Es ist Krieg in Europa. Anders als der Krieg im ehemaligen Jugoslawien einer, dessen Eskalationspotential uns allen Sorgen machen muss.
Im Krieg ist die Wahrheit das erste Opfer, heißt es und so gehören psychologische Kriegsführung, Desinformation und Propaganda zu diesem schrecklichen Schauspiel. Das heißt ganz praktisch, dass es eine Vielzahl konkurrierender Deutungen und Erzählungen gibt, die in sich nachvollziehbar sein können und verschiedene Menschen oft an dem Punkt abholen, an dem sie sich bestätigt fühlen. Damit man im Chaos wenigstens die Orientierung nicht verliert.
Dass die vermeintlichen Fakten alles klären, diesen Glauben musste man spätestens im Zuge der Corona-Pandemie nachbessern, denn alle möglichen Seiten haben auch hier alle möglichen Erzählungen anzubieten und die schlichte Gegenüberstellung von Fakten und Fakes ist eine etwas einseitige Sicht. Denn was wirklich passiert ist, ist zum überwiegenden Teil erst in der Rekonstruktion erkennbar, wir haben mitunter drastische Meinungsänderungen in der Pandemie erlebt.
Einfache Deutungen greifen oft zu kurz
Krieg ist immer die Stunde der einfachen Deutungen und einfachen Feinbilder. Gut gegen Böse, so lautet das Spiel, in besseren Zeiten wissen wir um die Ambivalenz dieser beiden Pole und ihrer Existenz in uns allen. So wird an vielen Deutungen etwas dran sein und sie alle werden gleichzeitig lückenhaft sein. Nicht, weil wir nicht alle Fakten kennen, sondern weil es schon von unaufgeregten Ereignissen, wie einer Geburtstagsfeier sehr verschiedene Versionen gibt und bei einer Feier hat niemand ein großes Interesse daran, die Deutungshoheit an sich zu reißen. Im Krieg schon.
Schon bei den Irakkriegen der Vergangenheit gab es eine Vielzahl konkurrierender Erzählungen, die die vermeintlich wahren Gründe entschleiern sollten. Vom Regime Change über Ölgeschäfte, dass George W. Bush seinem Vater etwas beweisen wollte, bis zu Geschäftsbeziehungen einflussreicher US-Eliten zur bin Laden Familie und sehr viel mehr.
Das installieren einfacher Feindbilder ist in Zeiten des Krieges vielfach unvermeidlich, in der Analyse erscheint eine schwarzweiß Sicht aber oftmals unzureichend. Ebenso wie die einfache Umkehr der Feindbilder, der nun statt dem Aggressor des russischen Elitensystems, die NATO, den Westen oder Amerika als den eigentlichen Verursacher ausweisen möchte. Was wäre eine Alternative, wenn man sich an sehr einpolige Deutungsmuster nicht anschließen möchte?
Verstehen, ohne zu billigen
Auch in der Individualpsychologie haben es Psychologen und Psychotherapeuten, die sich auf diese Bereiche spezialisiert haben, immer wieder mit Taten zu tun, die nicht leicht zu verstehen sind, in den Augen des Täters aber einer gewissen Logik folgen. Es ist sinnvoll dieses Denken zu verstehen, woraus nicht folgt, dass man es billigen muss. Denn irgendeine Erklärung wird man immer finden. Aber nicht jede Erklärung ist als Begründung akzeptabel oder ausreichend.
Auch Kriege haben ihre Logik. Fühlt Putin sich von der NATO bedroht, wie es von russischer Seite immer wieder heißt? Die NATO hat sich erweitert, rückt immer näher an Russland heran, beteuert ein reines Verteidigungsbündnis zu sein, aber federführend sind dort die USA. Die Politik der USA war nicht immer Vertrauen erweckend, Regime Change gehört zu ihrem Geschäft, wie auch die Unterstützung zwielichtiger Führer und vorgeschobene Gründe, um einen Krieg zu beginnen bis zu pre-emptiv strikes, Präventivkriegen. Es wäre einseitig, die Augen davor zu verschließen. Wenn Putin nun dasselbe macht, ist das furchtbar, wir bewerten es anders, weil es gefühlt nicht ‚unser Krieg‚ ist. Aber ein Unrecht rechtfertigt kein anderes. Grundsätzlich nicht und in beide Richtungen nicht.
