, entfalten dort ihre Zerstörung und sind kaum von anderen Bomben zu unterscheiden. So ein atomares Duell könnte für den Rest der Welt gut ausgehen, wenn man Europäer ist, sinken die Chancen jedoch erheblich.

Moralische Fundamente sind die Freiheit, ebenso aber die Verpflichtung den Weiterexistenz der Menschheit zu gewährleisten. Wer sich lieber auf die Seite der Freiheit geschlagen hat, als den Kindern und Enkeln eine lebenswerte oder überhaupt überlebensmögliche Welt zu hinterlassen, wer die Beschränkungen der Freiheit in der ‚Coronadikatur‘ lautstark kritisiert hat, müsste konsequenterweise auch jetzt die Freiheit der Ukraine mit so ziemlich allen Mitteln verteidigen. Ansonsten ging es einfach um Bequemlichkeit und Egoismus. Der moralische Preis ist der gleiche, Freiheit steht über dem Recht auf Leben, nur der Zahltag ist näher und das eigene Leben ist in Gefahr. So mancher radikale Freiheitskämpfer von eben hat breits in einer moralischen Bankrotterklärung die Fronten gewechselt. Man empfiehlt den Ukrainern sich nicht zu wehren, dann täte es auch nicht so weh. Freiheit scheint nur taktisch wichtig zu sein.

Wir wollen höher fliegen, von oben schauen, unsere eigenen Sorgen und unser berechtigtes Mitgefühl mit anderen und auch mit uns einpreisen: Man kann die eben beschriebene Position einnehmen und dabei konsistent argumentieren. Der Freiheitskampf wäre taktisch eingefroren, weil man sich zwischenzeitich der Gewalt ergeben muss, aber sie wird strategisch nicht preisgegeben, sondern vertagt. Man ändert den Kampfmodus. Auch hier hat man keine happy end Garantie. Man kann aber nicht einmal lautstark die Freiheit zum absoluten Wert erheben und koste es Leben (meistens allerdings das Leben anderer) und dann im Galopp das Pferd wechseln und mit der Forderung sich zu ergeben die Freiheit als vernachlässigbare Größe darstellen, viel weniger Wert, als das Leben (insbesondere denkt man wohl auch an das eigene). Wie gesagt, ein echtes moralisches Dilemma.

Das System Putin

Schild mit der Aufschrift Gay

Homosexualität gilt nicht selten noch als pervers … © D.C,Atty under cc

Sich der Denkweise des Systems Putin versuchsweise anzunähern kann uns trotzdem helfen. In einem kurzen und hörenswerten Radiobeitrag, bringt Udo Marquardt die Essenz aus zwei Büchern: In Putins Kopf und Der Weg in die Unfreiheit auf den Punkt und arbeitet dabei als Ideengeber Iwan Iljin und drei von ihm adaptierte Punkte des Systems Putin heraus:

Der Staat ist ein lebendiger Körper und der Mensch eine Zelle in diesem Körper mit vorbestimmter Aufgabe

Insofern hat man in dieser Rolle auch keine Möglichkeit des Aufstiegs oder der Veränderung, denn wer als Nerven- oder Muskelzelle des Staates gedacht ist, ist es nun mal dort, wo er hin gehört. Eine Schicksalsgläubigkeit, die man aus religiösen, esoterischen und mystischen Quellen kennt, die aber auch vom Faschismus instrumentalisiert wird. Diese schicksalhafte Bestimmung kennen wir von den Nazis, die auch das Bild des Volkskörpers und seiner Krankheiten bemühten, ebenso, wie das in Iljins Gedankenwelt der Fall sein soll. Man kennt diese Rede aber auch aus esoterischen Gedanken, nämlich, dass jeder dort, wo er oder sie steht, zurecht steht. Auch hier, vom Schicksal an die Position gesetzt.

Dem wird von Marquardt der westliche Individualismus gegenüber gestellt, die Idee, dass der Mensch nicht nur Zelle eines Körpers ist, sondern einen eigenen Wert hat. Doch genau dieser Individualismus ist neuerdings ins Zwielicht geraten, weil er etwas zu oft als reiner Egoismus interpretiert wird. Paradoxerweise lassen narzisstische Tendenzen wiederum den Faschismus attraktiv erscheinen, bei dem die Einheit durch Regression hergestellt wird. Als höchstes Glück, mindestens aber als ein statthafter Weg, gilt dann die Einheit in und mit der Schicksalsgemeinschaft, auch wenn sie in den Untergang führt.

