Die Frage nach dem Warum stellt sich bei nahezu jeder psychischen Erkrankung. Dementsprechend werden sich auch von Zwangsstörungen Betroffene fragen: Warum bin ich zwanghaft? Die klinische Forschung zu Zwangsstörungen ist immens. Auch existieren eine Vielzahl von Ansätzen und Modellen, welche die Entstehung von Zwangsstörungen versuchen abzubilden. Einige interessante Ergebnisse stellen wir euch nachfolgend vor.

Zwangsstörungen – eine wissenschaftliche Spurensuche

Der klinische Konsens geht von einem Zusammenspiel mehrerer Faktoren aus, die bei der Ätiologie von Zwangserkrankungen eine Rolle spielen können. Zum einen nimmt man an, dass genetische beziehungsweise (allgemeiner) somatische Faktoren (genetische Dispositionen, Ungleichgewichte, Läsionen im Gehirn etc.) an der Entstehung von Zwangsstörungen beteiligt sind. Zum anderen sind es Aspekte der Umwelt, wie zum Beispiel die Erziehung, Lebenserfahrungen etc., die Einfluss nehmen können. Zudem kommt noch das Wechselspiel hinzu, wenn beide Faktorenbereiche interagieren. Wir ahnten es: Äußerst komplex. Versuchen wir also die Ergebnisse unserer Spurensuche in geordnete Bahnen zu lenken.

Familiäre Häufung: Ein Zwangspatient kommt selten allein …

Eltern mit Kleinkind Treppe

In guten wie in schlechten Zeiten: Auch bei Zwangsstörungen gibt es familiäre Häufungen. © Kat Grigg under cc

Eine Häufung von Zwängen kommt nicht nur bei den Betroffenen selbst vor sondern auch innerhalb der Familie. Zwangsstörungen manifestieren sich häufig bereits im Kindes- und Jugendalter. Eine Pädiatrie-Studie der University of Michigan Medical School (2005) offenbart, dass Verwandte ersten Grades bei von Zwangsstörungen betroffenen Kindern (zwischen 10 und 17 Jahren) eine signifikant höhere Wahrscheinlichkeit haben, in ihrem Leben ebenfalls einmal von einer Zwangserkrankung betroffen zu sein, im Vergleich zu Probanden ohne Zwangsdiagnose: knapp 45 % versus 19 %. Von einer familiären Häufung, aufgrund biologischer und Umwelteinflüsse, ist folglich auszugehen.

Vor allem bei einem frühen Erkrankungsbeginn und bei Patienten mit Ordnungs- und Symmetriezwängen sowie Tourette Syndrom scheinen genetische Faktoren eine große Rolle zu spielen.

Zwang oder nicht Zwang? – auch eine Frage der Biologie

Die genetische Forschung zur Ursache von Zwängen ist noch verhältnismäßig jung. Ungeachtet dessen gestaltet sich die Suche nach Kandidatengenen durchaus erfolgreich. Außerdem rückt das serotonerge System zunehmend in den klinischen Fokus. Ein Ungleichgewicht in diesem System scheint neben Depressionen und Angststörungen auch zu Zwangsstörungen führen zu können.
Dieses System wirkt im menschlichen Organismus beispielsweise bei der Stimmungsregulation und Impulskontrolle mit.

Die Neurobiologie hinter dem Zwang

Neurobiologische Befunde geben weitere Erkenntnisse zu kognitiven Korrelaten hinter dem Zwang. So konnte das erstmalige Auftreten der Zwangssymptomatik nach Kopftraumata, insbesondere bei Läsionen der Basalganglien sowie des orbitofrontalen Kortex beobachtet werden. Die Basalganglien sind u.a. beteiligt an der Vorbereitung und Ausführung von Willkürbewegungen unterhalb der Bewusstseinsschwelle. Läsionen im Bereich der Basalganglien können zu Störungen im Bewegungsablauf führen.

Gehirn Plakat Kachelwand

Warum bin ich zwanghaft? Eine mögliche Ursache kann auch im Gehirn liegen. © The unnamed under cc

Die gute Nachricht: Wie erste Studien zeigen, scheinen bestimmte neuropsychologische Defizite bei erfolgreicher Verhaltenstherapie umkehrbar zu sein.

„Warum bin ich zwanghaft?“, ist nicht nur eine Frage der Vorgänge innerhalb des Organismus. Im Zusammenspiel mit der Umwelt finden sich weitere Erklärungsansätze.

Warum bin ich zwanghaft? Ein Anlage-Umwelt-Wechselspiel.