Verstehen kann man auch, dass das mündliche Versprechen über die Zusage, dass die NATO sich nicht ausdehnen werde, vom Westen gebrochen wurde.[1] Soweit es zu recherchieren ist, hat es keinen schriftlichen Vertrag gegeben, aber eine mündliche Zusage, die in Russland hoch im Kurs stand und es bei uns auch sollte. Aber auch dies ist kein Grund souveränen Staaten abzusprechen, für ihr Land selbst zu entscheiden, schon gar nicht mit Gewalt.
Kein Vertrauen in die Aufrichtigkeit
Es ist bitter, wenn diese Option nun von beiden Seiten zerstört wurde. Wer den ersten Stein geworfen hat, ist an irgendeinem Punkt nicht mehr wirklich wichtig, weil die Deutungen so weit abweichen, dass hier nichts mehr zu klären ist. Das ist der Moment, an dem man schauen muss, wo man hin will. Damit irgendwann wieder Ruhe einkehrt, bedarf es dazu Menschen, die sich in die Augen schauen, die Hand reichen und einander vertrauen. Menschen können das, haben es immer gekonnt, es gibt keinen prinzipiellen Grund daran zu zweifeln. Natürlich sind Menschen auch aggressiv, sind es immer gewesen und werden es immer sein können. Das alte Spiel, Liebe und Aggression sind in jedem von uns.
Im Moment ist das Vertrauen verspielt, vieles liegt in Scherben. Die Lesarten, die besagen, dass der Mensch des Menschen Wolf ist, gewinnen die Oberhand. Man darf sich nicht daran gewöhnen, weil es ganz einfach einseitig ist. Täglich sehen wir überall auf der Welt, dass Menschen einander vertrauen. Es ist ein echtes Problem von Staaten, dass sie als große, anonyme Gebilde die oft Massen hinter sich vereinen nicht auf die Ebene kommen, wo im anderen der Mensch gesehen wird. Denn Staaten sind keine Menschen, sie kommen nie über den kühlen Utilitarismus hinaus, ein Systemdenken des wechselseitigen Nutzens. Freundschaft ist das gerade nicht, weil Freundschaft mehr ist, als im anderen den Nützling zu sehen, Freundschaft geht weiter und hält auch dann, wenn der andere einem nicht mehr nützt. Einfach weil man befreundet ist. Staatsführer können die Ebene des reinen Nutzens überwinden, wenn sie gut miteinander können, aber das ist nicht immer der Fall.
Die Lesart, dass ohnehin niemandem zu trauen ist, ist gefährlich, sie ist sachlich falsch und psychologisch paranoid, allerdings darf das Zutrauen auch nicht zu blauäugig sein. Es ist nicht immer alles eitel Sonnenschein. Aggression ist eine reale Größe des zwischenmenschlichen Umgangs, Kooperation allerdings auch. Der Mensch ist nicht von Grund auf gut und auch nicht immer bestrebt, dem anderen zu helfen. In der praktischen Begegnung ist es dennoch eine gute Strategie, dem anderen erst einmal grundsätzlich zu vertrauen, aber beim Beweis des Gegenteils Konsequenzen zu ziehen. So kann Vertrauen (re)aktiviert werden. Führer von Staaten sind in einer Zwischenposition, da sie einerseits den Staat repräsentieren und gelobt haben, ihn zu schützen, auf der anderen Seite, anderen Staatenführern als Mitmensch begegnen. Einmal systemische Anforderungen, ein anderes Mal zwischenmenschliche.
Ein Krieg kann Vertrauen jedoch für lange Zeit zerstören und auch kollektive Traumata wirken nach, oft noch Generationen später. Auch wenn Staaten funktionale Gebilde sind, die Identifikation des einzelnen Menschen mit seiner Nation kann sehr emotional sein. Sie sind ein Teil der Identifikationen, die man eingehen kann und, wenn sie nicht um Übermaß vorhanden ist, eher hilfreich, als problematisch.
Merkwürdige Freude
Der Krieg in Europa löst Bestürzung und Entsetzen aus, zuweilen auch Wut und Hass. Doch bei einigen findet man eine kaum verhohlene Freude, sei es beim ehemaligen US-Präsidenten Trump, dem nachgesagt wird Putin zu bewundern, aber auch bei manchen anderen hat man das Gefühl, dass die Empfindung, dass jetzt mal wieder Schluss mit lustig ist, sie seltsam befriedigt.
