Esther* war elf, als sie mit einer Nagelschere in ihr Knie stach, weil die Hexe in ihrem Kopf es ihr befohlen hatte. Für ihre Mutter Frauke* begann eine monatelange Odyssee durch verschiedene Arztpraxen.
Nach dem ersten Interview dieser Serie, in welchem wir mit einer an Schizophrenie erkrankten Erwachsenen gesprochen haben, zeigt dieses Interview mit einer Mutter, wie es ist, ein Kind mit Schizophrenie zu haben. Wir sprachen über das Unverständnis in der Gesellschaft und über die von anderen eingeredeten Schuldgefühle, und auch, wie es Esther im Moment geht.

„Mehr Aufklärung ist notwendig“

Frauke, herzlichen Dank, dass Sie sich zu diesem Interview bereit erklärt haben. Ganz sicher ist es nicht leicht, darüber zu sprechen.

Das stimmt, aber ich denke, wir müssen diese Krankheit mehr in den Mittelpunkt rücken. Vor allem bei Kindern findet man zu Schizophrenie wenig Informationen im Internet, wenig Austauschmöglichkeiten. Ich weiß, dass es relativ selten sein soll bei Kindern, aber vielleicht bleibt es auch bei vielen unentdeckt. Wenn ich bedenke, wie viele Ärzte mich belächelt und als überfürsorgliche Mutter hingestellt haben. Eine Mutter kennt ihr Kind am Besten. An dieser Überheblichkeit vieler Ärzte muss sich etwas ändern. Bevor das passiert ist, mit der Schere, hatte ich schon mehrmals beim Kinderarzt vorgesprochen, weil Esther so unkonzentriert war. Sie wurde oft aggressiv, wie aus dem Nichts. Aber der Kinderarzt meinte, das sei entwicklungsbedingt. Beim SPZ (Sozialpädiatrischen Zentrum, Anm. der Red.) erhielten wir immerhin den Verdacht auf ADHS.

Das war sicher sehr nervenaufreibend für Sie, und auch für Esther. Bevor das Ereignis mit der Nagelschere war, welche anderen Symptome hatten Sie bei Esther beobachtet?

Als sie in die Schule kam, konnte sie die Klassenstärke nicht aushalten. Es waren für sie zu viele Kinder. Alles war zu laut. Im Kindergarten war es, glaube ich, auch schon so, aber da konnte sie sich zurückziehen. In der Schule nicht. Dort hat sie alles als sehr stressig empfunden. Einmal ist sie mit einem Stuhl auf ihre Klassenlehrerin losgegangen. Sie hatte neue Kreide bei der Lehrerin der Parallelklasse im Nachbarraum erbitten sollen. Das war zu viel für sie. Im Nachhinein hat sich herausgestellt, dass Esther geglaubt hat, die andere Lehrerin will sie umbringen. Esther hat mir hin und wieder erzählt, die Lehrerin der Parallelklasse würde sie so komisch anschauen, dass sie sie bestrafen will. Ich sagte ihr dann immer, dass das Quatsch ist. Ich habe sie nicht für voll genommen. Bis das mit der Kreide passiert ist. Esther ist immer sehr zappelig gewesen. Und hat imaginäre Freunde gehabt, keine richtigen Freunde. Niemand wollte mit ihr spielen, weil sie oft einfach ausrastete. In der Schule wurde sie dann gehänselt. Und ich glaube, dadurch ist es noch schlimmer geworden.

Manchmal sprach sie so unzusammenhängend. Mitten im Satz stoppte sie plötzlich und starrte auf einen Fleck. Manchmal hatte ich richtig Angst vor ihr. Und sie ging abends durch die ganze Wohnung, um zu prüfen, ob alles in Ordnung ist. Jeden Abend. Und ich sollte mit dabei sein, sonst wurde sie richtig wütend. Einmal weinte sie so bitterlich und flehte mich an, ihr zu versprechen, dass ich sie nicht umbringen will. Überhaupt hat sie sich stark mit dem Tod auseinandergesetzt. Mehr als andere Kinder. Das hat mir die Kindergärtnerin gesagt.

Abends hat sie sich unter der Bettdecke versteckt, weil die Hexe in ihrem Kopf geschrien hat.

Manchmal hat sie sich im Kindergarten einfach in die Ecke gesetzt. Sie hat die Beschäftigungen nicht mitgemacht. Aber die Kindergärtnerin sagte, das sei nicht ungewöhnlich. Kinder entwickeln sich nun einmal unterschiedlich schnell. Jeden Morgen weinte Esther fürchterlich, wenn ich sie in den Kindergarten gebracht habe. In der Schule wurde es nicht besser. Aber was sollte ich denn machen? Ich bin alleinstehend. Esthers Vater hat sich zu Beginn der Schwangerschaft abgesetzt. Wir hatten viel Streit. Er zahlt nicht einmal Unterhalt. Er ist irgendwo in Südamerika.