Es gibt mehrere Persönlichkeitszüge, die mit einer Neigung zu zwanghaftem Verhalten in Zusammenhang stehen können.

Risiko? Lieber nicht!

So gilt die Vermeidung von Risiken als ein solcher Charakterzug und demgegenüber der innige Wunsch nach einem intensiven Leben, was zu einer erlebten Inkongruenz zwischen dem Idealselbst und dem tatsächlich Erfahrenen führen kann. Außerdem kann das verminderte Kontrollerleben sowie die mangelnde Offenheit für Neues eine Zwangssymptomatik unterstützen.

Zwang als Resultat sozialer Interaktionen

Verlustängste, resultierend aus Erfahrungen in sensiblen Phasen, scheinen zudem mit der Persönlichkeit bei Zwangsstörungen in Zusammenhang zu stehen. Schuld- und Schamgefühle genauso wie die erlebte oder befürchtete mangelnde Wertschätzung von Außen. Um seinen Selbstwert zukünftig vor schadhaftem sozialen Verhalten sowie Verlustängsten zu bewahren, kann ein gesteigertes Sicherungs- und Kontrollbedürfnis daraus erwachsen.

Ich bin ich!

Manche Ansätze für die Ursache von Zwangserkrankungen gehen von Störungen in der frühen Autonomieentwicklung aus, beispielsweise wenn die Spontanität eingeschränkt und der Eigenwillen unterdrückt worden ist. Abhängigkeitskonflikte können die Folge sein mit versuchter Regulation der Sicherung des eigenen Selbstwertes durch entsprechende Vorsichtsmaßnahmen im Erleben und Verhalten.

Perfektionsstreben

Auch das Perfektionsstreben ist ein Thema für Zwangspatienten. Dieses kann ebenfalls auf familiendynamische Prozesse zurückgeführt werden. So gelten perfektionistische Ideale und ausgeprägte symbiotische Bedürfnisse der Eltern als eine weitere mögliche Ursache.

Auch Freud mischt mit

Freud gezeichnet

Auch Freuds Ansatz zu Zwangsstörungen muss beachtet werden. © MEDIODESCOCIDO under cc

Nach Freud gilt die Zwangsneurose als Ausmaß eines unbewussten Trieb-Abwehrkonflikts. Eine zentrale Rolle spielen unbewusste Schuldgefühle, resultierend zum Beispiel aus sexuellen sowie aggressiven Regungen in einem selbst sowie ambivalenten Liebes- und Hassgefühlen gegenüber dominanten Elternteilen (ödipaler Konflikt).

Außerdem führt Freud die Symptomatik auf die sogenannte analsadistische Phase zurück, in der entwicklungstechnisch Sauberkeit, Ordnung und die Kontrolle von Besitz thematisiert werden.

Angst vor den eigenen Gedanken

Nach Salkovskis basieren Zwänge auf normalen, sich aufdrängenden Gedanken, die von den Betroffenen allerdings als bedrohlich oder unakzeptabel empfunden werden. Jenes führt zur Abwehr und damit einhergehend zu bestimmten offenen und verdeckten Verhaltensweisen, um die negativen Emotionen zu unterdrücken, die Verantwortung sowie das Katastrophenerleben zu minimieren. „Was würde passieren, wenn ich mir die Hände nicht wasche? Keime dringen in meinen Organismus ein. Möglicherweise schafft mein Immunsystem nicht die Abwehr und ich erkranke?“ Ein Vollführen der Zwangshandlung wie zum Beispiel das Waschen der Hände führt zu einer Verminderung dieser Intensionen, was das Verhalten wiederum negativ verstärkt. Mit anderen Worten: Handle ich dementsprechend, vermindere ich meine Befürchtungen, demzufolge handle ich in immer gleicher Art.

Bei der Beantwortung der Frage: „Warum bin ich zwanghaft?“ können die oben genannten Aspekte herangezogen werden. Selbstredend ist die Aufzählung möglicher Ursachen nicht erschöpfend und nicht alle treffen im Einzelfall zu. Die genannten Ansätze schließen einander nicht aus, sondern sind vielmehr als Konglomerat zu verstehen. Weitere mögliche Ansätze kommen hinzu und so entsteht ein komplexes Ätiopathogenese-Modell von Zwangsstörungen, das hier selbstredend nur ansatzweise dargestellt werden kann. Doch zu verstehen, warum man zwangsgestört sein könnte, ist die eine Sache. Eine andere ist, etwas dagegen unternehmen zu wollen. Im letzten Artikel unserer Reihe zu Zwangsstörungen gehen wir auf therapeutische Behandlungsansätze ein.