Ab wann bin ich zwanghaft? Oft ist es nicht so eindeutig wie bei Ines, ob Zwangsstörungen vorliegen. Viele Betroffene ahnen, dass irgendetwas anders bei ihnen ist, dass sie womöglich ein bisschen gewissenhaft oder pedantisch sind. Vielleicht würden sie sich gar als zwanghaft bezeichnen. Aber die Schwelle zu Zwangsstörungen und sich das Vorliegen derer gegebenenfalls einzugestehen, ist nochmal ein anderer Schritt. Weil die Hemmschwelle, zur psychologischen Beratung zu gehen, oftmals hoch ist, möchten wir hier die diagnostischen Kriterien aufzeigen, anhand derer man das Vorliegen einer klinisch bedeutsamen Zwangsstörung vermuten könnte.

Ab wann bin ich zwanghaft „gestört“ oder nicht?

Zunächst einmal entscheidet im Einzelfall nicht zwingend die Norm, ob jemand von einer klinisch auffälligen Zwangsstörung betroffen ist. Vor allem entscheidet der Leidensdruck. Inwieweit beeinträchtigen mich Zwangshandlungen oder Zwangsgedanken? Beeinflusst mein gedankliches Erleben und Verhalten vielleicht sogar mein soziales Umfeld? Stören sie meinen Alltag und den meiner Lieben?
Erwächst daraus Leidensdruck ist eine diagnostische Abklärung angeraten.

Und bitte keine Scham. Tatsächlich können Zwangsstörungen zu den häufiger auftretenden psychischen Störungen gezählt werden.

Häufigkeit von Zwangsstörungen

Graf Zahl

Nicht jeder, der gern zählt, ist zwanghaft. © Barry Stock under cc

Mit einer 12-Monatsprävalenz von etwa 1 % und einer Lebenszeitprävalenz von 1-2 % zählen Zwangstörungen zu den häufiger vorkommenden psychischen Störungen. Manche auf Studien basierende Angaben liegen für die Erwachsenenbevölkerung in Deutschland bei einer Ein-Jahres-Prävalenz von Zwangserkrankungen von etwa 3,8 %. Geschlechtsspezifische Unterschiede scheint es nicht zu geben.

Erkrankungsbeginn und Krankheitslast

Zumeist kann der Erkrankungsbeginn bereits auf das Kindheits- und Jugendalter zurückgeführt werden. Im Schnitt liegt das mittlere Erkrankungsalter bei etwa zwanzig Jahren. Der Beginn ist zumeist schleichend. Nicht zwingend suchen die Betroffenen in diesem Alter schon Hilfe. Oft haben sie einen jahrelangen Leidensweg voller Verheimlichungen und Lügen vor sich, um ihr vermeintlich andersartiges Verhalten vor sich und anderen zu entschuldigen. Ungeachtet dessen können die Symptome im Laufe des Lebens variieren und mal stärker, mal schwächer werden. Treten psychische Belastungen auf, verstärkt sich häufig die Zwangssymptomatik.

Viele Patienten begeben sich jedoch dennoch nicht in die therapeutische Versorgungskonstellation, weil sie glauben, mit ihren Einschränkungen leben zu können, beziehungsweise sich für ihr Erleben und Verhalten schämen. Anders als bei Persönlichkeitsstörungen zählen Zwangsstörungen überwiegend zu den ich-dystonen psychischen Beeinträchtigungen, werden also als nicht zur Person zugehörig erlebt. Die Betroffenen sind sich wenigstens teilweise durchaus bewusst über diese Verhaltensabweichung von der Norm.

Welche Zwänge sind am häufigsten?

Zimmer Backsteinmauer weißer Sessel

Bin ich zwanghaft, weil ich ordentlich bin? © Kylie_Jaxxon under cc

Die Angst vor Keimen und deren Verhinderung, so wie bei Ines, zählt zu den häufigsten Zwangsgedanken. Etwa die Hälfte aller diagnostizierten Betroffenen leidet unter solchen Kontaminationsgedanken. Dicht gefolgt von zwanghaften Grübeleien und Befürchtungen, welche die individuelle Gesundheit betreffen. Hinsichtlich des Zwangsverhaltens finden sich häufig Kontrollrituale sowie Waschzwänge bei etwa der Hälfte der Betroffenen. Viele folgen einer strikten Routine im Alltag und fordern vor sich und gegebenenfalls auch anderen Rückversicherungen ein. Beispielsweise wird mehrmals kontrolliert, ob der Herd auch wirklich aus ist. Oder ob man beim Verlassen der Wohnung auch wirklich abgeschlossen hat.