Es ist eine Suggestion, dass man sich zwischen Individualismus und Kollektivismus zu entscheiden habe. Denn es ist ja so: Jeder Mensch hat seinen eigenen Wert und genau dadurch, dass er zu sich findet, das tut, was er gut kann und mit dem er sich wohl fühlt, kann er der Gemeinschaft am besten dienen. So wird Selbstfindung nicht zum narzisstischen Spiel, sondern zum Dienst an der Gemeinschaft. Aber Selbstfindung oder gar Selbsttranszendenz, sind das nicht psychologische oder spirituelle Forderungen?

Ist Religion immer faschistisch? Oder Spiritualität, Esoterik und Mystik? Was wäre der Unterschied? Der Faschismus hat kein positives Angebot, es geht um einen ewigen Kampf und Ewigkeit wird so gesehen, dass sich dieser Kampf immer wiederholt. Das ist die Einheitserfahrung, die er anbietet, eins zu werden und vereint zu kämpfen, zu triumphieren oder unterzugehen.

Aber an seinem Platz zu sein, schließt in spirituellen Deutungen nicht aus, sich weiter zu entwickeln, meist ist Weiterentwicklung sogar der zentrale Motor und als Ziel wird zumeist als eine Ich-Überwindung oder Selbsttranszendenz beschrieben, es geht nicht um einen Zusammenbruch des Ich in einer Orgie der Zerstörung.

Meister Eckharts radikal einfache Lösung sieht so aus: Man braucht keinerlei Einflüsterungen zu folgen, man braucht nicht zu versuchen sich bei irgendwem, auch nicht bei Gott selbst anzubiedern:

„Diesen Sinn verstehn etliche Leute nicht recht; das sind die Leute, die peinlich an Pönitenzien und äusserlichen Bussübungen festhalten (dass die Leute in grossem Ansehen stehen, das erbarme Gott!) und sie erkennen doch so wenig von der göttlichen Wahrheit. Diese Menschen heissen heilig nach dem äussern Ansehen, aber von innen sind sie Esel, denn sie verstehen es nicht, die göttliche Wahrheit zu unterscheiden.“[1]

Seine Botschaft ist, alles Bemühen radikal hinter sich zu lassen:

„Steht die Sache so, dass der Mensch aller Dinge ledig steht, aller Kreaturen und seiner selbst und Gottes, und ist es noch so in ihm bestellt, dass Gott eine Stätte in ihm zu wirken findet, so sagen wir: solange das in dem Menschen ist, ist der Mensch nicht arm in der tiefsten Armut, denn Gott ist nicht der Meinung mit seinen Werken, der Mensch solle eine Stätte in sich haben, worin Gott wirken könne, sondern das ist eine Armut des Geistes, dass der Mensch Gottes und aller seiner Werke so ledig steht, dass Gott, wenn er in der Seele wirken will, selbst die Stätte sei, worin er wirken will, und das tut er gerne. Denn findet Gott den Menschen so arm, so ist Gott sein eigenes Werk empfangend und ist eine Eigenstätte seiner Werke damit, dass Gott ein Wirken in sich selbst ist. Allhier erlangt der Mensch in dieser Armut das ewige Wesen, das er gewesen ist und das er jetzt ist und das er in Ewigkeit leben soll.“[2]

Das klingt nicht nach Faschismus, nicht nach ewigem Kampf, diese Ich-Überwindung kennt einen ganz anderen Ausgang:

„Als ich aus Gott entsprang, da sprachen alle Dinge: Gott ist da. Nun kann mich das nicht selig machen, denn hier erkenne ich als Kreatur; dagegen in dem Münden, wo ich ledig stehen will im Willen Gottes, und ledig stehn des Willens Gottes und aller seiner Werke und Gottes selbst, da bin ich über allen Kreaturen und bin weder Gott noch Kreatur, sondern ich bin was ich war und was ich bleiben soll jetzt und immerdar. Da erhalte ich einen Ruck, der mich über alle Engel schwingen soll. Von diesem Ruck empfange ich so reiche Fülle, dass mir Gott nicht genug sein kann mit alledem, was er Gott ist, mit all seinen göttlichen Werken, denn mir wird in diesem Münden zu teil, dass ich und Gott eins sind. Da bin ich was ich war, und da nehme ich weder ab noch zu, denn ich bin da eine unbewegliche Ur-Sache, die alle Dinge bewegt.“[3]