Wir urteilen immer mehr entlang politisch vorgestanzter Linien, wie die Marionetten, die wir alle nicht sein wollen. Auf beiden Seiten, für oder gegen die man sich angeblich entscheiden muss. Muss man das? Sich in Schablonen pressen lassen? Gibt es nur Wahl zwischen der Fraktion der ächten Männer (und ihrer devoten Weibchen), für die law and order, Grillfleisch, Auto und Atomkraft Programm sind und die sich auf die Wiederwahl Trumps freuen oder der feinsinnigen Kosmopolit*innen, die sich über den heimlichen Rassismus in Brettspielen und Mathematik austauschen, überall Sexismus finden (der immer nur in eine Richtung gehen kann), bio und beim Türken kaufen und für die jede Art von Queerness das Normalste der Welt ist?
Jeder soll leben, wie er will, dann sind wir im Paradies. Wirklich? Angesichts der weit gespreizten Entwicklung der Weltbilder nicht nur zwischen den Nationen, sondern innerhalb einer Gesellschaft, ist eine reine laissez faire Haltung etwas, was man sich nicht so wirklich gut vorstellen kann und wenn sich das in Toleranz umbenannte Desinteresse, dann auch auf jene richtet, die es ihrerseits mit Toleranz gegenüber anderen nicht so haben, wird es schwierig.
Man hat längst erkannt, dass hier etwas nicht stimmt, aber aus dem Fehler ein Programm gemacht und nicht nur Desinteresse als Toleranz aufgehübscht, sondern auch aus Moralismus Moral gemacht. Denn schon die Prolls im eigenen Land findet man im Grunde abstoßend: Weiß, arm, nationalistisch? Igitt. Dazu noch männlich und christlich. Noch schlimmer. Da ist die Toleranz dann schon am Ende, die sonst immer so lautstark eingefordert wird, diese Gruppe möge bitte schweigen.
Doch es ist nicht ganz so simpel. Neben den Menschen, die bei uns einfach übergangen und vergessen werden, weil sie keine Lobby haben und auch keine guten Opfer darstellen, sich aber immer wieder anhören müssen, sie seien privilegiert, gibt es eine Clique neokonservativer Akademiker, die ebenfalls der Meinung sind, dass irgendwas nicht richtig läuft. Bei uns sind sie noch nicht sonderlich einflussreich, in den USA schon. Zu ihnen gesellt sich teilweise eine weitere Gruppe, die nicht in ein simples Politlager einzuordnen sind, auch wenn man es so gerne hätte: Jene komische Mischung aus Esoterikern, Heilpraktikern, Anthroposophen, Homöopathen, Vollwertköstlern, ‚Impskeptikern‘ und alternativ Gesundheitsorientierten, die über die stete Wiederholung der Begriffe ‚unwissenschaftlich‘ und ‚rechtsextrem‘ im Kontext mit den genannten Gruppen in ein bekanntes Schema gepresst werden sollen.[2] Was das alles mit dem Krieg in Europa zu tun hat? Durchaus eine Menge. Denn hier kämpfen nicht nur Staaten, sondern auch Sichtweisen.
Deutschland macht eine Kehrtwende
Deutschland hat wie kein anderes Land in Europa von der Umstellung auf den Euro profitiert. Die Geschäfte laufen, die Menschen sind in Arbeit, dass sind die hauptsächlichen Trigger, bei denen man in Deutschland stramm steht. Das ultimative Argument. Der Wirtschaft muss es gut gehen, alles andere ist, wenn nicht egal, so doch nachrangig. Es geht ihr gut, nur uns Menschen in Deutschland nicht mehr so.
Die Mittelschicht hat sich noch immer nicht erholt, es gibt mehr finanzielle Unterschicht und ist man dort einmal gelandet, ist der Aufstieg schwer. Da wird nichts von oben nach unten durchgereicht, denn die Geschäfte gehen gut und unten kommt nichts an. Dass Bildung, mindestens aber Fleiß locker reichen, um ein finanziell gutes Leben zu führen ist eine nette alte Geschichte, mehr nicht. In den Vereinigten Staaten finden wir eine ähnliche Situation und einen ehemaligen US-Präsidenten, der den Enttäuschten ein neues Narrativ gab: Das Land ‚great again‘ zu machen. Wenigstens das hatten sie, die Armen der weißen Unterschicht. Jemanden, der ihnen erzählte, dass sie die legitimen Erben einer einstmals gewesenen Großartigkeit waren. Einer Großartigkeit, die auch ihnen zukommen würde, wenn die Zeiten andere wären. Gern ist man bereit zu glauben, dass dies auch wieder der Fall sein könnte.