Auch das Zählen sowie zwanghaftes Nachfragen betrifft etwa ein Drittel der Zwangspatienten. Zudem können in Gedanken bestimmte ritualisierte Wörter und Gebete immerfort wiederholt werden, weil andernfalls zum Beispiel Verunsicherung eintritt.
Ähnlich wie bei Ines treten mehrere Zwangsgedanken und Zwangsverhaltensweisen bei den Betroffenen gleichermaßen auf.

Eine erste Richtlinie, an der sich Betroffene orientieren können, dahingehend ob eine Zwangserkrankung vorliegt, zeigen wir nachfolgend.

Diagnostische Kriterien für Zwangsstörungen

Zu den Diagnosekriterien von Zwangsstörungen nach den gängigen psychiatrischen Klassifikationssystemen (ICD-10) zählen folgende Aspekte:

A: Häufigkeit des Auftretens

Die Zwangsgedanken oder/und Zwangshandlungen treten an den meisten Tagen über einen Zeitraum von mindestens zwei Wochen auf.

B: Kennzeichnung der Zwänge

Die Zwangsgedanken (zum Beispiel zwanghafte Ideen oder bestimmte Zwangsvorstellungen) sowie die Zwangshandlungen zeigen sämtliche folgende Merkmale auf.

  • 1. Die Betroffenen betrachten sie als eigene Gedanken/Handlungen; sie werden nicht als von anderen Personen beziehungsweise Einflüssen getriggert angesehen.
  • 2. Die Zwänge treten wiederholend auf und werden als unangenehm empfunden; wenigstens einer der Zwänge (Gedanken oder Verhalten) wird als übertrieben angesehen und als unsinnig erkannt.
  • 3. Die Betroffenen versuchen sich gegen die Zwänge zu wehren. (Je länger sie diesen ausgesetzt sind, desto größer kann allerdings bereits die Resignation sein.) Gegen mindestens einen Zwang wird gegenwärtig erfolglos versucht, Widerstand zu leisten.
  • 4. Gibt man den Zwängen nach und führt sie aus, so wird dies für sich genommen nicht als angenehm empfunden. (Davon abzugrenzen ist, dass vorübergehend nach der Ausführung der Zwangshandlung beziehungsweise der Zwangsgedanken eine gewisse Erleichterung von der Anspannung sowie von der nachlassenden, eventuell auftretenden Angst vorkommen kann.)

C: Die Zwänge beeinflussen den Alltag

Von Zwangshandlungen und/oder Zwangsgedanken Betroffene erleben eine Beeinträchtigung in ihrem Alltag. Die Zwänge gehen mit einer Beeinträchtigung der sozialen und individuellen Leistungsfähigkeit einher und sind zumeist mit einem besonderen Zeitaufwand verbunden.

D: Was muss ausgeschlossen werden?

Bei der Diagnostik von Zwangserkrankungen müssen andere psychische Störungen ausgeschlossen werden. Unter anderem Schizophrenie (zwanghafter Wahn u.ä.) und verwandte Störungen (F2) sowie affektive Störungen.

Screening-Fragen: Bin ich zwanghaft?

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Ab wann sind Grübeleien Zwangsgedanken? © Matt Brown under cc

Für eine erste Orientierung dafür, ob man diagnostisch relevant gegebenenfalls von einer Zwangserkrankung betroffen sein könnte, sind folgende Fragen hilfreich:

  • Häufiges Waschen oder Putzen?
  • Häufiges Kontrollieren beziehungsweise Nachkontrollieren im Alltag? Verzögern sich dadurch die Tätigkeiten im Alltag?
  • Quälende Gedanken, die man einfach nicht los wird?
  • Kreisen Überlegungen um Ordnung und Symmetrien?

Vermutet man bei sich das Vorliegen von Zwangserkrankungen sollte man den Schritt in die psychologische Therapie nicht scheuen. Studien zeigen, dass ein rechtzeitiger Behandlungsbeginn sowie das Annehmen und Befolgen der therapeutischen Interventionen sich als prognostisch von Vorteil erweisen.

In den nächsten Teilen unserer Serie zu Zwangsstörungen ergründen wir einige Ursachen, woher diese Zwänge kommen können und befassen uns im Ansatz mit den therapeutischen Interventionen beim Auftreten von Zwangshandlungen sowie Zwangsgedanken.