Woran merkt man, ob es so ist? Man fühlt es. Man merkt, wenn man satt ist, wenn man zufrieden und auch, wenn man angekommen ist. Wo ist man angekommen? Im Moment. Das ist kein Tunnelblick, keine Ausblendung von Sorgen, sondern das Gegenteil. Schon die Reflexion braucht auch unsere Emotionen, um daraus ein Gesamtbild zu zeichnen, auch die Spiritualität arbeitet genau damit. Vertiefend in: Gibt es Hilfe, wenn unsere Welt in Trümmern liegt?

Wie schnell geht das? Manchmal sehr schnell, es kommt auf die Größe des Schocks an, ein uns drohender Krieg ist ein großer Schock. Die heutige Realität ist oft an gar nichts zu glauben, was irgendwie nach Religion oder Spiritualität riecht, mit aber das zieht diesem Weg nicht den Zahn. Der Buddhismus empfiehlt genau das zu tun, sich selbst zu überzeugen und Spiritualität oder Mystik ist traditionell ein Weg aus dem Glauben heraus. Die andere Botschaft der Mystiker ist ähnlich der, der Psychologen: Weiter atmen. Psychologen sagen, man solle in die Aktion kommen, um die Angst zu lindern. Im Faschismus geht es darum Teil einer einerseits bedrohten, andererseits pseudoelitären Gesellschaft zu sein, die sich gegen alle Widerstände durchsetzten muss. In der Mystik geht es darum eins mit allem zu sein.

Demokratie ist ein leeres Ritual und ein echter sozialer Aufstieg unmöglich

Iljins zweiter Punkt. Dem hält Marquardt entgegen, dass ein echter sozialer Aufstieg bei uns sehr wohl möglich ist und wir auf Gleichheit wert legen. Theoretisch und historisch ist das der Fall, aber Deutschland ist sozial immer weniger durchlässig geworden, der Abstieg ist möglich, der Aufstieg schwierig. Gründe sind die fortschreitende Ökonomisierung der Gesellschaft, doch diese ist nur ein Aspekt einer seit einigen Jahrhunderten um sich greifenden Funktionalisierung des Miteinanders.

Wir führen die Gleichheit im Munde, aber machen zu wenig Schritte dorthin oder verheddern uns in einer Mischung aus grauenhaft oberflächlichem Pluralismus und einer Opferkultur, die manchmal nicht mehr weit vom faschistischen Narrativ entfernt ist, weil sie zwischen Größenphantasien und Selbstmitleid hin und her pendelt. Die Abfolge der Stufen dieser regressiven Entwicklung und die anfängliche Ausleuchtung der Innenwelt dieser Einstellungen haben wir in Regressionen der Masse dargestellt.

Der französische Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty schreibt, dass eine Abkopplung Russlands vom internationalen Zahlungssystem SWIFT eher die russische Zivilbevölkrung trifft, als die Oligarchen:

„Um den russischen Staat in die Knie zu zwingen, müssen wir Sanktionen auf die dünne soziale Schicht von Multimillionären fokussieren, auf die sich das Regime stützt: Diese Gruppe ist deutlich größer als ein paar Dutzend, aber viel kleiner als die russische Gesamtbevölkerung. Eine Idee: Man könnte alle einbeziehen, die mehr als 10 Millionen Euro an Immobilien und Vermögen besitzen – nach den neuesten verfügbaren Daten wären das rund 20.000 Personen. Das sind 0,02 Prozent der russischen erwachsenen Bevölkerung (derzeit 110 Millionen). Würde man die Marke bei fünf Millionen Euro ansetzen, wären 50.000 betroffen; bei einer Grenze von zwei Millionen Euro 100.000 (0,1 Prozent der Bevölkerung).“[4]

Jedoch:

„Warum also gibt es noch keine Fortschritte in diese Richtung? Aus einem ganz einfachen Grund: Die Reichen im Westen fürchten, dass ihnen eine solche Transparenz am Ende schadet. Das ist einer der Hauptwidersprüche unserer Zeit. Die Konfrontation zwischen „Demokratien“ und „Autokratien“ wird übertrieben, weil vergessen wird, dass die westlichen Länder mit Russland und China eine ungezügelte hyperkapitalistische Ideologie ebenso teilen wie ein rechtliches, steuerliches und politisches System, das zunehmend große Vermögen begünstigt.“[5]

Das ist ein großes Problem, aber noch das kleinere, wenn man die Geißel einer Reduzierung des Miteinanders auf den Funktionalismus in den Blick nimmt. Der ewige Kampf des Faschismus ist das untere Ende eines nachvollziehbaren Wunsches nach Verschmelzung, der die Urwunde einer empfundenen Trennung heilen soll. Aber es gibt weitaus bessere Ideen, als den kollektiven Untergang in einer Schicksalsgemeinschaft. Man muss aber verstehen, wie bedeutend dieser Antrieb ist, ihn einbinden und die besseren Angebote darstellen, statt sie ideologisch abzuwehren. Näheres in Die politisch-ideologische Fehldeutung – Verschmelzungen und Einheitserfahrungen.

Ein deutlich bessere Welt ist noch immer möglich. Sie ist paradoxerweise genauso zum greifen nahe, wie ein Untergang. Aber allein die fromme Betonung des Guten im Menschen reicht nicht aus. Wenn der nächste Zug gelingen soll, muss er unter realistischen Bedingungen stattfinden. Dazu müssen wir weniger die Mythen der anderen, als vielmehr unsere eigenen betrachten:

„Hier betrete ich ein schwieriges Terrain. Oft ist zu hören, vor allem in konservativen psychoanalytischen Kreisen, dass die harten Zeiten, die die Psychoanalyse gerade durchmacht, damit zu tun haben, dass Freuds Entdeckungen für die konventionellen Ansichten der Menschen nach wie vor eine große Bedrohung darstellen. Ich glaube, dass die Sichtweise die ernsthaften Schwierigkeiten unterschätzt, in die sich die Psychoanalyse selbst gebracht hat; sie hat ihren Ruf als isolationistisch, elitär und voreingenommen gegenüber empirischer Forschung kritiklos hingenommen, ja zuweilen selbst befeuert. Doch ist die eingangs zitierte Sichtweise – ein hartnäckiges Festhalten der westlichen Welt an einigen konventionellen Mythen – durchaus zutreffend. Das betrifft

  • den Mythos von der sexuellen Unschuld des Kindes,
  • den Mythos, dass der Mensch von Grund auf gut ist, sowie
  • den Mythos, dass bei einer menschlichen Begegnung zumindest eine der beiden Parteien der anderen zu helfen bemüht ist.

Max Gitelson fasste dies in einfachen Worten zusammen: „Es gibt viele Menschen, die an die Psychoanalyse glauben, außer wenn es um Sex, Aggression und Übertragung geht.“[6]

Der Mensch ist nicht von Grund auf böse, sondern in ihm schlummert das Potential zu Liebe und Aggression. Demokratie ist also nicht schlecht, sondern sie hat die Möglichkeit Rahmenbedingungen zu schaffen, die die besten Eigenschaften der Menschen stärken, nämlich über die Begrenzungen der Systeme von Politik und Wirtschaft hinaus zu reichen. Vertrauen und Freundschaft sind, wie fast alle wissen, realistisch und sie reichen über reine Kosten/Nutzen-Beziehungen hinaus. Demokratie muss genau das schützen, sonst geht sie unter.

Es gibt keine Fakten und Wahrheiten

Startendes Flugzeug auf Flugzeugträger

… Flugzeugträger gelten hingegen als normal und werden bewundert.

Ein schwieriger Punkt. Es ist alles andere als klar, was Fakten und Wahrheiten überhaupt sein sollen. Ich verweise auch hier auf den ausführlicheren Artikel Macht und Wahrheit in der heutigen Zeit, der diesen Aspekt behandelt.