Weltweit wächst die Mittelschicht, doch besonders in China und Indien, hatte unter der Corona-Pandemie aber stark zu leiden.[3][4]
Die Infrastruktur in Deutschland lässt immer mehr zu wünschen übrig, es gibt eine starke Inflation. Aber nur weil da dummerweise Corona war, Hochwasser, Sturm und jetzt Krieg, Sonderfälle eben … ansonsten wäre alles normal. Wirklich? Die Möglichkeiten immer neuer Sonderfälle in den nächsten Jahren ist längst nicht abgearbeitet. Ihre Optionen werden immer größer und vielfältiger. Wenn sich Russland und Europa zukünftig als Feinde gegenüber stehen, kommt eine weitere hinzu, vorgstellt haben wir diese und andere Kandidaten in Neue Realitäten.
In einer Sondersitzung des Bundestages machte Deutschland nun eine fulminante Kehrtwende. Die militärischen Optionen Deutschlands sind nicht der Rede wert, die Waffenlieferungen erhöhen aber den Blutzoll und für einen Blitzkrieg ist jeder Tag, den der Krieg andauert einer zu lange. Dadurch wird der Krieg verlustreich und schmutzig, die Bilder werden um die Welt gehen, der Zuspruch wird sinken. Wir leben in einer Welt in der jeder ein Smartphone in der Tasche hat und die Informationshoheit zu haben, ist ein strategisch wichtiges Ziel, die Deutungshoheit zu haben.
Es muss klar sein, dass die nichtmilitärischen Möglichkeiten die der Westen hat, wirklich ausgeschöpft werden und auch da sollte man, wenn man sich schon entschließt, auch bis zum Ende gehen. Wieder mal nur heiße Luft zu verbreiten, lässt die Frage aufkommen, was denn noch passieren soll, damit man sich mal selbst ernst nimmt. Dann tun es vielleicht auch andere wieder. Es ist ein schmaler Grat und wenn der Westen seine Glaubwürdigkeit bei der eigenen Bevölkerung wieder und wider verspielt ist das eine große Gefahr. Eine Bewährungsprobe, auch für den Westen, der allerdings im Moment so vereint ist, wie lange nicht mehr.
Angst vor der oder um die Demokratie?
Die Demokratie ist gegenwärtig überall auf der Welt in Gefahr. Autokratien schießen wie Pilze aus dem Boden. Russland, China, Brasilien, die USA unter Trump waren drauf und dran die Demokratie zu verabschieden und auch in einigen europäischen Staaten gibt es diese Tendenzen. In Indien gibt es einen zunehmenden Nationalismus und auch in vielen islamischen Ländern regieren Autokraten.
Hat das System Putin Angst vor der Demokratie? Vielleicht, aber ebenso muss man eine große Sorge um die Demokratie haben, die an vielen Orten der Welt auch von innen bedroht ist, weil viele Menschen sich nicht mehr für die interessieren.
Wer kämpft da eigentlich gerade? Klar, Russland gegen die Ukraine. Darüber hinaus, Russland gegen den Westen? Oder verschiebt sich gerade die alte Machtarchitektur? Amerika als Militärmacht Nummer 1 wird schwächer und es wird an allen Ecken getestet. Von Russland, China und bald positioniert sich vielleicht auch Indien.
Aber Auseinandersetzungen gibt es nicht nur entlang äußerer Grenzen, sondern längst auch im Innern einzelner Staaten, zwischen gesellschaftlichen Gruppen. Die Unterschicht, für die sich niemand mehr interessiert. Seit 1995 sind weitere 5% aus der Mittelschicht in die Unterschicht abgerutscht. Inzwischen sind dort 29% der Bevölkerung oder 24 Millionen Menschen, in Deutschland. Die Mittelschicht gilt als das Rückgrat einer Gesellschaft, nicht nur weil sie konsumiert, sondern auch im Bezug auf Bildung und damit auch auf Wertvorstellungen. Diese Menschen sind anfälliger für populistische Strömungen und die gibt es, wie wir sahen, reichlich.