Esther hat ganz viel Angst. Dann schaukelt sie vor und zurück, um sich zu beruhigen. Aber das klappt oft nicht. Schon früher hat sie gesagt, dass die Angst fürchterlich wehtut. Dass sie das nicht mehr aushalten kann.

„Die Diagnose war wie ein Schlag ins Gesicht“

Mutter mit Tochter am See

Mütter wollen das Beste für ihre Kinder: Manchmal soll es aber auch einfach nur die Chance auf ein halbwegs normales Leben sein. © dr_tr under cc

Sie sagten, in der Kinder- und Jugendpsychiatrie haben Sie letztendlich die Diagnose erhalten. Mögen Sie dazu etwas erzählen?

Ja, das war wie ein Schlag ins Gesicht. „Kindliche Schizophrenie“ oder irgendwie so hatte der Psychiater das formuliert. Ich war geschockt. Aber auch erleichtert, dass wir endlich eine Diagnose hatten, wo wir ansetzen konnten. Auch wenn das natürlich endgültig klingt. Wir sind dort in guten Händen. Die Ärzte dort wissen, wovon sie sprechen. Durch die Medikamente hat Esther zwar bisher keine Symptomfreiheit erreicht, aber sie wirkt beständiger und weniger ängstlich. Es geht ihr deutlich besser als ohne. Und sie weiß, dass die Hexe in ihrem Kopf nicht in Echt existiert. Ohne Medikamente hätte sie vielleicht noch schlimmere Dinge getan. Als wir diese vielen Arztbesuche hatten, mich aber keiner für voll genommen hat, da hatte Esther noch ein zweites schlimmes Ereignis. Ich kam in ihr Zimmer, ich hatte alle spitzen und gefährlichen Gegenstände in der ganzen Wohnung weggepackt, als das mit der Nagelschere passiert ist, aber zwei Buntstifte habe ich übersehen. Die müssen in irgendeiner Kiste gelegen haben oder sonstwo, die anderen habe ich ja alle weggepackt. Jedenfalls kam ich gerade ins Zimmer, als sie ihren Hamster in der Hand hatte und auf ihn einstechen wollte, weil die Hexe es ihr gesagt hat. Der Hamster hätte eine Abhorchkapsel, so nannte sie das immer, in sich drin. Und sie wollte die rausoperieren.

Esther ist jetzt ruhiger, sagten Sie. Wo und wie lebt sie zur Zeit?

Sie ist noch stationär. Danach kommt sie vermutlich in eine betreute Einrichtung. Sie braucht ganz viel Struktur. Und erfahrenes Personal um sich rum. Es blutet mir das Herz. In den letzten Nächten habe ich viel geweint. Es wird wohl ein langwieriger Prozess. Und Esther wird wohl immer mit der Krankheit leben müssen. Das ist so schrecklich. Die Ärzte sagen, weil es so früh bei ihr angefangen hat, sind die Aussichten etwas schlechter. Die eine Ärztin meinte, dass man sich schwer tut, bei Kindern die Diagnose „Schizophrenie“ zu stellen, weil noch viel in der Entwicklung ist.

Ja, man ist sehr vorsichtig mit einer solchen Diagnosestellung bei Kindern. Weil es ja auch gewisse Konsequenzen mit sich bringt.

Ja, manche Ärzte stellen so eine Diagnose bei Kindern erst gar nicht. Das habe ich gelesen im Internet. Aber bei uns gilt diese Diagnose wohl als relativ sicher.

Aber sie fragten, wie es Esther geht. Sie hat immer noch gewisse Rituale, die sie machen muss, weil sie sonst Angst hat, dass ihr was Furchtbares passiert. So muss sie ihre Zähne immer unbedingt von links nach rechts putzen und von oben nach unten. Auch muss sie die Schnürsenkel in bestimmter Art binden, sonst würde etwas Schlimmes passieren, sagt sie. Und wenn sie vor dem Spiegel steht, das war schon früher so, empfindet sie sich selbst als fremd. So als ob sie sich nicht wirklich kennen würde. So beschreibt Esther es. Ihre Musik hat sie aufgegeben. Esther hat wunderbar Geige gespielt. Aber die Saiten haben zu ihr gesprochen, sagt sie, sodass sie Angst davor bekommen hat.

Esthers Geburt und Kindheit

Gab oder gibt es in der Familie Fälle von Schizophrenie?

Bei uns nicht, soweit ich weiß. Die Familie von Esthers Erzeuger kenne ich leider nicht weiter.

Wie verlief Esthers Geburt?