Schwierig ist der Punkt – um eine lange Geschichte kurz zu machen – weil es in abgezirkelten Bereichen mit bestimmten, definierten Wahrheits- und Geltungsbedingungen sehr wohl Wahrheiten, sowie Irrtümer und Lügen gibt. Bei einer Lüge agiert man mit Vorsatz, beim Irrtum glaubt man etwas falsches. Lügen zerstören das mögliche und reale Vertrauen, aber es ist auch real, dass nicht jeder in seiner Entwicklung zu der Ebene vordringt, die einem die Erfahrung der Realität von Vertrauen und Wohlmeinen ermöglicht. Das ist persönlich traurig, aber wenn sich in schwierigen Zeiten führende Politiker in ihrem aggressiven Misstrauen eingraben, kann es für sehr viele Menschen dramatisch werden. Wer Zuneigung, Vertrauen, Freundschaft und allgemein komplexere Emotionen nicht aus eigener Erfahrung kennt, wird nicht viel Engagement haben, diese in der Gesellschaft zu stärken. Statt dessen gehen Überwachung, Bürokratie und ein kalter Funktionalismus weiter, bei dem man soziale Kreditpunkte sammelt und belohnt oder bestraft wird. So werden Elemente, die bereits in der Tierdressur als veraltet gelten, dem Menschen übergestülpt.

Das Problem mit den Fakten ist, dass es keine allen Perspektiven übergeordnete Perspektive gibt. Wir meinen manchmal – und hoffentlich immer weniger und seltener – die Sichtweise der Physik sei die alles überragende. Doch Liebe, Hass, Vertrauen, die Wirkung von Verträgen und Gesetzen, die Beurteilung von Kunst und Argumenten kommen in der Sprache der Physik überhaupt nicht vor. Ob man sich an Gesetze hält oder nicht, ist keine Frage der Natur, sie lässt beides zu, dass wir betrügen oder ehrlich sind.

Sexualität

Udo Marquart erwähnt nicht die sexuelle Konnotation, die Timothy Snyder in seinem Buch darstellt. Der Westen wird als pervers und verkommen skizziert, weil er Homosexualität und Queerness nicht verurteilt. Auch das ist ein schwieriges Thema, weil wir hier selbst noch Klärungsbedarf haben. Einerseits ist es gut, wenn eine Gesellschaft sensibler wird. Andererseits führt der Überbietungswettbewerb mit dem man versucht, nur ja niemanden zu diskriminieren dazu, dass man sich von Menschen, nur weil sie einer vermeintlichen oder tatsächlichen Randgruppe angehören, jeden Unsinn erzählen lassen, wie etwa, dass nur weiße Menschen rassistisch sein können und dergleichen. Gesellschaftliche und damit auch sexuelle Normen sind mehr oder weniger beliebige Setzungen und variieren, durch die Zeiten und Kulturen erheblich. Mal ist die Knabenliebe ein Ideal, Intiationsritus oder mindestens etablierte Praxis, hier und heute führt sie zum Entsetzen und ist die am stärksten tabuisierte und sanktionierte Form der Sexualität, abgesehen vielleicht vom Sex mit Tieren und Leichenschändung.

Nur ist es eben kein Argument zu sagen, dass dann oder dort doch auch erlaubt war, was hier und heute verboten ist, weil wir eben hier und heute leben und auch nicht im Linksverkehr fahren können, mit dem Verweis darauf, das sei in Großbritannien normal. Patriarchale Gesellschaften haben große Schwierigkeiten mit der Homosexualität, zumindest ab dem Mittelalter. Der europäische Osten gehört dazu, aber auch bei uns verschwindet Homosexualität erst 1994 aus den Strafgesetzbüchern. 1871 wurde ein Strafgesetzt eingeführt, unter den Nazis verschärft, doch wenn man Florian Illies‘ Buch Liebe in Zeiten des Hasses liest, bekommt man eine Ahnung, dass vor der Naziregentschaft, zumindest in Kreisen der kulturell Kreativen, im urbanen Raum der 1930er, Homo- und Bisexualität Breitensport war.

Der Propagandaschungel ist dicht

Es bleibt eine ambivalente Mischung, wie man die Sicht auf den Westen einschätzen kann. Auf der einen Seite, ist bei allen Punkten etwas zu finden, wenn man tiefer gräbt, doch auf der anderen sollte die Kritik weder religiös noch taktisch begründet werden. Wenn es keine letztendlich privilegierte Postion gibt, dann ist auch ein politreligiöser Mythos, wie der von Iwan Iljin nicht privilegiert.