Wie oben ausgeführt gibt es eine merkwürdige Koalition der Rechtspopulisten, die sich antielitär geben und doch gut mit den Geld- und Machteliten können oder selbst dazugehören und ihren Anhängern, die ihnen, für für eine gute Geschichte von neuem, alten Glanz, alles verzeihen. Aus den Trümmern einer funktionalistischen Welt, erwächst diese Bewegung. Es ist die Degeneration einer breiten Version einer vernünftigen Welt, zu einer, in der es zum Selbstzweck geworden ist, zu funktionieren, sich anzupassen, wie in Kampf der Weltbilder ausgeführt.
Auch hier sehen wir die Auswirkungen einer bröckelnden Mittelschicht. Der eine Teil, man darf annehmen ein größerer, regrediert immer mehr. Das konsequente Ende ist der ewige Kampf der einen oder anderen faschistischen Ideologie. Armut und gefühlte Ungerechtigkeit sind starke Treiber dieser Bewegung. Eine andere sieht die Grenzen des Funktionalismus, erkennt die Zusammenhänge und schafft den Sprung auf eine neue Bewusstseinsebene. Die Trennung, dieser Bruch ist die eigentliche Spaltung in der Welt, ein Riss, quer durch Gesellschaften, Familien und Freundschaften.
Allerdings liegt genau hier auch die Chance zu einer Bewegung in die andere Richtung. Nennen wir sie echte Aufklärung, dialektisch, integral oder ganzheitlich, die Überschriften sind eher uninteressant. Worum es geht, ist ein echter Blick auf die sich durchdringenden Probleme und Ebenen, der dann, wenn er wirklich mehr erkennt, auch erkennen sollte, dass die Argumente derer, die aus nachvollziehbaren Gründen gegen eine aufgenötigte Moralisierung und einen politischen Pluralismus sind, angehört und eingebunden werden sollten, damit sie nicht weiter regredieren.
Ist Aufrüstung eine gute Idee?
Kann man so und so sehen. Dass man von Freunden umzingelt ist, kann man vielleicht so wenig behaupten, wie, dass territoriale Ausdehnung heute uninteressant ist. 100 Milliarden Euro sollen nun in die Armee gesteckt werden: Sind denn die anderen Probleme, die gestern noch so dringend waren, verschwunden? Und wer sind die Soldaten? Haben wir nicht Fachkräftemangel an allen Ecken und Enden? Wenn die Armee davon nun welche abgreift, macht es das nicht besser. Waren nicht eben noch Pflegekräfte, Handwerker und überhaupt Arbeitskräfte gesucht? Die Einführung einer Wehrpflicht wird es kaum besser machen, wenn man auf die demografische Situation blickt. Wir werden es erleben.
Wunderbare Atomkraftwerke?
Viele können den Bau neuer Atomkraftwerke kaum erwarten. Auch diese Medaille hat zwei Seiten, in der jetzigen Situation kommen weitere Aspekte hinzu. Hoffentlich macht man die Atomkraftwerke auch hinreichend sicher, denn sie sind, wie das gesamte Stromnetz, auch wunderbare Ziele für den Cyberterror. Denkt man daran? Der Ausbau der erneuerbaren Energien ist jahrelang erfolgreich verschleppt worden, schade, kann man da nur sagen.
Die nächsten US-Wahlen und die Zukunft der NATO
Hoffentlich bedenkt man auch, dass es keinesfalls völlig unrealistisch ist, dass Trump die nächste Wahl wieder gewinnt. Die NATO fand er schon mal überflüssig und Putins Auftritt findet er super. Was, wenn er aus der NATO austritt, die dann nur noch eine Rumpftruppe wäre? Wer schützt die europäische Ostgrenze, wenn die Beziehungen zu Russland miserabel bis feindselig bleiben? In zwei Jahren macht man aus Europa keine potente Militärregion.
Ein neuer europäischer Geist?
Vor 500 Jahren hat Europa in einem beispiellosen Siegeszug die Welt erobert. Portugal, Spanien, Polen, Schweden, Belgien, natürlich Frankreich, das britische Empire und Deutschland. Die Gründe sind vielfältig, ein gewaltiger Youth Bulge nach der Pest, technische Innovationen, wie die Fähigkeit gegen den Wind zu segeln, Aufstieg durch Handel und die Frühformen einer kapitalistischen Haltung fallen zeitlich eng zusammen.
Ein halbes Jahrtausend später hat der europäische Geist die Welt stark verändert. Das Ergebnis ist ambivalent, die Welt ist gefährdet, aber die Stärkung des Individuums und seiner Rechte und Verantwortlichkeiten ist eine starke Seite und durch viele Jahrhunderte erkämpft worden. Wie ernst die Werte vom Wertewesten, selbst genommen werden, ist unklar, wie man sich im und nach dem Krieg positioniert ist entscheidend.