Auch das haben die Ärzte mich auch gefragt. Esther hatte einen Sauerstoffmangel bei der Geburt. Zwölf Stunden habe ich in den Wehen gelegen. Dann kam sie tiefblau zur Welt. Das war so schrecklich. Sie hat nicht geschrien, die ersten Tage. Nur gewimmert. In den Wochen darauf hat sie dafür umso mehr geschrien. Da hieß es, sie hat Blähungen und ich soll Fencheltee geben. Ich war auch beim Osteopathen. Ohne Erfolg.

Wie würden Sie Esthers Kindheit beschreiben?

Wörter auf Stoff gestickt

Chaos im Kopf: Schizophrenie © cometstarmoon under cc

Bei so etwas reagiere ich sehr empfindlich. Viele machen die Mütter verantwortlich, wenn das Kind eine psychische Erkrankung hat.

Es tut mir leid, ich habe Ihnen nicht zu nahe treten wollen. Ich habe das in keiner Weise verurteilend gemeint. Demnach sind Sie gesellschaftlich mit vielen Vorurteilen diesbezüglich konfrontiert?

Ja, das bin ich. Und ich weiß ja, dass Sie das nicht so meinen. So etwas gehört ja zur Krankheitsanamnese dazu. Das kenne ich alles von der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Da wurde das auch alles abgefragt. Sie als Psychologin wissen ja, dass das ein Zusammenspiel aus mehreren Faktoren ist. Die Gene, die Geburt, die Zusammensetzung im Gehirn und so weiter. Das haben die Ärzte in der Psychiatrie auch gesagt. Und dass noch viel geforscht werden muss.

Es ist nur so schwer, mit anderen darüber zu sprechen. Die meisten verkraften dieses Thema nicht. Und betroffene Angehörige zu finden, ist ebenfalls schwer. Man fühlt sich ziemlich allein damit. Viele Bekannte haben, als ich ihnen von Esthers Schizophrenie erzählt habe, sofort zu ergründen versucht, was in ihrer Kindheit falsch gelaufen sein soll. Sie wollten sich anscheinend absichern, damit das nur ja nicht dem eigenen Kind passieren könnte.

Ich weiß ja, dass Sie das nicht in der Art meinen. Deshalb will ich Ihre Frage beantworten. Ehrlich gesagt, glaube ich nicht, dass das damit zu tun hat, dass ich alleinstehende Mutter bin. Es gibt ja viele alleinstehende Mütter, deren Kinder auch keine Schizophrenie haben. Ich kann auch nichts dafür, dass ich viel arbeiten musste und Esther in eine Kinderkrippe gegeben habe. Ich habe immer versucht, einen fürsorglichen Ort für sie zu finden. Trotzdem ich habe viel arbeiten müssen. Manchmal sogar Schichtdienst. Esther war hin und wieder bei meinen Eltern beziehungsweise später bei meiner Mutter. Vielleicht gab es so etwas wie ein Trauma in Esthers Leben, als ihr Opa verstorben ist. Von ihrem Erzeuger hat sie noch nie etwas gesehen oder gehört. Aber ich wehre mich dagegen, dass ich als Mutter Schuld daran sein soll. Ich habe immer versucht, für sie das Beste zu tun. Deshalb mag ich diese Verurteilung der anderen nicht.

In Bezug auf diese Erkrankung besteht eben noch viel Unklarheit. Das macht Vielen Angst. Es gibt eben nicht „den einen Auslöser“. Man spricht in der Psychologie von Multikausalität, einem Zusammenspiel mehrerer Faktoren, genetischen und Umwelteinflüssen, prä- und postnatal.

Ganz genau. Ich wünschte die Leute würden das begreifen. Es ist schlimm, dass wir uns trotz des furchtbaren Familienschicksals auch damit noch auseinandersetzen müssen.

Ja, diesbezüglich ist noch viel Öffentlichkeitsarbeit notwendig. Wenn Sie an die Zukunft denken: Was wünschen Sie sich für Ihre Tochter?

Natürlich wünsche ich mir, dass die Erkrankung aufhört. Aber das wird sie wohl nie. Ich hoffe, sie wird ein einigermaßen normales Leben führen können. Durch die Medikamente nehmen wohl viele Betroffene stark zu. Ich hoffe, dass sie damit zurechtkommen wird. Vielleicht kann sie sogar arbeiten gehen. Und auch wieder musizieren. Sie ist so talentiert. Ich werde immer für sie da sein, soviel steht fest. Ich wünsche mir für sie ganz viel Liebe.

Das ist ein wunderbares Schlusswort. Ich danke Ihnen sehr! Ich wünsche Ihnen und Esther viel Kraft und alles Gute für den weiteren Weg.

*Name von der Redaktion geändert

Im nächsten Teil unserer Serie zu Schizophrenie setzen wir uns mit den diagnostischen Klassifikationskriterien auseinander.