Meint man ihn rein taktisch durchsetzten zu können, beruft man sich auf das Recht des Stärkeren. Systeme die auf aggressives Verhalten setzen, können langfristig nicht gewinnen. Aggression ist eine reale Disposition in unserem Verhaltensrepertoire und keine Fehlfunktion, weil im Kopf etwas falsch läuft oder in der Erziehung der Kindheit.

Auf Liebe, Freundschaft, den Willen zur Kooperation, Gerechtigkeit und vielleicht eine reife Spiritualität zu setzen ist vielleicht richtig, weil es reale Größen sind, auf die man bauen kann. Aber Aggression wird nicht verschwinden und wenn man die eine Seite erkennt, so ist das gut, aber wenn man die Realität der Aggression verdrängt oder verleugnet ist wenig gewonnen und sie bestmöglich und konstruktiv einzuhegen, wird schwierig.

Im Propagandadschungel wimmelt es von bewusst gestreuten Falschinformationen, also Lügen. Das ist der eine Punkt und schlimm genug. Noch problematischer sind aber jene Irrtümer von deren Wahrheit man selbst überzeugt ist. Sie sind keine einfachen Wissenslücken. Eine der großen Erkenntnisse der Psychoanalyse war, aufzuzeigen, dass diese Irrtümer aus Verdrängungen resultieren und es dauert lange, diese aufzudecken, zu akzeptieren, damit auch, dass sie zu einem Teil der eigenen Psyche gehören. Hinzu kommt, dass dies ein dynamischer Prozess ist, das heißt, das eben Gewusste oder Aufgedeckte kann wieder verdrängt werden.

Allein auf die Vernunft zu setzen ist zu wenig und so einseitig, wie es Emotionalisierungen sind, da nicht nur Erkenntnisgrenzen, sondern auch Massenregressionen real sind. Ein zu naiver Glaube an die Vernunft ist von einer ausreichenden Zahl großer Geister zurückgewiesen worden, um ernst genommen zu werden. Er mündet in einen Funktionalismus, den wir auch bei uns überhäufig finden. Vermutlich ist ein demokratisches System das beste, was jene Begegnungen fördern und beschützen kann, die uns über ein Leben im Konsten/Nutzen-Modus hinaus trägt, aber gerade in den westlichen Demokratien, auf die wir zu einem Teil zurecht stolz sein können, beschneiden wir zugleich die Wurzeln, die uns emotional ernähren.

Auch das ist ein Pfad tiefer in den Propagandadschungel, weil viele ernsthaft meinen, man könne diese Wurzeln kappen, ohne Schaden zu nehmen. Die Natur auspressen, tiefe Beziehungen zugunsten oberflächlicher Dienstleistungen eintauschen und tiefe Überzeugungen taktisch anpassen. Auch diese Perspektiven sind Formen der Aggression, wir sollten noch mal hinschauen und die inneren Antriebe und Zusammenhänge tiefer durchdringen. Diese Erkenntnisse helfen uns weiter, sie schließen jene auf anderen Wissensgebieten keinesfalls aus.

Quellen:

  • [1] http://www.zeno.org/Philosophie/M/Meister+Eckhart/Predigten,+Traktate,+Spr%C3%BCche/Predigten/16.+Von+der+Armut
  • [2] http://www.zeno.org/Philosophie/M/Meister+Eckhart/Predigten,+Traktate,+Spr%C3%BCche/Predigten/16.+Von+der+Armut
  • [3] http://www.zeno.org/Philosophie/M/Meister+Eckhart/Predigten,+Traktate,+Spr%C3%BCche/Predigten/16.+Von+der+Armut
  • [4] Thomas Piketty, Westliche Eliten wollen keine Sanktionen gegen Russlands Reiche | The Guardian | der Freitag, März 2022, https://www.freitag.de/autoren/the-guardian/thomas-piketty-westliche-eliten-wollen-keine-sanktionen-gegen-russlands-oligarchen-swift
  • [5] Thomas Piketty, Westliche Eliten wollen keine Sanktionen gegen Russlands Reiche | The Guardian | der Freitag, März 2022, https://www.freitag.de/autoren/the-guardian/thomas-piketty-westliche-eliten-wollen-keine-sanktionen-gegen-russlands-oligarchen-swift
  • [6] Otto F. Kernberg, Liebe und Aggression, Schattauer 2014, S. 301