Die anderen Probleme sind ja nicht weg, nur weil jetzt noch eines dazu gekommen ist. Was wir jetzt nicht brauchen, sind Kriegsvoyeurismus, Schwarzweißdenken und
Kollektivverurteilungen. Es muss natürlich medial die ganze Palette bedient werden, die Menschen wollen lesen, hören und sehen, was ihren Erwartungen entspricht, inklusive jener, die auf der Antiseite stehen und sich ‚unabhängig‘ informieren. Manche schaffen das, die Mehrzahl fällt wohl eher auf Verkaufsstrategien und Propaganda für eben jene Zielgruppe herein.
Ich bin kein glühender Kapitalismuskritiker, aber die Idee das ganze Leben durch die Brille zu betrachten, dass und wie man aus allen Kapital schlagen kann – natürlich auch aus jeder Art von Krieg – ist schon etwas, was leisen Ekel auslösen kann. Unser Mitleid mit den Ukrainern ist richtig, dass man immer wieder hört, dass auch russische Mütter um ihre Kinder trauern, ist ebenfalls richtig und es ist gut, dass wir auch diese Stimmen immer wieder hören.
Ein Staat oder ein Staatenverbund wie Europa hat ein legitimes Recht seine Vorstellungen vorzubringen und seine eigenen Interessen zu vertreten. Vielleicht ist genau jetzt die Chance da, sich klar zu machen, was das sein könnte und soll. Die Menschen in Europa sind verschieden und das ist eine Chance. Es muss nicht alles vereinheitlicht werden. Dahinter stehen die gleichen ‚great again‘ Phantasien, die Menschen wie Trump und Putin antreiben. Europa muss sich klar machen, was es will, also seine Bürger, wir. Das kann man ruhig klar formulieren, inklusive klarer Grenzen und Sanktionen, es kann nicht darum gehen, welcher Großmacht man sich anbiedert, sondern darum, eigenständig zu sein.
Ein Staat kommt nie auf die Ebene, auf die Individuen kommen können. Sehr viele Menschen wissen, dass Freundschaft real ist, dass Vertrauen real ist, dass es Liebe zum und Interesse am anderen wirklich gibt. Nicht nur im Sinne des Nutzens für das eigene Selbst, oder als ausschließliche Identifikation im Sinne der Verlängerung des Selbst. Staaten können nicht mehr, Politik kann nicht mehr, Systeme können selten mehr, als zu funktionieren, aber einzelne Menschen können es. Es ist das höchste Gut eines Staates oder eines anderen Systems, den Individuen den Weg zu ebnen, damit immer mehr Menschen dieser Schritt gelingt. Krieg ist die maximale Absage dieser Bewegung.
Wo soll Europa hin, wo wollen wir hin? Es ist gut darüber zu streiten. Großmachtsphantasien, im Sinne des Nationalismus aber auch im Sinne transnationaler Konzerne und der einen, vermeintlich richtigen Art zu denken, sind alle problematisch bis falsch. Bekenntniszwang ist nicht nur albern, sondern in seinen Ansprüchen ist er ebenso imperialistisch, die was, wogegen er inhaltlich angeblich so oft Stellung beziehen möchte. Ethik und Moral sind wichtig, um ein zufriedener Mensch zu sein, Moralismus ist es nicht. Genuss ist wichtig, Dekadenz ist es nicht. Freiheit ist wichtig, Willkür ist das Gegenteil davon. Das alles brav aufsagen zu, ist ebenfalls unwichtig. Es mit Leben zu füllen und zu empfinden, das ist es worum es geht. Das muss man sich nicht mal durch einen Krieg in Europa zerschießen lassen.
Quellen:
- [1] https://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr5/wdr5-neugier-genuegt-freiflaeche/audio-nationale-interessen-in-der-nato-100.html
- [2] https://www.boell-bw.de/sites/default/files/2022-01/Quellen%20des%20Querdenkertums_Frei_Nachtwey.pdf
- [3] https://www.dandc.eu/de/article/die-mittelschicht-waechst-vor-allem-entwicklungslaendern
- [4] https://www.dw.com/de/corona-die-mittelschicht-leidet-und-schrumpft-weltweit/av-57585475